Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 673-682.

Karl Marx

Über die Bauernbefreiung in Rußland

Aus dem Englischen. 


["New-York Daily Tribune" Nr. 5535 vom 17. Januar 1859]

<673> Berlin, 29. Dezember 1858

Der große "Initiator" (um einen Ausdruck Mazzinis zu verwenden) der russischen Revolution, Kaiser Alexander II., hat einen neuen Schritt vorwärts getan. Am vergangenen 13. November unterzeichnete das Kaiserliche Hauptkomitee zur Aufhebung der Leibeigenschaft endlich seinen Bericht an den Kaiser, in dem die Grundsätze dargelegt sind, nach denen die Emanzipation der Leibeigenen vorgenommen werden soll. Die Grundprinzipien lauten folgendermaßen:

I. Die Bauern hören sofort auf, Leibeigene zu sein und treten in einen Zustand der "provisorischen Verpflichtung" gegenüber ihren Gutsbesitzern. Dieser Zustand soll zwölf Jahre andauern, während deren sie alle persönlichen und Eigentumsrechte der übrigen steuerpflichtigen Untertanen des Reiches genießen. Die Leibeigenschaft und all ihre Attribute werden für immer abgeschafft ohne jegliche Entschädigung der ehemaligen Eigenturner; denn die Leibeigenschaft, so heißt es im Bericht, wurde vom Zaren Boris Godunow (1) <674> willkürlich eingeführt und entwickelte sich durch Mißbrauch der Macht zu einem wesentlichen Bestandteil des ungeschriebenen Gewohnheitsrechts; sie kann also, da sie durch den Willen des Herrschers geschaffen wurde, auch durch den Willen des Herrschers beseitigt werden. Was die pekuniäre Entschädigung für ihre Abschaffung anbelangt, so würde solch eine Geldzahlung als Ausgleich für Rechte, die der Bauernschaft von Natur aus gehören und ihr niemals hätten fortgenommen werden dürfen, wahrlich, wie es im Bericht heißt, eine schmähliche Seite der russischen Geschichte bilden.

II. Während der zwölf Jahre provisorischer Verpflichtung bleibt der Bauer an das Gut gebunden; falls aber der Gutsbesitzer ihm nicht mindestens fünf Desjatinen Land zu seiner persönlichen Bewirtschaftung zuteilen kann, darf er das Gut verlassen. Wenn er jemand anderen findet, der seinen Anteil bebaut, wird ihm dieselbe Freiheit gestattet, solange er der Krone seine Steuern zahlt.

III. und IV. Jede Dorfgemeinde bleibt im Besitz der Wohnhäuser ihrer Mitglieder samt deren Gehöften, Viehställen, Garten etc., wofür jährlich eine Rente von 3 Prozent ihres Taxwertes an den Gutsbesitzer gezahlt wird. Die Gemeinde kann den Gutsbesitzer rechtlich zwingen, diesen Wert von einer gemischten Kommission, die aus zwei Gutsbesitzern und zwei Bauern besteht, abschätzen zu lassen. Wenn die Gemeinde es wünscht, kann sie ihre Gehöfte durch Barzahlung des Taxwertes auslösen.

V. Die Abgabe der Landanteile an die Bauern seitens der Gutsbesitzer wird folgendermaßen geregelt: Wo auf einem Gut mehr als sechs Desjatinen auf jeden dort eingetragenen Leibeigenen kommen, erhält jeder erwachsene männliche Bauer einen Anteil von neun Desjatinen urbaren Landes; wo weniger Land vorhanden ist, werden zwei Drittel des gesamten urbaren Landes an die Bauern abgegeben; und wo so viele Bauern auf einem Gut sind, daß diese zwei Drittel nicht ausreichen, um jeden erwachsenen Mann zumindest mit fünf Desjatinen zu versorgen, dort wird der Boden in Parzellen von fünf Desjatinen aufgeteilt, und diejenigen, die durch das Los davon ausgeschlossen sind, eine Parzelle zu bekommen, erhalten von den Dorfbehörden Pässe und haben die Freiheit, zu gehen, wohin sie wollen. Was das Brennholz anbelangt, <675> so ist der Gutsbesitzer verpflichtet, dies für die Bauern in seinen Wäldern zu einem vorher festgesetzten Preis zur Verfügung zu stellen.

VI. Für diese Vergünstigungen muß der Bauer dem Gutsbesitzer folgende corvées <Frondienste> leisten: Für jede zugeteilte Desjatine zehn Arbeitstage mit Pferd und zehn Tage ohne (bei neun Desjatinen 180 Arbeitstage jährlich). Der Wert seiner corvée soll in jedem Gouvernement (Provinz) geldmäßig so festgelegt werden, daß ein Tag corvée nur ein Drittel eines freien Arbeitstages wert ist. Nach den ersten sieben Jahren kann ein Siebentel dieser corvées und in jedem folgenden Jahr ein weiteres Siebentel in eine Getreiderente verwandelt werden.

VII. Die persönlichen Leibeigenen, die nicht an ein besonderes Gut gebunden sind, sondern an das Herrenhaus der Familie oder an die Person ihres Herrn, werden ihren Herren zehn Jahre dienen müssen, jedoch Lohn empfangen. Sie können aber jederzeit ihre Freiheit zu einem Preis von 300 Rubeln für einen Mann und 120 Rubeln für eine Frau erkaufen.

IX. Der Gutsbesitzer bleibt das Oberhaupt der Dorfgemeinde und hat das Vetorecht gegen ihre Beschlüsse; in einem solchen Fall kann bei einer gemischten Kommission von Adligen und Bauern Berufung eingelegt werden.

Das ist der Inhalt dieses wichtigen Dokuments, welches in indirekter Form die Gedanken Alexanders II. über die große soziale Frage Rußlands ausdrückt. Ich habe Kapitel VIII, das die Organisation der Dorfgemeinden behandelt, ausgelassen und ebenfalls Kapitel X, das nur die gesetzlich festgelegten Formen behandelt, in welche die offiziellen Dokumente über diese Reform gebracht werden sollen. Schon ein ganz oberflächlicher Vergleich zeigt, daß dieser Bericht in Wahrheit eine bloße Fortsetzung und Aufarbeitung des Programms ist, das vom Hauptkomitee im vergangenen Frühjahr an die verschiedenen Körperschaften des Adels im ganzen Reiche ausgegeben wurde. Dieses Programm, dessen zehn Punkte genau den zehn Kapiteln des Berichts entsprechen, war faktisch nur ein Schema, das dem Zweck diente, den Adligen zu zeigen, in welcher Richtung sie zu handeln haben, und das sie ausfüllen sollten. Doch je mehr sich die Adligen in die Frage vertieften, um so größer wurde ihre Abneigung; und es ist sehr bezeichnend, daß die Regierung sich acht Monate danach gezwungen sah, dieses Schema selbst auszufüllen und jenen Plan zu entwerfen, der eigentlich ein ureigener Akt der Adligen sein sollte.

Soviel zur Geschichte des vorliegenden Dokuments; jetzt zu seinem Inhalt.

<676> Wenn der russische Adel denkt, daß der "4. August" (1789) für ihn noch nicht gekommen sei und daß bislang keine Notwendigkeit bestehe, seine Privilegien auf dem Altar seines Vaterlandes zu opfern, so geht die russische Regierung weitaus schneller voran; sie ist schon bei der "Erklärung der Menschenrechte" angelangt. Was halten Sie eigentlich davon, daß Alexander II. "Rechte, die der Bauernschaft von Natur aus gehören und deren sie nie hätte beraubt werden dürfen" verkündet? Wahrlich, das sind ungewöhnliche Zeiten! 1846 tritt ein Papst als Initiator einer liberalen Bewegung auf; 1858 proklamiert ein russischer Despot, ein wahrer samoderjetz vserossiiski <Selbstherrscher aller Reußen> die Menschenrechte! Und wir werden es noch erleben, daß die Proklamation des Zaren ein größeres Echo in der Welt finden und im Grunde von weit größerer Tragweite sein wird als der Liberalismus des Papstes.

Die erste der Parteien, die der Bericht behandelt, ist der Adel. Wenn er sich weigert, einen 4. August zu feiern, dann erklärt ihm die Regierung sehr deutlich, daß er dazu gezwungen werden wird. Jedes Kapitel des Berichts enthält einen schmerzhaften materiellen Verlust für die Aristokratie. Eine der Arten, wie der Adel sein menschliches Kapital exploitierte, bestand darin, die Leibeigenen zu vermieten oder ihnen zu gestatten, gegen Zahlung einer Jahressumme (obrok) umherzuwandern und ihren Lebensunterhalt nach eigenem Belieben zu verdienen. Dieser Brauch kam wunderbar sowohl den Börsen der Adligen als auch dem Wandertrieb des russischen Leibeigenen entgegen. Für jene war er eine der Haupteinnahmequellen. Durch das Kapitel I sollen sie ohne Entschädigung beseitigt werden. Nicht nur das: Durch Kapitel II wird jeder Leibeigene, dem der Gutsbesitzer keine 5 Desjatinen urbares Land zuteilen kann, frei und kann gehen, wohin es ihm beliebt. Durch die Kapitel III-V verliert der Gutsbesitzer die freie Verfügungsgewalt über etwa zwei Drittel seines Bodens und wird gezwungen, ihn den Bauern zuzuteilen. Zwar sitzen die Bauern schon jetzt auf dem Boden, aber unter seiner Herrschaft und gegen Verpflichtung von Dienstleistungen, die ausschließlich von ihm festgelegt waren. Nun soll der Boden in Wirklichkeit den Bauern gehören, die lebenslängliche Pächter werden, mit dem Recht, ihr ganzes Gehöft auszulösen, und deren Dienstleistungen, obwohl sie sehr hoch bemessen sind, sollen nun durch eine gesetzliche Verordnung festgelegt werden und, was für die Gutsbesitzer noch schlimmer ist, sogar zu einem (für die Bauern) ziemlich vorteilhaften Tarif verändert werden können. Sogar den dvorovye, d.h. den Dienern des gutsherrlichen Hauses, muß Lohn gezahlt werden, und sie können, wenn sie wollen, ihre Freiheit erkaufen. Was noch <677> schlimmer ist, die Leibeigenen sollen dieselben Rechte wie alle anderen Bürger erhalten, was bedeutet, daß sie das ihnen bisher unbekannte Recht haben werden, ihre Gutsbesitzer zu verklagen und in Gerichtshöfen Zeugnis gegen sie abzulegen, und obwohl die Gutsbesitzer auf ihren Gütern das Oberhaupt des Bauern bleiben und eine gewisse Rechtsgewalt über sie behalten, so werden doch die Erpressungen, durch die ein großer Teil des russischen Adels die Mittel zusammengescharrt hat, um elegante lorettes <Kokotten> in Paris auszuhalten und in deutschen Bädern dem Glückspiel zu frönen, in Zukunft eine starke Einschränkung erfahren. Um aber die Wirkung, die eine solche Verminderung des Einkommens auf die russischen Adligen haben könnte, beurteilen zu können, wollen wir einen Blick auf ihre finanzielle Lage werfen. Der gesamte Landadel Rußlands ist an die Kreditbanken (von der Krone eingerichtet) mit einer Summe von 400.000.000 Silberrubel verschuldet, wofür etwa 13.000.000 Leibeigene an diese Banken verpfändet sind. Die Gesamtzahl der Leibeigenen Rußlands (außer den Kronbauern) beträgt 23.750.000 (Zensus von 1857). Nun ist klar, daß die kleineren Besitzer von Leibeigenen die Hauptkontrahenten dieser Schuld sind, während die größeren verhältnismäßig frei von Schulden sind. Aus dem Zensus von 1857 wird ersichtlich, daß etwa 13.000.000 Leibeigene Gutsherren gehören, die jeder weniger als 1.000 Leibeigene besitzen, während die übrigen 10.750.000 Leibeigenen Gutsbesitzern gehören, die jeder mehr als 1.000 Leibeigene besitzen. Es versteht sich, daß die letzteren beinahe die unbelasteten und die ersteren die mit Schulden belasteten Adligen Rußlands darstellen. Dies mag nicht ganz exakt sein, aber es kommt im allgemeinen der Wirklichkeit nahe genug.

Die Anzahl der Grundbesitzer, die 1 bis 999 "Seelen" nach dem Zensus von 1857 besitzen, beträgt 105.540, während die der Adligen, die 1.000 und mehr besitzen, nicht mehr als 4.015 beträgt. Es sieht also so aus, daß bei niedrigster Schätzung neun Zehntel der gesamten russischen Aristokratie an die Kreditbanken, oder was das gleiche ist, an die Krone, arg verschuldet sind. Es ist aber wohlbekannt, daß der russische Adel überdies in großem Maße an Privatpersonen, an Bankiers, Händler, Juden und Wucherer verschuldet ist und daß die große Mehrheit der Adligen so schwer mit Schulden belastet ist, daß sie nur ein nominelles Interesse an ihren Besitzungen übrig haben. Diejenigen, die noch gegen den Bankrott ankämpften, wurden durch die schweren Opfer des letzten Krieges völlig ruiniert, als sie außer den schweren Abgaben, die sie an Menschen, Geld und corvées zu leisten hatten, den Absatz für ihre Produkte verschlossen fanden und Darlehen zu außerordentlich <678> drückenden Bedingungen aufnehmen mußten. Und nun fordert man sie dazu auf, völlig und ohne Entschädigung auf einen großen Teil ihrer Einnahmen zu verzichten und den Rest ihres Einkommens so zu regeln, daß es nicht nur vermindert, sondern auch fernerhin in dieser verminderten Grenze gehalten wird.

Bei einem solchen Adel wie dem russischen kann man die Folgen leicht voraussehen. Wenn er nicht mit der Aussicht einverstanden ist, daß die große Mehrheit seiner Klasse ruiniert oder unmittelbar in den Bankrott getrieben wird, um in jener Klasse des bürokratischen Adels aufzugehen, dessen Rang und Stellung gänzlich von der Regierung abhängt, dann muß er sich diesem Versuch der Befreiung der Bauernschaft widersetzen. Er widersetzt sich ihm wirklich, und wenn, wie es den Augenschein hat, sein gegenwärtiger legaler Widerstand nichts gegen den Willen des Herrschers ausrichten wird, so wird er gezwungen sein, seine Zuflucht zu anderen wirkungsvolleren Mitteln zu nehmen.

II

["New-York Daily Tribune" Nr. 5535 vom 17. Januar 1859]

Berlin, 31. Dezember 1858

Der Widerstand der russischen Adligen gegen die Emanzipationspläne des Zaren hat bereits begonnen, sich in zweierlei Weise kundzutun - einmal passiv und einmal aktiv. Die persönlichen Ansprachen, die Alexander II. bei seiner Reise durch mehrere Provinzen an seine Adligen zu richten geruhte, Ansprachen, die einmal sanft in das Gewand menschenfreundlicher Appelle gekleidet waren, dann die überzeugende Form belehrender Darstellung annahmen, ein andermal zu den schrillen Tönen des Befehls und der Drohung anstiegen - wozu haben sie alle geführt? Die Adligen hörten sie in serviler Haltung mit gesenkten Köpfen an, aber in ihrem Herzen fühlten sie, daß der Kaiser, der daherkam, um Ansprachen zu halten, sie zu beschwatzen, zu überreden, zu ermahnen und ihnen zu drohen, aufgehört hatte, jener allmächtige Zar zu sein, dessen Wille sogar an Stelle der Vernunft stehen sollte. Deshalb wagten sie es, eine negative Antwort zu geben, indem sie überhaupt keine Antwort gaben, die Gefühle des Zaren unerwidert ließen und zu dem einfachen Mittel der Verschleppung in ihren Kommissionen griffen. Sie ließen dem Kaiser keinen anderen Ausweg als den der römischen Kirche: <479> Compelle intrare <Zwinge zum Eintritt>. Diese öde Monotonie des hartnäckigen Schweigens wurde jedoch vom St. Petersburger Adelskomitee kühn durchbrochen, das ein von Herrn Platonow, einem seiner Mitglieder, entworfenes Dokument annahm, welches in der Tat eine "petition of rights" darstellte. Darin wurde nichts weniger als ein Adelsparlament gefordert, das gemeinsam mit der Regierung nicht nur die große Frage der Stunde, sondern alle politischen Fragen entscheiden sollte. Vergeblich weigerte sich Herr Lanskoi, der Minister des Innern, dieses Dokument anzunehmen, indem er es dem Adel mit der zornigen Bemerkung zurückschickte, daß es seine Aufgabe sei, sich nicht zur Überreichung von Petitionen zu vereinigen, sondern nur zur Beratung von Fragen, die ihm die Regierung vorlegt. General Schuwalow ging im Namen des Komitees zum Angriff über und zwang Herrn Lanskoi durch die Drohung, das Dokument selbst dem Kaiser zu übergeben, es dennoch anzunehmen. So hat der russische Adel 1858, ebenso wie der französische Adel im Jahre 1788, die Parole der Assemblée des états généraux <Versammlung der Generalstände> oder, wie man in Moskowien sagt, des Semski Sobor bzw. der Semskaja Duma <Ständeversammlung> ausgegeben. So greifen die Adligen selbst mit ihren eigennützigen Versuchen, die veraltete soziale Grundlage der Pyramide unversehrt zu erhalten, ihren politischen Schwerpunkt an. Außerdem hat der esprit de vertige <Geist des Irrtums>, wie die alten französischen Emigranten den Geist des Zeitalters nannten, sie so heftig ergriffen, daß die Mehrheit der Adligen sich Hals über Kopf in die bürgerliche Aktiengesellschaftsmanie stürzt, während die Minderheit in den westlichen Provinzen Gefallen daran findet, die neumodische literarische Bewegung zu führen und zu schützen. Um eine Vorstellung von diesen in die Augen fallenden Bewegungen zu vermitteln, wird die Feststellung genügen, daß 1858 die Zahl der bestehenden Zeitschriften schon auf 180 angestiegen war, während 109 neue für 1859 angekündigt wurden. Andererseits wurden 1857 sechzehn Gesellschaften mit einem Kapital von 303.900.000 Rubel gegründet, während in der Zeit von Januar bis August 1858 21 neue Gesellschaften mit einem Kapital von 36.175.000 Rubeln hinzukamen.

Betrachten wir nun die andere Seite der von Alexander II. beabsichtigten Veränderungen. Man sollte nicht vergessen, wie oft die russische Regierung vor den Augen der Bauernschaft die Fata Morgana der Freiheit heraufbeschworen hat. Zu Beginn seiner Herrschaft rief Alexander II. den Adel zur Emanzipierung der Bauern auf, doch ohne Erfolg. Im Jahre 1812, als die Bauernschaft aufgerufen wurde, sich in das opoltschenie (die Miliz) ein- <680> zureihen, wurde die Befreiung von der Leibeigenschaft, zwar nicht offiziell, so doch mit stillschweigendem Einverständnis des Kaisers, als Belohnung für den Patriotismus in Aussicht gestellt; die Männer, die das Heilige Rußland verteidigt hatten, könnten nicht länger als Sklaven behandelt werden. Sogar unter Nikolaus wurde die Macht der Adligen über ihre Leibeigenen durch eine Reihe von Ukasen eingeschränkt; so wurden die letzteren ermächtigt (Ukas von 1842), mit ihren Besitzern Verträge über die zu leistenden Dienste abzuschließen (wodurch ihnen indirekt gestattet wurde, ihre Herren auch vor dem Gericht anzuklagen); ein Ukas (1844) übernahm im Namen der Regierung die Garantie für die Erfüllung der von den Bauern in solchen Verträgen eingegangenen Verpflichtungen; ein anderer (1846) ermöglichte den Leibeigenen, ihre Freiheit zu erkaufen, wenn das Gut, zu dem sie gehörten, öffentlich versteigert werden sollte; und der Ukas (1847) ermöglichte es der Vereinigung der zu einem solchen Gut gehörenden Leibeigenen, das ganze Gut zu kaufen, sobald dieses käuflich war. Zur großen Überraschung der Regierung und der Adligen erwies es sich plötzlich, daß die Leibeigenen darauf vorbereitet waren und tatsächlich ein Gut nach dem anderen kauften; ja, daß sogar in vielen Fällen der Gutsbesitzer nur der nominelle Eigentümer war, denn die Leibeigenen, durch deren Geld er zwar schuldenfrei geworden war, hatten natürlich Vorkehrungen getroffen, um sich faktisch ihre eigene Freiheit und das Eigentumsrecht an dem Gut zu sichern. Als dies herauskam, mußte die Regierung, die durch diese Anzeichen der Intelligenz und der Energie unter den Leibeigenen und gleichzeitig durch die Erhebungen von 1848 in Westeuropa erschreckt war, nach einem Mittel gegen diese Verordnung suchen, die den Adel allmählich von seinen Gütern zu verdrängen drohte. Es war aber zu spät, um den Ukas zu widerrufen; daher dehnte ein anderer Ukas (15. März 1848) das Kaufrecht, das bisher nur die kommerziellen Vereinigungen der Leibeigenen besaßen, auf jeden einzelnen Leibeigenen aus. Diese Maßnahme war nicht nur darauf gerichtet, die Vereinigungen von Dörfern und Gruppen von Dörfern eines Gebiets zu sprengen, die bisher die Leibeigenen instand gesetzt hatten, das Kapital für einen solchen Kauf zu sammeln; sie wurde außerdem noch mit einigen Sonderbedingungen gewürzt. Das Land konnte von Leibeigenen gekauft werden, aber nicht die dazugehörigen Leute; mit anderen Worten - indem die Leibeigenen das Gut kauften, zu dem sie gehörten, erkauften sie nicht ihre eigene Freiheit. Im Gegenteil, sie blieben Leibeigene, und der gesamte Kaufvertrag wurde überdies von der Zustimmung des ehemaligen Gutsbesitzers abhängig gemacht! Um das Ganze noch zu krönen, wurden die zahlreichen Adligen, die ihren Besitz sozusagen für ihre Leibeigenen in Treuhänderschaft hielten, durch den <681> selben Ukas berechtigt und ermutigt, diese Treuhänderschaft zu brechen und den vollen Besitz ihrer Güter wiederzuerlangen, wobei alle Klagen der Leibgenen ausdrücklich von den Gerichtshöfen abzuweisen waren. Seitdem waren für die Leibeigenen alle Schulen außer den Elementarschulen geschlossen, und alle Hoffnungen auf Emanzipation schienen zerschlagen, als der vergangene Krieg Nikolaus wieder dazu zwang, zu einer allgemeinen Bewaffnung der Leibeigenen aufzurufen und diesen Aufruf wie üblich durch Versprechungen der Befreiung von der Leibeigenschaft zu unterstützen, Versprechungen, die die unteren Regierungsbeamten unter der Bauernschaft zu verbreiten hatten.

Es ist ganz natürlich, daß sich Alexander II. nach all dem gezwungen sah, ernsthaft zur Befreiung der Bauern zu schreiten. Das Ergebnis seiner Bemühungen und die Entwürfe seiner Pläne, soweit sie ausgereift waren, liegen vor uns. Was werden die Bauern zu einer zwölfjährigen Probezeit mit schweren corvées sagen, an deren Ende sie in einen Zustand eintreten sollen, den die Regierung nicht im einzelnen zu beschreiben wagt? Was werden sie zu einer kommunalen Verwaltung, Rechtsprechung und Polizei sagen, welche alle Organe der demokratischen Selbstverwaltung beseitigen, die jede russische Dorfgemeinde bisher besessen hatte, um ein System der patrimonielen Macht der Gutsbesitzer nach dem Muster der preußischen Agrargesetzgebung von 1808 und 1809 zu errichten, ein System, das dem russischen Bauern völlig widerstrebt, dessen ganzes Leben von der Dorfgemeinde bestimmt wird, der keine Idee von individuellem Grundbesitz hat, sondern die Gemeinde als den Eigentümer des Bodens betrachtet, auf dem er lebt?

Wenn wir uns daran erinnern, daß die Erhebungen der Leibeigenen gegen ihre Gutsbesitzer und Gutsverwalter seit 1842 zu einer Epidemie geworden sind, daß die Leibeigenen sogar laut offizieller Statistik des Ministeriums des Innern jährlich ungefähr sechzig Adlige ermordet haben, daß die Aufstände während des letzten Krieges stark zugenommen und sich in den westlichen Gebieten hauptsächlich gegen die Regierung gerichtet haben (es wurde eine Verschwörung organisiert, um beim Herannahen der englisch-französischen Armee - des ausländischen Feindes - einen Aufstand zu entfachen!), so kann es kaum einen Zweifel geben, daß der Versuch, die Vorschläge des Komitees zu verwirklichen, das Signal für eine gewaltige Feuersbrunst unter der Landbevölkerung Rußlands sein muß, sogar wenn sich der Adel der Emanzipation nicht widersetzt. Der Adel wird sich jedoch bestimmt widersetzen; der Kaiser, der zwischen Staatsnotwendigkeit und Zweckmäßigkeit hin- und hergeworfen wird, zwischen der Furcht vor den Adligen und der Furcht vor den wütenden Bauern, wird bestimmt schwanken, und die Leibeigenen, deren <682> Erwartungen aufs höchste gespannt sind, werden sich in dem Glauben, daß der Zar auf ihrer Seite steht, aber nur von den Adligen zurückgehalten wird, sicherer denn je zuvor erheben. Und wenn sie dies tun, dann wird das russische 1793 anbrechen; die Schreckensherrschaft dieser halbasiatischen Leibeigenen wird etwas in der Geschichte noch nie Dagewesenes sein, aber sie wird der zweite Wendepunkt in der russischen Geschichte sein und schließlich eine wirkliche und allgemeine Zivilisation an die Stelle der trügerischen und unechten Zivilisation setzen, welche Peter der Große eingeführt hat.


Fußnoten

(1) Dies ist alles andere als richtig. Boris Godunow (Ukas vom 2. November 1601) setzte dem Recht der Bauern, durch das Reich zu ziehen, ein Ende und band sie an die Güter, denen sie durch Geburt oder Wohnsitz angehörten. Unter seinen Nachfolgern wuchs rasch die Macht des Adels über die Bauernschaft, und der Zustand der Leibeigenschaft wurde allmählich für die letztere allgemeingültig. Dies blieb aber eine ungesetzliche Usurpation seitens der Bojaren, bis Peter der Große sie 1723 legalisierte. Die Bauern wurden nun auch zum persönlichen Eigentum des adligen Gutsbesitzers gemacht, ohne von den Ketten befreit zu werden, die sie an das Gut fesselten; der Gutsbesitzer erhielt das Recht, sie einzeln oder gruppenweise, mit oder ohne Land zu verkaufen, und wurde in Anbetracht dessen persönlich für sie und ihre Steuern an die Regierung verantwortlich gemacht. Später verwandelte Katharina II. mit einem Federstrich vier oder fünf Millionen verhältnismäßig freier Bauern in den neuerworbenen westlichen und südlichen Provinzen in Leibeigene. Es würde aber nicht schicklich sein, in russischen offiziellen Dokumenten solche Tatsachen in Verbindung mit Peter I. und Katharina II. zu erwähnen, und der arme Boris Godunow muß daher die Verantwortung für die Sünden all seiner Nachfolger tragen. <=