Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 590-593.

Karl Marx

[Die Frage der Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland]

Geschrieben am 1. Oktober 1858.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5458 vom 19. Oktober 1858, Leitartikel]

<590> Die Frage der Leibeigenschaft scheint gegenwärtig in Rußland eine ernsthafte Wendung zu nehmen; das ist am besten an dem außerordentlichen Schritt zu erkennen, zu dem der Zar Alexander II. getrieben worden ist, indem er eine Art allgemeiner Vertretung des Adels nach St. Petersburg berufen hat, um die Abschaffung der Leibeigenschaft zu beraten. Die Tätigkeit des Hauptkomitees für die Bauernfrage war so gut wie erfolglos gewesen und hatte nur zu heftigen Streitigkeiten unter seinen eigenen Mitgliedern geführt, Streitigkeiten, in denen Großfürst Konstantin, der Vorsitzende dieses Komitees, mit der altrussischen Partei gegen den Zaren aufgetreten war. Die meisten Gouvemementskomitees des Adels scheinen ihrerseits diese Gelegenheit der offiziellen Beratung über vorbereitende Maßnahmen zur Befreiung der Bauern einzig und allein dazu benutzt zu haben, diese Maßnahme zu vereiteln. Sicherlich gibt es unter dem russischen Adel eine Partei, die für die Aufhebung der Leibeigenschaft eintritt, doch sie ist nicht nur zahlenmäßig in der Minderheit, sondern auch in den wichtigsten Fragen verschiedener Meinung. Sich gegen die Knechtschaft erklären, aber die Befreiung nur unter solchen Bedingungen zulassen, durch die sie zu einem bloßen Betrug herabgewürdigt wird, diese Haltung scheint selbst bei dem liberalen russischen Adel Mode zu sein. In Wirklichkeit ist dieser offene Widerstand gegen die Emanzipation bzw. ihre lauwarme Unterstützung für die alten Anhänger der Leibeigenschaft nur zu natürlich. Fortfall der Einkünfte, Verminderung des Wertes ihres Grundeigentums und ernste Einschränkung der politischen Macht, an deren Ausübung sie sich gewöhnt haben, all die vielen kleinen Selbstherrscher, die sich um den großen Autokraten als Mittelpunkt drehen - das sind die unmittelbaren Folgen, die sie voraussehen; und man kann schwerlich von ihnen <591> erwarten, daß sie sehr begeistert davon sind. Als Folge der herrschenden Ungewißheit ob eine Entwertung der Güter bevorsteht, ist es in einigen Gouvernements heute schon unmöglich geworden, Anleihen gegen Sicherheit von Grundeigentum aufzunehmen. Ein großer Teil des Grundeigentums in Rußland ist dem Staat verpfändet, und die Grundbesitzer fragen sich, wie sie ihre Verpflichtungen gegenüber der Regierung erfüllen sollen. Viele haben auf ihren Gütern Privatschulden lasten. Eine große Anzahl lebt von den Abgaben ihrer Leibeigenen, die sich in den Städten als Kaufleute, Gewerbetreibende, Handwerker und Arbeiter niedergelassen haben. Diese Einnahmen würden natürlich mit der Aufhebung der Leibeigenschaft verschwinden. Weiter gibt es kleine Bojaren, die eine sehr begrenzte Zahl von Leibeigenen besitzen, aber im Verhältnis dazu eine noch kleinere Landfläche. Wenn jeder Leibeigene, wie es im Falle der Befreiung sein muß, ein Fleckchen Land bekommt, werden die Besitzer dieser Leibeigenen an den Bettelstab gebracht. Vom Standpunkt der Großgrundbesitzer aus wird die Bauernbefreiung fast wie ein Verzicht auf ihre politische Macht betrachtet. Wenn die Leibeigenen erst einmal befreit sind, welch wirkliche Barriere bleibt dann den Großgrundbesitzern gegen die Willkür des Zaren? Und weiter, was wird mit den von Rußland so dringend benötigten Steuern, deren Höhe von dem wirklichen Wert des Bodens abhängt? Was wird mit den Kronbauern? Alle diese Fragen werden erörtert und geben viele starke Positionen ab, hinter denen die Anhänger der Leiheigenschaft ihre Zelte aufschlagen. Diese Geschichte ist so alt wie die Geschichte der Völker. Tatsächlich kann man die unterdrückte Klasse nicht befreien, ohne der Klasse, die von ihrer Unterdrückung lebt, Schaden zu tun und ohne gleichzeitig den ganzen Überbau des Staates, der auf solch einer elenden sozialen Basis ruht, durcheinanderzubringen. Wenn die Zeit für solch eine Veränderung gekommen ist, zeigt sich zunächst große Begeisterung, freudig werden Beglückwünschungen zum gegenseitigen guten Willen gewechselt, mit feierlichen Worten über die allgemeine Liebe zum Fortschritt und so weiter. Aber sowie an die Stelle der Worte Taten treten sollen, weichen manche zurück, in Furcht vor den Geistern, die sie riefen, während die meisten ihre Entschlossenheit erklären, für ihre realen oder imaginären Interessen zu kämpfen. Nur unter dem Druck der Revolution oder im Ergebnis eines Krieges sind die legitimen Regierungen Europas imstande gewesen, die Leibeigenschaft aufzuheben. Die preußische Regierung wagte erst dann an die Befreiung der Bauern zu denken, als sie unter dem eisernen Joch Napoleons schmachtete; und selbst dann löste sie die Frage so, daß man sich 1848 noch einmal damit beschäftigen mußte; und sie bleibt heute noch, wenn auch in veränderter Form, eine Frage, die noch in einer künftigen Revolution zu <592> lösen sein wird. In Österreich war es weder die legitime Regierung noch der gute Wille der herrschenden Klassen, wie sie diese Frage lösten, sondern die Revolution von 1848 und der Aufstand der Ungarn. In Rußland versuchten Alexander I. und Nikolaus, nicht etwa aus irgendwelchen Gründen der Humanität, sondern aus Gründen der Staatsraison, auf friedlichem Wege eine Änderung der Lage der Volksmassen zu bewirken, doch beide scheiterten. Es muß allerdings hinzugefügt werden, daß Nikolaus nach der Revolution von 1848/49 seine eigenen früheren Befreiungspläne aufgab und ein eifriger Anhänger des Konservatismus wurde. Was Alexander II. betrifft, so war es wohl kaum eine Frage der Wahl, ob er die schlafenden Elemente wecken sollte oder nicht. Das ihm von seinem Vater hinterlassene Erbe des Krieges forderte von den russischen Volksmassen unerhörte Opfer, über deren Ausmaß man an Hand einer einfachen Tatsache urteilen kann: in dem Zeitraum von 1853 bis 1856 stieg die im Umlauf befindliche Summe des ungedeckten Papiergelds von dreihundertdreiunddreißig Millionen auf ca. siebenhundert Millionen Rubel, wobei diese ganze Zunahme des Papiergeldes tatsächlich bloß antizipierte Steuern darstellte. Alexander II. folgte nur dem Beispiel Alexander I., der während des Krieges gegen Napoleon die Bauern mit Versprechungen auf Befreiung vertröstete. Außerdem endete der verflossene Krieg in einer schmachvollen Niederlage, zumindest in den Augen der Leibeigenen, von denen man nicht erwarten kann, daß sie sich in den Geheimnissen der Diplomatie auskennen. Und seine neue Herrschaft mit offensichtlichen Niederlagen und Demütigungen einleiten und dann die den Bauern während der Kriege gemachten Versprechungen brechen - einen solchen Schritt zu wagen war sogar für den Zaren zu gefährlich.

Es ist zu bezweifeln, ob selbst Nikolaus, mit oder ohne Orientalischen Krieg, in der Lage gewesen wäre, diese Frage noch länger aufzuschieben. Alexander II. jedenfalls konnte das nicht, aber er nahm an - und die Vermutung war nicht ganz unbegründet -, daß die Adligen, die alle gewohnt waren, sich unterzuordnen, vor seinen Befehlen nicht zurückweichen und es sogar als Ehre für sich betrachten würden, wenn man ihnen mittels verschiedener Komitees gestattet, in diesem großen Drama eine Rolle zu spielen. Diese Berechnungen haben sich jedoch als falsch erwiesen. Andererseits begannen die Bauern, die übertriebene Vorstellungen davon hatten, was der Zar für sie zu tun gedenke, die Geduld zu verlieren, als sie das langsame Vorgehen ihrer Herren erkannten. Die in einigen Gouvernements ausgebrochenen Feuersbrünste sind Alarmsignale, die unmißverständlich sind. Es ist weiter bekannt, daß in Großrußland, ebenso wie in den Gebieten, die früher zu Polen gehörten, Unruhen ausgebrochen sind, die von schrecklichen Szenen <593> begleitet waren, was den Adel veranlaßte, vom Land in die Städte abzuwandern, wo er unter dem Schutze von Mauern und Garnisonen seinen erzürnten Sklaven hohnlachen kann. Unter diesen Umständen hat es Alexander II. für richtig gehalten, so etwas wie eine Ständeversammlung einzuberufen. Was dann, wenn diese Versammlung zu einem Wendepunkt in der Geschichte Rußlands wird? Was dann, wenn die Adligen auf ihrer eigenen politischen Befreiung bestehen, als der Vorbedingung für jegliche Konzession, die sie dem Zaren in bezug auf die Befreiung ihrer Leibeigenen machen?