Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 683-687.
Aus dem Englischen.
["New-York Daily Tribune" Nr. 5548 vom 1. Februar 1859]
<683> Berlin, 11 Januar 1859
Sie kennen das deutsche Sprichwort: "Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren" <in der "N.-Y. D. T." englisch und deutsch>, und dieses Gesetz der Nichtigkeit, das sogar über eine so mächtige Persönlichkeit wie einen Kaiser gebietet, kann natürlich von Ihrem Korrespondenten nicht in den Wind geschlagen werden. Wo sich nichts ereignet, da ist auch nichts zu berichten. Das ist die tiefere Ursache, die mich veranlaßt hat, auf meine Sendungen aus der "Hauptstadt der Intelligenz", der zentralen Residenz, wenn schon nicht der weltlichen Macht, so doch wenigstens des "Weltgeistes" <"Weltgeistes": in der "N.-Y. D. T." deutsch>, für einige Wochen ein Embargo zu legen. Die erste Phase der preußischen Bewegung endete mit den allgemeinen Wahlen, während die zweite morgen mit der Eröffnung des Landtages beginnt. Wie ich aus einem mir übersandten Stoß deutschamerikanischer Zeitungen entnehme, haben sich viele amerikanische Söhne des Teut meine Ansichten über die Lage hierzulande, die ich in früheren Beitragen entwickelte, zu eigen gemacht, ohne die Quelle anzugeben, aus der sie ihre Weisheit schöpften; diese meine Ansichten haben sich inzwischen vollauf bestätigt durch den liederlichen und schleppenden - ich kann nicht sagen Fortgang der Dinge, sondern durch ihr wurmartiges Vorankriechen, ohne Beine und den Bauch am Boden, wie das Dr. Johnson pedantischen Angedenkens vermutlich bezeichnet hätte. Die deutschen Meilen sind länger als die irgendeiner anderen Nation, aber die Schritte, mit denen die Deutschen den Boden durchmessen, sind um so kürzer, und zwar ganz erheblich. Eben aus diesem Grunde träumen sie in ihren Märchen immer von Siebenmeilenstiefeln, die dem glücklichen <684> Besitzer die Fähigkeit verleihen, mit jedem Schritt über eine League zurückzulegen.
Die vergangenen zehn Jahre in der Geschichte dieses Landes sind so einseitig (um ein Lieblingswort der Deutschen zu gebrauchen, die gleich Buridans scholastischem Tier so vielseitig sind, daß sie jeden Augenblick in der Klemme sitzen) beurteilt worden, daß einige allgemeine Betrachtungen nicht unangebracht erscheinen. Als der König mit dem hirnlosen Kopf den Thron bestieg, war er voller Hirngespinste aus der Romantischen Schule. Er wollte König von Gottes Gnaden und gleichzeitig ein volkstümlicher König sein, wollte inmitten einer allmächtigen bürokratischen Verwaltung von einer unabhängigen Aristokratie umgeben sein, wollte als Oberherr der Kasernen zugleich ein Mann des Friedens sein, wollte die Volksgerechtsame im mittelalterlichen Sinne fördern und sich gleichzeitig allen Bestrebungen des modernen Liberalismus widersetzen, wollte den kirchlichen Glauben wiedererwecken und zugleich mit der intellektuellen Überlegenheit seiner Untertanen prahlen; mit einem Wort: Er wollte den mittelalterlichen König spielen und als König von Preußen handeln - diese Fehlgeburt des achtzehnten Jahrhunderts! Doch von 1840 bis 1848 ging alles verkehrt. Nachdem die Landjunker <Landjunker: in der "N.-Y. D. T." deutsch> ihre Hoffnungen auf den gekrönten Mitarbeiter des "Politischen Wochenblatts" gesetzt, welches tagaus, tagein gepredigt hatte, man müsse der preußischen prosaischen Herrschaft des Schulmeisters, des Feldwebels, des Polizisten, des Steuereinnehmers und des gelehrten Mandarinen die poetische Herrschaft der Aristokratie aufpfropfen, sahen sie sich gezwungen, anstatt realer Konzessionen die geheimen Sympathien des Königs zu empfangen. Die Bourgeoisie, noch zu schwach, sich auf aktive Schritte einzulassen, fühlte sich genötigt, hinter der theoretischen Armee einherzutrotten, die von Hegels Schülern gegen die Religion, die Ideen und die Politik der alten Welt geführt wurde. In keiner früheren Periode war die philosophische Kritik so kühn, so machtvoll und so populär wie in den ersten acht Jahren der Herrschaft Friedrich Wilhelms IV., der den von Friedrich II. in Preußen eingeführten "seichten" Rationalismus durch mittelalterlichen Mystizismus zu ersetzen wünschte. Die Philosophie verdankte ihre Macht während dieser Periode ausschließlich der praktischen Schwäche der Bourgeoisie; da die Bourgeois die veralteten Institutionen nicht in Wirklichkeit zu stürmen vermochten, mußten sie den kühnen Idealisten, die auf dem Gebiet des Gedankens dagegen anstürmten, den Vorrang überlassen. Schließlich und endlich war der romantische König selber wie alle seine Vorgänger nur die sicht- <685> bare Hand einer gewöhnlichen bürokratischen Regierung, die er vergeblich mit den zarten Empfindungen einer vergangenen Zeit zu verschönen suchte.
Die Revolution, oder vielmehr die aus ihr hervorgegangene Konterrevolution, gab den Dingen ein völlig neues Gesicht. Die Landjunker verwandelten die privaten Grillen des Königs in praktische Vorteile, und es gelang ihnen, die Regierung in eine frühere Zeit zurückzuwerfen - nicht hinter 1848, nicht hinter 1815, sondern sogar hinter 1807 zurück. Vorbei war es mit den zaghaften, romantischen Bestrebungen; an ihrer Stelle erschien ein preußisches Oberhaus; die main morte <Tote Hand> wurde wiederhergestellt, die Patrimonialgerichtsbarkeit des Junkers gedieh üppiger denn je, die Steuerfreiheit wurde wieder ein Merkmal des Adels; Polizei und Beamte mußten vor den Edelleuten katzbuckeln, alle einflußreichen Posten wurden den Sprößlingen der Landaristokratie und des niederen Adels eingeräumt; die aufgeklärten Beamten der alten Schule wurden verjagt, um durch unterwürfige Schmarotzer von Rentmeistern und Gutsbesitzern ersetzt zu werden; und alle von der Revolution erkämpften Freiheiten: Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Redefreiheit, verfassungsmäßige Vertretung - alle diese Freiheiten wurden nicht beseitigt, sondern als Vorrechte der aristokratischen Klasse aufrechterhalten. Hatte andererseits die Bourgeoisie in der vergangenen Periode die philosophische Bewegung gefördert, so rottete die Aristokratie sie jetzt mit der Wurzel aus und setzte an ihre Stelle den Pietismus. Jeder aufgeklärte Professor wurde von der Universität vertrieben, und die viri obscuri <Dunkelmänner>, die Hengstenbergs, die Stahls und tutti quanti <ihresgleichen> bemächtigten sich aller Bildungsinstitutionen Preußens, von der Dorfschule bis zum Universitätsseminar in Berlin. Die Polizei- und Verwaltungsmaschine wurde nicht zerschlagen, sondern in ein reines Werkzeug der herrschenden Klasse verwandelt. Selbst die Gewerbefreiheit mußte herhalten, und wie das Konzessionssystem zu einem machtvollen Werkzeug der Begünstigung, der Einschüchterung und der Korruption gemacht wurde, so zwang man auch die Handwerker in den großen Städten wieder in Zünfte, Gilden und all die anderen erloschenen Formen einer vergangenen Epoche. So gingen die kühnsten Träume des Königs, die während der acht Jahre seines absoluten Regimes Träume geblieben waren, sämtlich dank der Revolution in Erfüllung und erstrahlten während der acht Jahre von 1850 bis 1857 als greifbare Realitäten im hellsten Tageslicht.
Aber die Medaille hat auch eine Kehrseite. Die Revolution hatte die <686> ideologischen Illusionen der Bourgeoisie zerstreut, und die Konterrevolution hatte mit deren politischen Ansprüchen Schluß gemacht. So ward sie zu ihren wahren Erwerbszweigen zurückgeworfen - Handel und Industrie -, und ich glaube nicht, daß irgendein anderes Volk während des letzten Jahrzehnts in dieser Richtung einen relativ so gewaltigen Anlauf genommen hat wie die Deutschen und speziell die Preußen. Wer Berlin vor zehn Jahren gesehen hat, würde es heute nicht wiedererkennen. Aus einem steifen Paradeplatz hat es sich in das geschäftige Zentrum des deutschen Maschinenbaus verwandelt. Wenn man durch Rheinpreußen und das Herzogtum Westfalen reist, wird man an Lancashire und Yorkshire erinnert. Kann sich Preußen auch nicht eines Isaac Péreire rühmen, so besitzt es doch Hunderte von Mevissens an der Spitze von mehr Crédits mobiliers, als der Deutsche Bundestag Fürsten zählt.
Die Sucht, reich zu werden, vorwärtszukommen, neue Gruben zu erschließen, neue Fabriken zu errichten, neue Eisenbahnen zu bauen und vor allem Geld in Aktiengesellschaften zu investieren und mit Aktien zu spekulieren, wurde zur Leidenschaft des Tages und ergriff alle Klassen, vom Bauern bis zum Fürsten mit der Adelskrone, der einst ein reichsunmittelbarer Fürst gewesen war. So waren also die Tage, da die Bourgeoisie in babylonischer Gefangenschaft weinte und ihre gedemütigten Häupter hängen ließ, dieselben Tage, da sie zur wirklichen Macht im Lande wurde, wobei sogar der hochmütige Aristokrat sich im Innern seiner Seele in einen profitgierigen, geldraffenden Börsenjobber verwandelte. Wenn Sie ein Beispiel suchen, wie sich die spekulative Philosophie in kommerzielle Spekulation verwandelt hat, so werfen Sie einen Blick auf das Hamburg des Jahres 1857. Erwiesen sich da die spekulativen Deutschen nicht als Meister auf dem Gebiete des Schwindels? Freilich war diese Aufwärtsentwicklung der preußischen Bourgeoisie, die durch das allgemeine Steigen der Warenpreise und das damit verbundene allgemeine Sinken der festen Einkommen ihrer bürokratischen Beherrscher verstärkt wurde, natürlich vom Ruin des Kleinbürgertums und der Konzentration der Arbeiterklasse begleitet. Der Ruin des Kleinbürgertums während der vergangenen acht Jahre ist eine allgemeine Erscheinung, die in ganz Europa beobachtet werden kann, aber nirgends so ausgeprägt wie in Deutschland. Bedarf diese Erscheinung irgendeiner Erklärung? Ich antworte darauf mit einem Wort: Seht euch die Millionäre von heute an, die noch gestern arme Teufel waren. Damit ein Habenichts über Nacht zu einem Millionär werde, müssen sich tausend 1.000-Dollar-Besitzer tagsüber in Bettler verwandelt haben. Der Börsenzauber bewerkstelligt so etwas im Handumdrehen, ganz abgesehen von den langsameren Methoden, mit denen die moderne Industrie <687> den Reichtum zentralisiert. In Preußen hat sich daher während der vergangenen zehn Jahre zugleich mit der Bourgeoisie ein unzufriedenes Kleinbürgertum und eine konzentrierte Arbeiterklasse entwickelt.
Es ist an der Zeit, den Brief abzusenden, obwohl ich meine Rundschau <Rundschau: in der "N.-Y. D. T." deutsch>, wie die "Neue Preußische Zeitung" diese Art rückblickende Übersicht nennt, noch nicht abgeschlossen habe.