Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 649-653.

Karl Marx

Die Lage in Preußen

Aus dem Englischen.


"New-York Daily Tribune" Nr. 5505 vom 13. Dezember 1858.

<649> Berlin, 23. November 1858

Heute war Wahltag; die Wähler der zweiten Stufe, eine keineswegs zahlreiche Körperschaft, versammelten sich in aller Stille, um als Beauftragte der ungestümen Menge zu handeln. Liberalismus in seiner gemäßigtsten Form, bürgerlicher Liberalismus in bürokratischem Gewand, sich selbst verleugnender Liberalismus entsprang der Urne, von der man einen Augenblick befürchtet hatte, sie könnte sich als eine Büchse der Pandora erweisen. Schon die Titel der Kandidaten in unserer Stadt beweisen, daß sie nichts Böses im Schilde führen können. Da ist ein Generalsteuerdirektor <Generalsteuerdirektor: in der "N.-Y. D. T." deutsch und englisch>, ein Oberbürgermeister <Oberbürgermeister: in der "N.-Y. D. T." deutsch und englisch>, ein Minister, ein ehemaliger Minister, ein Gerichtspräsident <Gerichtspräsident: in der "N.-Y. D. T." deutsch und englisch>, ein Geheimer Archivrat <Archivrat: in der "N.-Y. D. T." deutsch und englisch> und ein Geheimer Rat <Geheimer Rat: in der "N.-Y. D. T." deutsch und englisch>; alle diese offiziellen und geheimen Leute werden von zwei Bourgeois unterstützt - der eine ist Herr Reimer, ein Konservativer und der Verleger Seiner Majestät, der andere Dr. Veit, ebenfalls ein Verleger und wegen seines jüdischen Glaubens vom Geldmarkt auserkoren, der hier wie überall stark mit semitischem Blut durchsetzt ist. Nun kann niemand die Tatsache bestreiten, daß die bürgerlichen Radikalen von 1848, die Jacoby, Unruh, Waldeck, Rodbertus, Stein, Elsner usw. - mit einem Wort, die Männer, von denen ich Ihnen vor einem Monat schrieb, sie würden wahrscheinlich von den größeren Städten gewählt werden - in den Versammlungen der Urwähler tatsächlich eine führende Rolle spielten, viele Wahlprogramme entwarfen und daß ihnen in <650> Breslau, Königsberg, Magdeburg und Elbing Landtagssitze angeboten wurden. Woher dieser plötzliche changement de décoration <Dekorationswechsel>? Sie haben bescheiden die Annahme der Ehre abgelehnt, die man für sie bereithielt. Einige handelten nicht ganz aus freien Stücken, sondern entschlossen sich zu dieser Selbstverleugnung erst nach einer unangenehmen und keineswegs freiwilligen Unterredung mit dem Polizeidirektor <Polizeidirektor: in der "N.-Y. D. T." deutsch>. Die anderen gaben dem Druck des ängstlichen Teils der Bourgeoisie nach, der gegenwärtig den Ton angibt. Jedoch handelten alle, Polizeidirektoren, Kandidaten und Wähler, unter dem starken Antrieb plötzlich veränderter Umstände, oder ich würde eher sagen, nicht die Umstände hatten sich verändert, sondern der Nebel der Illusionen, von denn sie verhüllt gewesen waren, war durch einen Gewittersturm weggeblasen. La situation s'était dessinée <Die Lage hat sich geklärt>, wie die Franzosen sagen. Die Regierung ging zum Angriff über. Der Minister des Innern, Flottwell, veröffentlichte ein wuterfülltes Rundschreiben, wie es noch in keiner Sprache je erschienen ist, strotzend von grammatikalischen Schnitzern, verworren im Ausdruck und unsinnig in der Argumentation, aber doch voll böser Absicht. Sie wissen, was man in Frankreich unter einer offiziellen Warnung an eine Zeitung versteht. Nun, Flottwells Rundschreiben war eine allgemeine Warnung an die Wähler, der er durch geheime Instruktionen an die Polizei Nachdruck verlieh. Unverblümt richtete es sich gegen die Wahlreden, die Wahlprogramme und die Wahlpropaganda der ehemaligen radikalen Mitglieder der Nationalversammlung von 1848. Da die Großbourgeoisie gewillt ist, die Festung durch Mäßigung zu nehmen, und da die demokratischere Mehrheit des Volkes weiß, daß die politische Initiative gegenwärtig der Großbourgeoisie gehört, reagierte man auf den ministeriellen Wink sofort, ließ die grands airs <die großen Gesten> der Wiedergeburt fallen und stutzte die Wahlen nach dem Regierungsmuster zurecht. Dennoch ist es keineswegs ein angenehmes Gefühl, so rauh aus einem köstlichen Traum geschüttelt zu werden. Die Männer, die Reden und die Programme, gegen die man vorging, hatten sich in ihren kühnsten Träumen so strikt "innerhalb der Grenzen der praktischen Vernunft" gehalten, daß sich selbst der ängstliche Teil der Bourgeoisie durch die Ängstlichkeit der Regierung verletzt fühlte. Die Methode der Regierung, das neue Regime der Freiheit einzuführen, schien reichlich unzeremoniell; und folglich erhob sich in der Öffentlichkeit ein leises Murren der Enttäuschung, während die Organe der alten Kamarilla von ironischen Glückwünschen zur "Selbstbesinnung" <"Selbstbesinnung": in der "N.-Y. D. T." deutsch> <651> des neuen Kabinetts überflossen. Daraufhin ließ der arme Flottwell ein weiteres Rundschreiben veröffentlichen, das er einige Wochen zuvor vertraulich an die Landräte <Landräte: in der "N.-Y. D. T." deutsch>gerichtet hatte und in dem sie davor gewarnt wurden, extrem eingestellte Kandidaten der einen wie der anderen Seite zu unterstützen. Um diesem Anachronismus etwas Gewicht zu verleihen, wurde der veraltete Erlaß zum Vorwand für folgenden Kommentar in der "Preußischen Zeitung", dem Regierungsorgan, angenommen:

"Die gegenwärtigen Wahlen werden durch die äußerst günstige Tatsache charakterisiert, daß alle Parteien bereit sind, auf monarchistisch-konstitutioneller Basis zusammenzugehen und damit zu einem gewissen Grade die Meinungsverschiedenheiten zu verringern, die ihre verschiedenen Überzeugungen voneinander trennen. Der fortschrittliche, aber feste und gemäßigte politische Kurs, den die Regierung einschlägt, wird besonders darauf abzielen, diese Einigung zu fördern. Die Regierung wird sich nicht durch extravagante Hoffnungen oder Forderungen von diesen liberalen, aber gemäßigten Prinzipien abbringen lassen. Andererseits kann die Regierung jener Partei nicht gestatten, sich den exklusiven Titel von Royalisten zuzulegen, die, weit davon entfernt, die Grundlage der Verfassung vorbehaltlos anzunehmen, die Legalität der Charte nur in dem Maße anerkennen, wie es ihren eigenen Interessen entspricht. Die Regierung stellt die Behauptung in Abrede, daß die Mehrheit der Grundbesitzer zu dieser Partei gehören," etc.

Tatsächlich waren alle Bemühungen des Ministeriums vergeblich. Weder eine anläßlich der Einführung seines Sohnes gehaltene reaktionäre Rede im Staatsrat <Staatsrat: in der "N.-Y. D. T." deutsch> noch eine weitere reaktionäre Rede in der Freimaurerversammlung, noch eine reaktionäre Adresse an den Treubund (eine Art preußischer Orangisten-Organisation) hatte die Stellung des Prinzen gefestigt; aber er hatte das Kabinett durch heftige Ausbrüche seines Zorns über die Wendung der Dinge unter dessen Leitung erschreckt. Flottwells erstes Rundschreiben war eine gutgemeinte Warnung an die Bourgeoisie, den frischgebackenen Konstitutionalismus des Regenten nicht etwa auf die Probe zu stellen. Als die Minister sich infolge dieses Schrittes ihrer eigenen unsicheren Position bewußt wurden, telegraphierten sie der Prinzessin von Preußen, die sofort von Koblenz nach Berlin eilte und einen coup de baguette <Wink mit dem Zauberstab> in der entgegengesetzten Richtung führte. Während des vergangenen Jahres hatte sich die Prinzessin abwechselnd in Weimar, Karlsruhe und Koblenz aufgehalten. Erst im Augenblick der Lösung der Regentschaftsfrage hatte sie sich nach Berlin begeben. Nachdem es alle konsultierten Ärzte abgelehnt hatten, sich <652> zu der Frage zu äußern, ob der König geheilt werden könne oder nicht, suchte sich die Königin durch Herrn von Kleist-Retzow einen Militärarzt aus, einen gewissen Böger, der ein Gutachten unterzeichnete, demzufolge die Gesundheit des Königs wiederhergestellt werden könne. Die Prinzessin von Preußen stellte sich krank. Sie rief denselben Arzt an ihr Krankenbett, ließ sich von ihm behandeln, bezauberte ihn durch Schmeichelei und huldvolle Leutseligkeit, und als er für ihren Zweck reif zu sein schien, fragte sie ihn geradeheraus, ob er, ein so gelehrter und gewissenhafter Mann, an seine eigene Erklärung über den Gesundheitszustand des Königs wirklich glaube. Der törichte Böger bekannte, daß nur die Tränen der Königin seine Handlungsweise bestimmt hätten. Darauf schellte die Prinzessin, zwei Kammerherren stürzten herein, und der Militärarzt, der seinen natürlichen Vorgesetzten zu gehorchen hatte, mußte das eben von ihm erpreßte Geständnis nicht nur mündlich, sondern in seiner eigenen Handschrift wiederholen. Als die Prinzessin so ihr Ziel erreicht hatte, wurde sie aus Berlin verbannt. Nachdem ihr Mann als Regent eingesetzt worden war, verlängerte sie freiwillig ihren Aufenthalt in Koblenz. Wie andere mittelmäßige Männer leidet Prinz Wilhelm unter der geistigen Überlegenheit seiner besseren Hälfte, und wenn er schon am Gängelbande geführt wird, so möchte er doch nicht gern die Hände sehen, die es halten. Der Einfluß seiner Frau muß einen Umweg zu ihm machen. Überdies sind die Beziehungen zwischen diesen beiden Persönlichkeiten eiskalt und zeremoniös. In seiner Jugend war Prinz Wilhelm leidenschaftlich in Fräulein von Brockhaus verliebt und wollte sie heiraten. Sein Vater trat dazwischen, und das Fräulein starb in Paris an gebrochenem Herzen. Die Vermählung mit der Prinzessin von Weimar wurde dem widerspenstigen Hohenzollernsprößling aufgezwungen; und um sich zu rächen, bekundete er während der ersten Jahre seiner Ehe eine zügellose Leidenschaft für Fräulein V...k. So sind die Beziehungen zwischen dem Prinzen und seiner Frau alles andere als gemütlich; und die beste Methode für die Prinzessin, ihr Ministerium in Berlin einzusetzen, bestand darin, sich in Koblenz verborgen zu halten. Unterdessen spielte die Königin einen jener Streiche, wie sie den Lesern der oeil-de-boeuf-Chroniken vertraut sind. Sie haben vielleicht in den Zeitungen gelesen, daß nach der Abreise des Königs und der Königin aus Berlin das Portefeuille der letzteren in Leipzig gestohlen wurde und daß trotz aller Anstrengungen der argusäugigen und briareushändigen deutschen Polizei der Dieb nicht ergriffen werden konnte. Durch diesen oder jenen Zufall fand das Portefeuille seinen Weg zum Schreibtisch des Regenten, und in dem Portefeuille fand sich eine umfangreiche Korrespondenz seiner Frau, der Prinzessin, mit allen möglichen Politikern.

<653> Da gab es Briefe an den Gerichtspräsidenten <Gerichtspräsidenten: in der "N.-Y. D. T." deutsch> Wenzel in Ratibor, einen der soeben in Berlin gewählten Abgeordneten und Mitglied der Opposition in der Manteuffelschen Kammer, Briefe an Reichensperger, das Haupt der katholischen Opposition in Preußen, und andere Briefe - alle von geheucheltem Liberalismus überfließend und voller Sehnsucht nach einem vereinten Deutschland. So wurde der Prinz, der bekanntlich von dem Schreckgespenst der roten Republik verfolgt wird, noch mehr erschreckt von der scheinbaren Entdeckung, daß seine eigene Frau in intime Beziehungen zu den Revolutionären getreten sei. Noch andere Intrigen wurden gesponnen. Ich erzähle diese chronique scandaleuse <Skandalgeschichte>, für deren Richtigkeit ich bürgen kann, weil Revolutionen, bevor sie die Gestalt von Volksbewegungen annehmen, sich in monarchischen Staaten zuerst in dem Verfall der Krongewalt ankündigen.