Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 654-658.

Friedrich Engels

[Europa im Jahre 1858]

Geschrieben Ende November 1858.
Aus dem Englischen.


"New-York Daily Tribune" Nr. 5514 vom 23. Dezember 1858, Leitartikel.

<654> Die zweite Hälfte des Jahres 1858 ist Zeuge eines eigentümlichen Wiedererwachens politischer Aktivität in Europa gewesen. Vom 2. Dezember 1851 bis Mitte dieses Jahres war der europäische Kontinent in politischer Hinsicht wie mit einem Leichentuch bedeckt. Die Mächte, die dank ihrer Armeen siegreich aus dem großen revolutionären Kampf hervorgegangen waren, durften nach ihrem Belieben regieren, Gesetze erlassen oder umstoßen, befolgen oder verletzen, wie es ihnen gerade gefiel. Überall waren die Vertreterkörperschaften zu einem bloßen Schein herabgewürdigt worden; es gab kaum irgendwo eine Parlamentsopposition; die Presse war geknebelt; und hätte es nicht dann und wann ein plötzlich aufflammendes Feuerzeichen gegeben, eine Erhebung in Mailand, eine Landung in Salerno, einen Aufstand in Chalon, ein Attentat auf Louis-Napoleon, hätte es nicht einige politische Prozesse in Angers und anderswo gegeben, im Verlauf derer sich der alte revolutionäre Geist für eine kurze Zeit, um welchen Preis auch immer, in einer lauten und Aufsehen erregenden Selbstbehauptung offenbarte, dann hätte man denken können, der europäische Kontinent habe nach der Erfahrung von 1848 alle Ideen von einem politischen Leben aufgegeben und der Militärdespotismus, das cäsarische Regime sei überall als die einzig mögliche Regierungsform hingenommen worden. Sogar in England befand sich der Geist der politischen Reform ständig im Niedergang. Die Aufmerksamkeit des englischen Parlaments wurde in Anspruch genommen durch die Rechts-, Handels- und Verwaltungs-Gesetzgebung, wobei die letztere eine eindeutige Tendenz zur Zentralisation zeigte. Die Versuche, eine politische Volksbewegung am Leben zu halten, scheiterten kläglich, die Reformpartei der Bourgeoisie ging ruhig schlafen und erlitt 1857 <655> bei Lord Palmerstons Parlamentswahlen eine riesige Niederlage, während der Chartismus völlig auseinandergefallen war.

Von allen Nationen Europas erwachte Rußland als erste aus dieser politischen Lethargie. Der Krimkrieg hatte immerhin Rußlands Stolz gedemütigt, obwohl er ohne beträchtliche Gebietsverluste und, soweit es den Osten betrifft, sogar ohne Prestigeverlust geendet hatte. Zum ersten Mal war Rußland gezwungen worden, den Grundsatz preiszugeben, auf Länder, die es einmal annektiert hatte, niemals wieder zu verzichten. Sein ganzes Verwaltungssystem war in seinem vollkommensten Zweig - dem militärischen völlig zusammengebrochen und mußte zugeben, daß es versagt hatte. Das Werk, an dem Nikolaus fünfundzwanzig Jahre lang Tag und Nacht gearbeitet hatte, fiel mit den Festungswällen und Forts von Sewastopol in Trümmer. Doch bei dem vorhandenen politischen Zustand des Landes war kein anderes Verwaltungssystem möglich als das abgekapselte und aufgeblasene bürokratische System, das existierte. Um die Grundlage für ein besseres System zu legen, mußte Alexander II. auf den Gedanken zurückkommen, die Leibeigenen freizulassen. Er hatte mit zwei furchtbaren Widersachern zu kämpfen, mit dem Adel und eben jener Bürokratie, die er gegen ihren Willen zu reformieren trachtete und die gleichzeitig als das Werkzeug seiner Pläne dienen sollte. Zu seiner Unterstützung hatte er nur den traditionellen passiven Gehorsam jener trägen Masse der russischen Leibeigenen und Kaufleute, die bis dahin selbst von dem Rechte, über ihre politische Lage nachzudenken, ausgeschlossen war. Um sich überhaupt ihres Beistandes bedienen zu können, war er gezwungen, so etwas wie eine öffentliche Meinung und zumindest den Schatten einer Presse zu schaffen. Darum wurde die Zensur gelockert und eine artige, wohlmeinende und gesittete Diskussion erbeten; sogar leichte und höfliche Kritik an den Handlungen von Beamten wurde erlaubt. Das jetzt in Rußland bestehende Maß an Redefreiheit würde in jedem Lande Europas, ausgenommen Frankreich, lächerlich gering erscheinen, aber den Menschen, die das Rußland des Nikolaus kannten, erscheint dieser Schritt nach vorn gewaltig, und in Verbindung mit den notwendigerweise aus der Freilassung der Leibeigenen erwachsenen Schwierigkeiten ist dieses Erwachen der gebildeteren Kreise Rußlands zum politischen Leben voll guter Omen.

Das nächste politische Wiedererwachen erlebte Preußen. Nachdem sich der König zeitweilig von der Regierungstätigkeit zurückgezogen hatte, wurde bald bekannt, daß seine Geistesgestörtheit unheilbar ist und sein Bruder früher oder später mit allen Machtbefugnissen zum Regenten ernannt werden muß. Diese Zwischenperiode ließ eine Agitation aufkommen, die unter dem Vorwand des Geschreis nach einer endgültigen Regentschaft in der Tat gegen <656> das Bestehen eines unbeliebten Ministeriums gerichtet war. Als die Regentschaft vor zwei Monaten schließlich errichtet, das Ministerium verändert und ein neues Abgeordnetenhaus gewählt wurde, bahnte sich die so lange eingedämmte politische Bewegung sofort einen Weg und warf die frühere Majorität fast bis zum letzten Mann aus der gesetzgebenden Versammlung hinaus. Wohin die ganze gegenwärtige Bewegung in Preußen in letzter Instanz führen wird, ist bei früheren Gelegenheiten in dieser Zeitung <Siehe vorl. Band, S. 604-620, 631-643 und 649-653> analysiert worden; hier verzeichnen wir nur die Tatsache, daß das politische Wiedererwachen eingetreten ist.

Das Vorhandensein einer solchen Bewegung konnte im übrigen Deutschland nicht unbeachtet bleiben. Tatsächlich macht sie sich bereits in den kleineren Staaten fühlbar; und Ministerwechsel, Majoritätsverschiebungen, Schwankungen in der Politik wird die weitere Entwicklung sicher in dem Maße mit sich bringen, so wie die Bewegung in Preußen eine bestimmtere Form annimmt. Nicht nur in dem Haufen kleiner deutscher Monarchien, sondern ebenso in Österreich beginnt diese Bewegung sich ernsthaft fühlbar zu machen. Die konstitutionelle Partei in Österreich hat gegenwärtig keine Chance, die Regierung zu einem zweiten Versuch mit Vertreterkörperschaften zu veranlassen; so bleibt ihnen als einziges Mittel, damit die Frage im Blickpunkt der Öffentlichkeit bleibt, die "Rückkehr zu einer gesunden verfassungsmäßigen Regierung" in Preußen zu loben; und in der Tat, es ist erstaunlich, wie populär Preußen in Österreich und Süddeutschland auf einmal geworden ist. Doch gleichviel, wie sie sich auch äußern mag, die Bewegung existiert sogar in Österreich.

Ein weiterer Brennpunkt heftiger Bewegung ist Italien. Verhältnismäßig ruhig seit dem Frieden mit Rußland, mußte das durch bonapartistische Intrigen genährte politische Fieber bestimmt dieses leicht erregbare Volk ergreifen. Die alte Bewegung gegen das Tabakmonopol ist in der Lombardei wieder aufgelebt; die Herzogin von Parma hält es für angebracht, der Ristori zu erlauben, in der Rolle der Judith, die einen heiligen Krieg gegen die Assyrer predigt, gegen die Österreicher zu eifern, und das in Hörweite der österreichischen Garnison von Piacenza. Die Lage der französischen Okkupationsarmee in Rom und die der päpstlichen Regierung daselbst beginnt gleichermaßen schwierig zu werden. Neapel ist sogar bereit, sich zu erheben, und um allem die Krone aufzusetzen, ruft Viktor Emanuel von Sardinien seine Generale auf, sich bereit zu halten, denn sie müßten möglicherweise im Frühjahr wieder Pulver riechen.

<657> Selbst Frankreich ist von diesem neuen Geist erfaß worden. Montalemberts Artikel gegen den Bonapartismus war ein schlagender Beweis für ein wiedererwachendes Leben in der französischen Bourgeoisie. Es hat jetzt den Anschein, daß nicht nur Montalembert einen weiteren Aufsatz vorbereitet hat, sondern daß Herr Falloux, der ehemalige Minister Louis-Napoleons, ebenfalls mit einem kraftvollen Artikel gegen den bestehenden Zustand herauskommt. Der Prozeß Montalemberts löst sich in einen feierlichen Protest der parlamentarischen Berühmtheiten Frankreichs gegen das derzeitige System und in eine Erklärung auf, daß sie noch immer die Wiederherstellung der parlamentarischen Regierung anstreben. De Broglie, Odilon Barrot, Villemain und viele andere Männer dieser Kategorie waren anwesend, und Berryer sprach für sie alle, als er unter dem Schutze der Unverletzlichkeit, die in einem bestimmten Grade den Gerichtsreden eines Verteidigers anhaftet, ausrief:

"Nein, wir werden niemals und unter keinen Umständen Abtrünnige unserer Vergangenheit sein. Sie unterschätzen dieses Land. Sie geben selbst zu, daß es veränderlich und unbeständig ist. Welche Garantie haben Sie also, daß es nicht eines Tages zu den Einrichtungen, die es geliebt und unter denen es ein halbes Jahrhundert gelebt hat, zurückkehren wird? Ah, unsere Kraft ist durch die sich hinziehenden Kämpfe, durch unsere schmerzlichen Prüfungen, durch die Bitterkeit unserer Enttäuschungen sehr erschöpft - das macht nichts, wenn unsere Heimat uns braucht, wird sie uns immer auf unserem Posten finden. Wir werden ihr mit der gleichen Glut, der gleichen Standhaftigkeit und der gleichen Uneigennützigkeit wie in vergangenen Tagen ergeben sein und der letzte Schrei unserer ersterbenden Stimme soll sein: 'Freiheit und Frankreich!'"

Gewiß, solch eine offene Kriegserklärung gegen die Gesamtheit der bestehenden Einrichtungen Frankreichs würde man niemals wagen, gäbe es nicht außerhalb des Gerichtssaales eine starke Partei, die dem Redner ihren moralischen Beistand gewährt. Schließlich finden wir sogar in England eine wiederauflebende Reformbewegung und fast die Gewißheit, daß diese Frage jetzt definitiv in dieser oder jener Form vor dem Parlament bleiben muß, bis man eine Maßnahme beschließt, die das Gleichgewicht der Parteien wesentlich verändern und dadurch die Grundlagen der ehrwürdigen, aber hinfälligen britischen Verfassung angreifen wird.

Was liegt nun dieser übereinstimmenden und bisher ungewöhnlich harmonischen Bewegung in fast allen Ländern Europas zugrunde? Als die vulkanischen Ausbrüche des Jahres 1848 vor den Augen der erstaunten liberalen Bourgeoisie Europas plötzlich das gigantische Gespenst einer bewaffneten, für die politische und soziale Emanzipation kämpfenden Arbeiterklasse erstehen ließen, opferte die Bourgeoisie, der der sichere Besitz ihres Kapitals <658> von unermeßlich höherer Bedeutung als die direkte politische Macht war, diese Macht und alle Freiheiten, für die sie gekämpft hatte, um die Unterdrückung der proletarischen Revolution zu sichern. Die Bourgeoisie erklärte sich politisch für unmündig, für unfähig, die Angelegenheiten der Nation zu leiten und fügte sich in den militärischen und bürokratischen Despotismus. Dann begann jene krampfhafte Ausdehnung der Fabriken, Bergwerke, Eisenbahnen und der Dampfschiffahrt, jene Epoche der Crédits mobiliers, des Schwindels in Aktienunternehmungen, des Betruges und der Wechselreiterei, in der sich die europäische Bourgeoisie für ihre politischen Niederlagen durch industrielle Siege, für ihre kollektive Impotenz durch individuellen Reichtum schadlos zu halten suchte. Doch mit ihrem Reichtum wuchs ihre gesellschaftliche Macht und im gleichen Verhältnis erweiterten sich ihre Interessen; sie begann wieder, die ihr auferlegten politischen Ketten zu spüren. Die gegenwärtige Bewegung in Europa ist die natürliche Folge und der Ausdruck dieses Gefühls, gepaart mit einem wiedererlangten Vertrauen in ihre eigene Macht über ihre Arbeiter, wiedererlangt in den zehn Jahren ungestörter industrieller Tätigkeit. Das Jahr 1858 hat eine starke Ähnlichkeit mit dem Jahr 1846, das ebenfalls ein politisches Wiedererwachen in den meisten Teilen Europas einleitete und sich ebenfalls durch eine Anzahl von Fürsten, die Reformen anstrebten, auszeichnete, Fürsten, die zwei Jahre später ohnmächtig hinweggerafft wurden vom Ansturm der revolutionären Flut, die sie entfesselt hatten.