Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 640-643.

Karl Marx

Die Lage in Preußen

Aus dem Englischen.


"New-York Daily Tribune" Nr. 5497 vom 3. Dezember 1858.

<640> Berlin, 16. November 1858

Der eklektische und buntscheckige Charakter des neuen Kabinetts, mit dem ich mich schon in einem früheren Beitrag beschäftigt habe, ist von der "Kreuz-Zeitung" mit folgenden höhnischen Worten kommentiert worden:

"Eine Veränderung des Systems soll stattfinden. Wenn wir uns die Frage gestatten dürfen: welche Veränderung des Systems? Welches System wird aufgegeben, und welches sind die Prinzipien des neuen Systems, die angenommen werden sollen? Repräsentiert der katholische Prinz an der Spitze des Ministeriums seinen Leitgedanken oder der Kultusminister, der Mann der evangelischen Allianz? Wieso erwartet man vom Finanzminister, dem früheren Abgeordneten der Demokraten, mit den obengenannten Personen zu harmonieren? Und kann der Veteran der alten preußischen Bürokratie seine Auffassungen auf die gleiche Stufe mit denen des Herrn von Patow bringen?"

Am 2. November haben im ganzen Königreich die Urwahlen <Urwahlen : in der "N.-Y. D. T." deutsch und englisch> stattgefunden. Die so gewählten Wahlmänner <Wahlmänner: in der "N.-Y. D. T." deutsch> werden ihrerseits am 23. dieses Monats die Abgeordneten wählen, Niemand liebt mäßige Keuschheit bei seiner Frau oder mäßige Zahlungsfähigkeit bei seinem Schuldner; und doch war mäßige Freiheit das Schlagwort, das man in gemäßigter Weise unter den Urwählern <Urwählern: in der "N.-Y. D. T." deutsch> verbreitete. Der Teil der preußischen Bevölkerung, der die Bewegung bis jetzt noch allein in Händen hält und dessen politisches Glaubensbekenntnis als liberalismus vulgaris <platter Liberalismus> gekennzeichnet werden kann, ist alles <641> andere als heldenmütig. 1848 wagten sie sich nicht zu rühren, bevor nicht die Bewegung in Neapel, Paris und Wien zum Ausbruch gekommen war. Durch eine seltsame Verkettung von Umständen sind sie gegenwärtig in die Lage geraten, das Signal für das politische Wiedererwachen auf dem Kontinent zu geben. Im eigenen Rücken eine große Armee, das Frankreich des Dezember-Staatsstreichs auf der einen, ein neuerlich zentralisiertes Österreich auf der anderen, ein ewig lauerndes Rußland auf der dritten Seite, bieten sie ein gar zu bequemes Objekt für einen konzentrischen Angriff, um sich nicht ziemlich unbehaglich zu fühlen. Ferner ist vor ihren Augen und in ihrem Herzen die Erinnerung an die Revolution noch wach; und schließlich darf der Prinzregent nicht aus seinem frischgebackenen Konstitutionalismus aufgeschreckt werden. So bittet der eine liberale Held den anderen, ihm doch jenen guten Dienst zu erweisen, um den der Ehemann seine Frau bat, als diese auf offener Straße von einem Offizier beleidigt wurde: "Halte mich zurück", rief der wackere Mann, "oder ich werde mich rächen, und dann wird Blut fließen." In der Tat darf man sich in diesem Punkte keinen Illusionen hingeben. Eine preußische Bewegung im lokalen Sinn des Wortes ist nur innerhalb sehr enger Grenzen möglich; sind sie einmal überschritten, muß sie entweder zurückweichen oder sich in eine allgemeine kontinentale Bewegung verwandeln. Die Furcht vor der letzteren wird von der Großbourgeoisie und dem Prinzregenten gleichermaßen geteilt. Eine Tatsache, die Sie schwerlich in einem Zeitungsbericht finden werden, für die ich aber bürgen kann, ist, daß der Prinz bei seinem letzten Besuch in Breslau in einer den Standespersonen dieser Stadt gewährten Audienz in höchst feierlichem Tone erklärt hat, das revolutionäre Feuer brenne noch immer, es drohe ein neuer europäischer Ausbruch, und daher erfordere sowohl die Pflicht als auch das Interesse des Bürgertums, sich um den Thron zu scharen und vor allem durch die Einhaltung der strengsten Mäßigung bei der politischen Tätigkeit jedes Loch verstopfen, durch das gesinnungslose Demagogen <gesinnungslose Demagogen: in der "N.-Y. D. T. englisch und deutsch> durchschlüpfen könnten. Das stimmt durchaus mit dem überein, was mir kürzlich ein hochgebildeter preußischer Adliger sagte:

"Wissen Sie, was den König zum Irrsinn trieb? Das Gespenst der roten Republik, und sein Bruder, obgleich ein nüchterner, mittelmäßiger und fader Gamaschenknopf, wird von dem gleichen Gespenst verfolgt."

Im großen und ganzen haben in den größeren Städten die liberalen Wahlmänner <Wahlmänner: in der "N.-Y. D. T." deutsch> gesiegt und auf dem Lande die entschiedenen Reaktionäre. In <642> welcher Weise die Wahlen auf dem Lande durchgeführt wurden, kann man aus der Tatsache schließen, daß die Landräte <Landräte: in der "N.-Y. D. T." deutsch> privatim, jeder in seinem Kreis, Rundschreiben zirkulieren ließen, in denen die Urwähler <Urwähler: in der "N.-Y. D. T." deutsch>aufgefordert wurden, die und die Personen zu wählen. Nun hat der Landrat <Landrat: in der "N.-Y. D. T." deutsch> in Preußen eine ganz besondere Stellung inne. In allen Provinzen, die Rheinprovinz als einzige Ausnahme, ist er ein Junker mit ausgedehntem Landbesitz, welcher, wie der des englischen Friedensrichters, innerhalb seines Amtsbereichs liegt. Er ist zugleich ein Kettenglied der Bürokratie, er wird von seinem Landgebiet gewählt, von der Krone ernannt und ist der Regierung <Regierung: in der "N.-Y. D. T." deutsch> (einem Kollegium) unterstellt, die in einem der Zentren der größeren Verwaltungsbezirke ihren Sitz hat; aber in seinem Kreis (oder Ressort, wie es die Preußen nennen) ist er der höchste Regierungsvertreter. Diese Landräte vereinen daher in ihrer Person die Eigenschaft des Krautjunkers mit der des Bürokraten. Im Gegensatz zum größeren Teil der Staatsbeamten sind sie nicht vollkommen von ihrer offiziellen Besoldung abhängig; schlimmstenfalls sind sie als jüngere Söhne der Landaristokratie gezwungen, ihr vom Vater, Onkel oder älteren Bruder gewährtes Taschengeld mit einer staatlichen Besoldung von 1.200 Talern jährlich aufzubessern. Daher ist ihr Interesse im allgemeinen mehr mit den Klassen- und Parteiinteressen der Landaristokratie verknüpft als mit den Kasteninteressen der Bürokratie. Diese Leute waren die Hauptstützen des soeben gestürzten Kabinetts. Sie sahen in einer zentralen Regierung viel mehr das Werkzeug ihrer eigenen sozialen Interessen, als daß sie sich als deren Werkzeug betrachtet hätten. Gegenwärtig widersetzen sie sich dem neuen Kabinett; dieses hat es nicht gewagt, sie abzusetzen, teils weil solch ein radikales Verfahren alle revolutionären Neigungen aufpeitschen und mit der Routine der preußischen Verwaltung in Widerspruch geraten würde, teils weil man in gewissem Grade auf die Tätigkeit der Landräte angewiesen ist, um die Landbevölkerung zu knebeln und somit ein Gegengewicht gegen den Liberalismus der Städte zu bilden. Der einzige bisher abgesetzte Landrat ist Graf von Krassow in Pommern, der sich in seinem Rundschreiben an die Urwähler den Spaß erlaubte, das Kabinett zu beleidigen.

Seit 1852 ist keine neue Volkszählung vorgenommen worden; aber die letztere genügt durchaus, um einen Begriff vom zahlenmäßigen Verhältnis der Landbevölkerung zur Stadtbevölkerung zu vermitteln. Von siebzehn Millionen Einwohnern waren zwölf Millionen über das Land verstreut, während fünf Millionen in Städten zusammenwohnten, von denen ein großer <643> Teil nur Landstädte sind. Von den 984 Städten des Königreiches konnten sich nur die 12 wichtigsten einer Gesamtbevölkerung von 1.000.000 rühmen, wahrend mehr als 500 weniger als 2.500 Einwohner hatten. In der Provinz Preußen beträgt die Industriebevölkerung 11 Prozent, in Pommern 15 Prozent, in Posen 18 Prozent, in Schlesien 23 Prozent, in Westphalen 26 Prozent, in Sachsen 28 Prozent, in der Rheinprovinz 25 Prozent und in Brandenburg 37 Prozent. Allerdings ist fast die gesamte Industriebevölkerung Brandenburgs in Berlin konzentriert. 60 Prozent der gesamten Bevölkerung des Königreiches gehören ausschließlich zur Landwirtschaft; im Durchschnitt kommt ein Adliger auf 263 Personen.