Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 617-620.
Aus dem Englischen.
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Berlin, 19. Oktober 1858Am 21. dieses Monats sollen die Kammern zu einer gemeinsamen Sitzung zusammentreten, auf der der Prinz sie auffordern wird, "die Notwendigkeit der Regentschaft anzuerkennen", eine Forderung, der selbstredend sofort entsprochen werden wird, und höchst untertänig obendrein. Wenn auch die formale Existenz der Verfassung auf den 31. Januar 1850 zurückgeht, so hat man doch allgemein das Gefühl, daß ihre wirkliche Existenz als wirksames Instrument gegen die königliche Prärogative vom 21. Oktober 1858 an zu datieren ist. Unterdessen sind, um jede unnütze Begeisterung zu dämpfen, Zeitungskonfiskationen an der Tagesordnung - ein wahrer Jammer, bedenkt man die zahme Natur der Missetäter. Die erste Stelle unter diesen Zeitungen nehmen die "Volks-Zeitung" und die "National-Zeitung" ein; letztere hat es vermöge einer respektablen Mittelmäßigkeit, feiger Zugeständnisse und zügelloser Entfaltung preußischer Lokalbegeisterung fertiggebracht, den konterrevolutionären Sturm zu überstehen und die dürftigen Überreste einer Bewegung, deren gefährliche Überspanntheiten zu teilen sie seinerzeit zu klug war, in klingende Münze zu verwandeln. Nach der Sündflut erhielten die organischen Wesen, die die Erde bevölkern, eine schicklichere und bescheidenere Gestalt als ihre vorsündflutlichen Vorfahren. Das gleiche Gesetz macht sich im Prozeß der Bildung der Gesellschaft geltend. Und doch drängt sich uns unwillkürlich die Schlußfolgerung auf, daß die deutsche Revolution wirklich sehr zwerghaft gewesen sein muß, wenn die Liliputaner der Berliner Presse, in denen sie schließlich ihren endgültigen Ausdruck gefunden hat, als ihre legitimen Repräsentanten anzusehen sind. Wie dem nun auch sein mag - sind diese Redakteure auch keine Helden, ja nicht einmal einfache Kämpfer, so sind sie auf alle Fälle schlaue Rechner. Sie fühlen, daß etwas in Bewegung gerät und daß das Regime, das den not- <618> wendigen Hintergrund für ihren Scheinliberalismus bildete und ihnen den Gegenwert für ihre Waren zahlte, rasch zusammenbricht. Um daher ihre Kunden zu überzeugen, daß sie treue Wächter sind, wagen sie es, leise zu knurren und wehleidig zu winseln. Sie beißen ganz gewiß nicht, sie bellen nicht einmal. Ihre Kühnheit besteht gegenwärtig darin, den Prinzen in den Himmel zu heben. Sie fordern ihn sogar auf, wie das kürzlich die "National-Zeitung" tat, über den Staatsschatz nach Belieben zu verfügen; aber, und das ist das Komische an der Sache, all ihre Komplimente über seine noch unvollbrachten Taten verwandeln sich in ebenso viele kritische Bemerkungen über die vergangenen Taten des Kabinetts Manteuffel. Sie verärgern den Prinzen mit ihrer vorwärtsblickenden Leichtgläubigkeit und kränken das Ministerium mit ihrer rückwärtsblickenden Zweifelsucht. Um sie aber richtig einzuschätzen, müßte man sie im Original lesen. Ihr albernes, fades, endloses Gewäsch kann in keiner anderen Sprache wiedergegeben werden, nicht einmal in dem Französisch des Dezember-Staatsstreichs, das wenigstens nach seinem eigenen spezifischen odeur de mauvais lieu <Duft von übler Herkunft> riecht. Man könnte annehmen, sie sprächen nur in Andeutungen und spielten mit der Polizei Verstecken, aber das wäre ein großer Irrtum. In Wirklichkeit sagen sie alles, was sie zu sagen haben, vereinen aber die homöopathische mit der allopathischen Methode in einer höchst geschickten und einträglichen Weise; sie verabreichen ein winziges Quentchen Gift in einem Meer von neutraler Flüssigkeit. Andererseits scheint den Ministern die geologische Tatsache bekannt zu sein, daß die stetige Einwirkung des Wassers auch den stolzesten Felsen fortspült und zu Geröll zerbröckelt. Sie beirrt nicht sosehr das Stammeln dieser vorsichtigen Neunmalklugen wie der allgemeine Zustand der öffentlichen Meinung, auf dem es fußt. In ihrer kurzsichtigen bürokratischen Art schlagen sie daher den Esel, um den Sack zu treffen - ich meine den Sack der öffentlichen Meinung. Die wiederholten Zeitungskonfiskationen, mit denen das neue Regime eingeleitet wird, seien, so sagen die Royalisten, die richtige Antwort auf die lärmenden Hoffnungen, die man auf den Prinzen setzt. Nein, sagen die offiziellen Liberalen, das Regime des Prinzen hat noch nicht begonnen, und seine tiefe Achtung vor verfassungsmäßiger Gesetzlichkeit verpflichtet ihn bis zu seiner Anerkennung und Vereidigung durch die Kammern, den Ministern gemäß der Charte zu gestatten, nach ihrer eigenen Verantwortung zu handeln. Nun ist "ministerielle Verantwortung" in allen unseren monarchischen Verfassungen, ganz gleich, ob sie nach englischem oder französischem Muster zugeschnitten sind, eine sehr geheimnisvolle Sache. In <619> England, wo sie offenbar in ihrer lebendigsten und greifbarsten Form besteht, bedeutet sie, daß bei bestimmten feierlichen Anlässen die Unverantwortlichkeit von einem Whig auf einen Tory oder von einem Tory auf einen Whig übertragen wird. Ministerielle Verantwortlichkeit bedeutet dort, daß die Stellenjägerei zur Hauptbeschäftigung der parlamentarischen Parteien wird. Wer im Amt ist, ist während dieser Zeit unverantwortlich, weil er der Vertreter einer gesetzgebenden Mehrheit ist, die sich, um ihm zu helfen, ihrem Fraktionsführer unterordnet. In Preußen sind die eifrigsten Bestrebungen des bürgerlichen Ehrgeizes darauf gerichtet, die Ministerposten in Preise zu verwandeln, die in parlamentarischen Turnieren zu gewinnen sind. Bisher jedoch war die ministerielle Verantwortlichkeit in Preußen in jeder Hinsicht ein Mythos. Der Artikel 44 der Charte lautet:
"Die Minister des Königs sind verantwortlich. Alle Regierungsakte des Königs bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung eines Ministers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt."
Bezüglich dieser Verantwortlichkeit ist indes kein Gesetz erlassen worden. In dem Artikel selbst wird nicht gesagt, wem die Minister verantwortlich sind. In der Praxis erklärten die Minister jedesmal, wenn die Kammern bis zur Drohung mit einem Mißtrauensvotum gingen, rundweg, daß ihnen das durchaus freistünde; verantwortlich seien die Minister in der Tat, aber nur ihrem königlichen Herrn. Die Frage der ministeriellen Verantwortlichkeit hat in Preußen, ebenso wie im Frankreich Louis-Philippes, außergewöhnliches Gewicht, weil sie in Wirklichkeit die Verantwortlichkeit der Bürokratie bedeutet. Die Minister sind die Häupter dieser allmächtigen, sich in alles einmischenden parasitären Körperschaft, und nach ihnen allein haben sich gemäß Artikel 106 der Verfassung die subalternen Verwaltungsbeamten zu richten, ohne daß sie sich anmaßen dürfen, die Rechtmäßigkeit der Verfügungen zu prüfen oder eine Verantwortung für die Durchführung zu übernehmen. Auf diese Weise ist die Macht der Bürokratie und durch die Bürokratie die Macht der Vollzugsgewalt erhalten geblieben, während die verfassungsmäßigen "Rechte der Preußen" in tote Buchstaben verwandelt worden sind.
Die bevorstehenden Wahlen sind der Hebel, den jetzt alle Parteien zu benutzen beabsichtigen, aber gerade hinsichtlich der Wahlangelegenheiten ist es der gegenwärtigen oktroyierten Verfassung gelungen, alle Spuren ihres revolutionären Ursprungs zu tilgen. Zwar hat man, um kleine Beamtengehälter durch die Zugabe einer parlamentarischen Einkommensquelle aufzubessern, das sehr plebejische Gesetz beibehalten, das die Bezahlung der <620> Volksvertreter vorschreibt. Das gleiche gilt für die Wählbarkeit jedes Preußen, der das 25. Lebensjahr vollendet hat. Wahlrecht und Wahlverfahren wurden jedoch so eingerichtet, daß nicht nur die große Masse des Volkes ausgeschlossen, sondern auch der privilegierte Rest der zügellosesten Einmischung seitens der Bürokratie unterworfen ist. Die Wahlen gehen in zwei Stufen vor sich. Erst werden die Wahlmänner gewählt, und dann wählen diese die Abgeordneten. Von der Urwahl sind nicht nur alle diejenigen ausgeschlossen, die keine direkten Steuern zahlen, sondern die gesamte Urwählerschaft ist ihrerseits in drei Gruppen eingeteilt, bestehend aus den hohen, den mittleren und den kleinen Steuerzahlern; wie die Tribus des Königs Servius Tullius wählen diese drei Gruppen jede die gleiche Anzahl von Vertretern. Und als ob dieser komplizierte Filtrierprozeß noch nicht genügte, hat die Bürokratie darüber hinaus das Recht, die Wahlbezirke nach Belieben zu teilen, zusammenzulegen, zu ändern, abzutrennen und neu zu vereinigen. Ist zum Beispiel irgendeine Stadt liberaler Sympathien verdächtigt, so kann sie durch reaktionäre ländliche Stimmen erdrückt werden; durch einfache Verordnung verschmilzt der Minister die liberale Stadt mit dem reaktionären Landgebiet zum gleichen Wahlbezirk. Das sind die Ketten, welche die Wahlbewegung fesseln und die nur ausnahmsweise, in großen Städten, gesprengt werden können.