Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 579-583.

Karl Marx

Mazzinis neues Manifest

Aus dem Englischen. 


["New-York Daily Tribune" Nr. 5453 vom 13. Oktober 1858]

<579> London, 21. September 1858

Nachdem die genuesische "Dio e Popolo", die letzte auf italienischem Boden herausgegebene republikanische Zeitung, der unaufhörlichen Verfolgung durch die sardinische Regierung schließlich erlegen ist, bringt Mazzini, den nichts entmutigen kann, in London eine italienische Zeitung unter dem Titel "Pensiero ed Azione" heraus, die zweimal monatlich erscheinen soll.

Aus der letzten Nummer dieses Organs übersetzen wir Mazzinis neues Manifest. Wir betrachten es als ein historisches Dokument, das dem Leser die Möglichkeit gibt, sich selbst ein Urteil über die Lebenskraft und die Perspektiven des Teils der revolutionären Emigration zu bilden, der sich unter dem Banner der römischen Triumvirn gesammelt hat. Anstatt die großen sozialen Ursachen für das Scheitern der Revolution von 1848/49 eingehend zu erforschen und sich zu bemühen, die realen Verhältnisse zu analysieren, die unauffällig in den letzten zehn Jahren herangereift sind und in ihrer Gesamtheit den Boden für eine neue und machtvollere Bewegung vorbereitet haben, verfällt Mazzini, wie uns scheint, wieder in seine veralteten Grillen zurück und stellt sich ein imaginäres Problem, das natürlich nur zu einer trügerischen Lösung führen kann. Für ihn bleibt weiterhin die allumfassende Frage, warum die Emigranten in ihrer Gesamtheit mit ihren Versuchen, die Welt zu erneuern, gescheitert sind; noch immer beschäftigt er sich damit, Geheimmittel für die Heilung ihrer politischen Lähmung zu offerieren. Er sagt:

"Im Jahre 1852 erklärte ich in einem an die europäische Demokratie gerichteten Memorandum: was müßte heute die Losung, der Sammelruf der Partei sein? Die Antwort ist sehr einfach. Sie ist in dem einen Wort Aktion enthalten, aber geeinte, <580> europäische, unaufhörliche, konsequente, kühne Aktion. Ihr könnt die Freiheit nur erlangen, wenn ihr euch zum Freiheitsbewußtsein durchringt, und dieses Bewußtsein könnt ihr euch nur durch Aktion erkämpfen. Euer Schicksal liegt in euren eigenen Händen. Die Welt wartet auf euch. Die Initiative ist überall da, wo ein Volk im Begriff ist, sich zu erheben, wo es bereit ist, zu kämpfen und, wenn es sein muß, auch für die Rettung aller zu sterben, und auf seine Banner die Zeichen schreibt: Gott, Volk, Gerechtigkeit, Wahrheit, Tugend. Erhebt euch für alle, und alle werden euch folgen. Es ist notwendig, daß sich die ganze Partei läutert. Jeder möge die Lösung dort eifrig suchen, wo er glaubt, einen Hoffnungsstrahl erhascht zu haben. Doch möge er nicht nur seine eigene Sache verteidigen, möge er die große Armee der Zukunft nicht verlassen ... Wir sind nicht die Demokratie, wir sind nur ihre Avantgarde. Wir haben ihr nur den Weg zu bahnen. Alles, was wir brauchen, ist Einheit des Planes, Gemeinsamkeit der Anstrengungen ... Seit diesem Appell sind sechs Jahre verflossen, und die Frage bleibt unverändert. Die Kräfte der Partei sind zahlenmäßig gewachsen, aber die Einheit der Partei ist noch nicht erreicht. Einige kleine organisierte Gruppen beweisen durch ihre unerschöpfliche Lebenskraft und den Schrecken, mit dem sie das Herz des Feindes erfüllen, die Macht der Einheit; aber die große Masse der Partei ist noch immer unorganisiert, isoliert und infolgedessen inaktiv und ohnmächtig. Kleine Gruppen der Sache ergebener Menschen, welche die schmachvolle Inaktivität nicht ertragen können, kämpfen hier und da als tirailleurs <Plänkler> an allen Frontabschnitten, jeder auf eigene Faust, für seine eigene Heimat, ohne Verständnis für das gemeinsame Ziel; zu schwach, um an einem gegebenen Punkte zu siegen; sie erheben Protest und gehen in den Tod. Die Masse der Armee kann ihnen nicht zu Hilfe eilen, sie hat weder einen Plan, noch die Mittel, noch die Führer ... Es gab einen Augenblick, da das Bündnis der Regierungen auseinandergefallen war. Der Krimkrieg bot den unterdrückten Völkern eine günstige Gelegenheit, die sie blitzschnell hätten ergreifen müssen; aber da es ihnen an Organisation mangelte, ließen sie diese Möglichkeit vorübergehen. Wir haben gesehen, wie echte Revolutionäre die Befreiung ihrer Länder mit den vermessenen Plänen eines Mannes verbanden, dessen Eingreifen in nationale Angelegenheiten und dessen Appell zum Aufstand sicheren Untergang bedeutete. Wir haben gesehen, wie Polen, Sobieski und die historische Mission vergessend, die ihre Nation im christlichen Europa erfüllt hat, sich in die Dienste der Türkei begaben und dort die Rolle von Kosaken spielten. Da waren Völker wie die Rumänen, die die Vorstellung hatten, daß sie mit Hilfe der Diplomatie ihre Einheit erringen könnten, als ob jemals in der Weltgeschichte eine Nation anders entstanden ist als durch den Kampf ihrer Söhne. Andere, wie z.B. die Italiener, waren entschlossen, zu warten, bis Österreich in den Kampf einbezogen sein wird, als ob Österreich eine andere Position einnehmen würde, als die der bewaffneten Neutralität. Nur Griechenland stürzte sich in den Kampf; doch es erkannte nicht, daß, solange ein Bündnis der Regierungen besteht, keine griechische nationale Bewegung möglich ist, es sei denn, eine Revolution ereignet sich, die diese Kräfte zersplittert, und ein Bündnis des hellenischen Elements <581> mit dem slawo-rumänischen kommt zustande, um die Erhebung zu legitimieren. Der von mir beklagte Mangel an Organisation und Planung war niemals deutlicher sichtbar geworden. Daher die tödliche Entmutigung, die zuweilen unsere Reihen erfaßt ... Was kann ein einzelner, allein, isoliert, fast oder ganz ohne Mittel, zur Lösung eines Problems tun, das ganz Europa betrifft? Vereinigung allein kann es bezwingen ... 1848 erhoben wir uns an zehn Stellen im Namen all dessen, was groß und heilig ist. Freiheit, Solidarität, Volk, Zusammenschluß, Vaterland, Europa, alles gehörte uns. Späterhin ließen wir, betrogen, verzaubert - ich weiß nicht, durch welche erbärmliche und sträfliche Täuschung - es zu, daß die Bewegungen lokalen Charakter annahmen ... Wir, die wir Louis-Philippe gestürzt hatten, wiederholten die schändliche Redensart, die sein Regime resümiert: Chacun paur soi, chacun chez soi. <Jeder für sich, jeder bei sich (zu Hause)> Auf diese Weise kamen wir zu Fall. Haben wir aus dieser bitteren Erfahrung nichts gelernt? Haben wir bis jetzt noch nicht begriffen, daß unsere Kraft in der Vereinigung, und nur in der Vereinigung liegt?

Der Mensch besteht aus Denken und Handeln. Denken, das nicht in Taten zum Ausdruck kommt, ist nur der Schatten eines Menschen; Handeln, das nicht durch Denken gelenkt und sanktioniert wird, ist nur der galvanisierte Leichnam eines Menschen - ist Gestalt ohne Seele. Gott ist Gott, weil er die absolute Identität von Denken und Handeln ist. Der Mensch ist nur unter der Bedingung Mensch, daß er sich unaufhörlich so weit wie möglich diesem Ideal nähert ... Wir können nicht siegen, wenn wir unsere Partei in Denkende und Handelnde, in Menschen des Geistes und Menschen der Aktion spalten, wenn wir ich weiß nicht was für eine Art von unmoralischer und widersinniger Trennung zwischen Theorie und Praxis, zwischen individueller und kollektiver Pflicht, zwischen Schriftsteller und Verschwörer oder Kämpfer zulassen ... Wir alle predigen Zusammenschluß als das Losungswort der Epoche, deren Vorläufer wir sind; doch wie viele von uns vereinigen sich mit ihren Brüdern, um mit ihnen gemeinsam zu wirken? Wir alle haben auf unseren Lippen die Worte Toleranz, Liebe, Freiheit, und doch trennen wir uns von unseren Gefährten, wenn ihre Ansichten in dieser oder jener bestimmten Frage von unseren eigenen abweichen. Wir spenden jenen begeistert Beifall, die ihr Leben opfern, um uns den Weg zur Aktion zu bahnen; doch wir folgen nicht ihren Spuren. Wir haben etwas daran auszusetzen, wenn übereilte Versuche in kleinem Umfang unternommen werden; doch wir tun nichts, sie in großem und machtvollem Ausmaß zu verwirklichen. Wir alle bedauern das Fehlen materieller Mittel für die Partei; doch wie viele von uns steuern regelmäßig ihr Scherflein bei für die gemeinsame Kasse? Wir erklären unsere Mißerfolge mit der mächtigen Organisation des Feindes; aber wie wenige arbeiten daran, unsere Partei durch eine generelle einheitliche Organisation allmächtig zu machen, welche, die Gegenwart beherrschend, die Zukunft widerspiegeln würde? ... Gibt es denn kein Mittel, die Partei aus dem gegenwärtigen kläglichen, zerrütteten Zustand herauszuführen? Wir alle glauben, daß Denken heilig ist, daß seine Offenbarungen frei und unverletzlich sein <582> sollten, daß die soziale Organisation der Gesellschaft schlecht ist, wenn sie infolge äußerster materieller Ungleichheit den Arbeitsmann dazu verdammt, Teil einer Maschine zu sein und ihn des geistigen Lebens beraubt. Wir glauben, daß das Leben des einzelnen Menschen geheiligt ist. Wir glauben, daß die Vereinigung der Menschen ebenso geheiligt ist, daß sie der Kampfruf ist, der die besondere Mission unserer Epoche ausdrückt. Wir glauben, daß der Staat sich nicht gegen sie stemmen, sondern sie ermutigen sollte. Wir sehen mit Begeisterung einer Zukunft entgegen, in der die allgemeine Vereinigung der Produzenten die Beteiligung an die Stelle der Arbeitslöhne setzen wird. Wir glauben, daß die Arbeit eine heilige Sache ist, und halten jede Gesellschaft für schuldig, in der ein Mensch, der von seiner Arbeit leben will, es nicht kann. Wir glauben an die Nationalität, wir glauben an die Menschheit ... Unter Menschheit verstehen wir die Vereinigung freier und gleicher Nationen auf der zwiefachen Grundlage - Selbständigkeit ihrer inneren Entwicklung und Brüderlichkeit in der Regelung des internationalen Lebens und des allgemeinen Fortschritts. Damit die Nationen und die Menschheit, wie wir sie verstehen, existieren können, glauben wir, daß die Landkarte Europas erneuert werden muß; wir glauben, daß eine neue territoriale Aufteilung notwendig ist, die die durch den Wiener Vertrag willkürlich vorgenommene Aufteilung aufhebt und sich auf Verwandtschaft von Sprache, Tradition und Religion und auf den geographischen und politischen Verhältnissen jedes Landes begründet. Nun, denkt nicht, daß diese gemeinsamen Bekenntnisse für eine brüderliche Organisation ausreichen? Ich heiße euch nicht, sich einer einzigen Doktrin, einer einzigen Überzeugung unterzuordnen. Ich sage nur: laßt uns gemeinsam kämpfen gegen die Verneinung jeder Doktrin; laßt uns vereint einen zweiten Marathon-Sieg über das Prinzip der orientalischen Unbeweglichkeit erringen, die heute Europa erneut zu erobern droht. Alle Menschen, zu welcher republikanischen Fraktion sie auch gehören, wenn sie nur die von mir eben aufgeführten Gesinnungen gutheißen, sollten eine europäische Partei der Aktion bilden, in der Frankreich, Italien, Deutschland, die Schweiz, Polen, Griechenland, Ungarn, Rumänien und die anderen unterdrückten Nationen ebenso viele Sektionen bilden müßten; jede nationale Sektion sollte sich selbständig, mit einem eigenen Fonds konstituieren; ein Zentralkomitee mit einem Zentralfonds sollte von den Delegierten der nationalen Sektionen gebildet werden usw.

Ist die Einheit der Partei einmal errungen, so löst sich das europäische Problem in die Frage auf: wo beginnen? In Revolutionen wie im Krieg hängt der Sieg von der schnellen Konzentrierung der größtmöglichen Zahl von Streitkräften an einem gegebenen Punkte ab. Erstrebt die Partei eine siegreiche Revolution, so muß sie auf der Landkarte Europas diesen Punkt auswählen, wo es am leichtesten und günstigsten ist, die Initiative zu ergreifen, und alle Kräfte, über die jede Sektion verfügen mag, dort einsetzen. Rom und Paris sind die beiden strategischen Punkte, wo die gemeinsame Aktion beginnen muß. Frankreich, das durch seine machtvolle Einheit, durch die Erinnerung an seine große Revolution und an die napoleonischen Armeen, durch den Einfluß, den jede Bewegung in Paris auf den Geist Europas ausübt, ist noch immer das Land, dessen Initiative mit der größten Gewißheit alle anderen unterdrückten Völker <583> entflammen würde, obwohl jede wahrhaft revolutionäre Erhebung von seiner Seite unfehlbar alle Kräfte der Regierungen Europas auf den Plan rufen würde. Abgesehen von dieser einen Ausnahme ist heute Italien das Land, das deutlich alle Merkmale für eine Initiative in sich vereint. Über die Gemeinsamkeit der Ansichten, die es vorwärtsdrängen, braucht nichts gesagt zu werden; schon seit zehn Jahren hat es dort, gänzlich ungewöhnlich für Europa, eine Reihe hervorragender Protestaktionen gegeben. Die Sache der italienischen Nation ist identisch mit der Sache aller Nationen, die durch die in Wien vorgenommene Aufteilung zertreten oder zerstückelt worden sind. Der italienische Aufstand würde, wenn er seinen Schlag gegen Österreich richtet, sofort den slawischen und rumänischen Kräften, die im Herzen des Reiches ihr Joch abschütteln wollen, die Gelegenheit zur Aktion bieten. Die italienischen Truppen, die über alle jene Teile des Reiches verstreut sind, wo die größte Unzufriedenheit herrscht, würden diese Bewegungen unterstützen. Zwanzigtausend Ungarn, als Soldaten der österreichischen Armee in Italien, würden sich um das Banner unseres Aufstandes scharen. Darum ist es unmöglich für die italienische Bewegung, daß sie nur auf Italien beschränkt bleibt. Die geographische Lage Italiens und eine Bevölkerung von fünfundzwanzig Millionen würden der Aufstandsbewegung die genügende Dauer sichern, um es den anderen Nationen zu ermöglichen, davon zu profitieren. Für Österreich und Frankreich, Frankreich und England gibt es in Italien keine solche übereinstimmenden Interessen, die allein eine Einheit ihrer Politik herstellen könnten. Der Aufstand in Italien, der ohne den Sturz des Papsttums nicht möglich ist, würde das Problem der Gewissensfreiheit in Europa lösen und die Sympathie all derer finden, denen diese Freiheit teuer ist."