Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 527-532.
Aus dem Englischen.
["New-York Daily Tribune" Nr. 5393 vom 4. August 1858]
<527> London, 23. Juli 1858
Der große Bulwer-Skandal, von dem die Londoner "Times" glaubte, er sei durch einen freundschaftlichen Familienvergleich "glücklich" vertuscht worden, ist bei weitem noch nicht verstummt. Freilich, trotz des großen Parteiinteresses, das im Spiele war, tat die Presse der Hauptstadt bis auf einige unbedeutende Ausnahmen alles, was in ihrer Macht stand, um den Fall durch eine Verschwörung des Schweigens zu vertuschen, denn Sir Edward Bulwer ist einer der Führer der literarischen Koterie, die despotischer, als das selbst Parteibeziehungen tun können, über die Häupter der Londoner Journalisten herrscht, und die Herren von der Literatur haben im allgemeinen nicht den notwendigen Mut, dem Zorn der Koterie öffentlich zu trotzen. Die "Morning Post" informierte als erste die Öffentlichkeit davon, daß Lady Bulwers Freunde beharrlich die Absicht verfolgen, den Fall gerichtlich untersuchen zu lassen; die Londoner "Times" druckte die kurze Notiz der "Morning Post" ab, und sogar der "Advertiser", der gewiß keine literarische Position aufs Spiel zu setzen hat, wagte sich nicht über einige magere Auszüge aus der "Somerset Gazette" hinaus. Selbst Palmerstons Einfluß erwies sich für den Augenblick als nutzlos, er konnte seinen literarischen Vasallen nichts abnötigen; und als der seichte Entschuldigungsbrief von Bulwers Sohn erschien, erklärten all diese öffentlichen Wächter der Freiheit der Persönlichkeit ihre höchste Befriedigung und mißbilligten jede weitere unzarte Einmischung in diese "schmerzliche Angelegenheit". Natürlich hat die Tory-Presse ihre ganze sittliche Entrüstung schon längst wegen Lord Clanricarde aufgebraucht, und die radikale Presse, die ihre Anregungen mehr oder weniger von der Manchesterschule erhält, vermeidet ängstlich, der gegenwärtigen Regierung irgendwelche Unannehmlichkeiten zu bereiten. Doch neben der <528> respektablen oder pseudorespektablen Presse der Metropole gibt es eine unrespektable Presse, die völlig beherrscht wird von ihren politischen Schutzherren, welche, ohne literarische Stellung, die ihnen Einhalt geböte, jederzeit bereit sind, aus dem Vorrecht der Presse auf Redefreiheit Geld herauszuschlagen, und die begierig jede Gelegenheit nutzen, um in den Augen der Öffentlichkeit als die höchsten Vertreter der Mannhaftigkeit zu erscheinen. Andererseits wird man, da die moralischen Instinkte der Masse des Volkes einmal erwacht sind, nicht weiter zu manövrieren brauchen. Nachdem die öffentliche Meinung einmal in einen Zustand der sittlichen Erregung gebracht worden ist, kann selbst die Londoner "Times" die Maske der Zurückhaltung abwerfen und, natürlich blutenden Herzens, der Derby-Regierung einen Schlag versetzen, indem sie das Urteil der "öffentlichen Meinung" sogar über solch einen literarischen Häuptling wie Sir Edward Bulwer-Lytton fällt.
Die Dinge nehmen jetzt genau diese Wendung. Daß Lord Palmerston der geheime Drahtzieher des Schauspiels ist, wie wir von Anfang an angedeutet haben, ist jetzt un secret qui court les rues <ein Geheimnis, das die Straßen durcheilt>, wie die Franzosen sagen.
"On dit <Man sagt>", heißt es in einer Londoner Wochenzeitung, "daß sich Lady Palmerston in dieser Affaire als die beste Freundin Lady Bulwer-Lyttons erwiesen habe. Wir erinnern uns alle, wie die Tories für Herrn Norton Partei ergriffen, als Lord Melbourne wegen der Gattin dieses Herrn Unannehmlichkeiten hatte. Wie du mir, so ich dir - das ist faires Spiel. Doch wenn wir nachdenken. ist es für die heutige Zeit ziemlich traurig, einen Staatssekretär anzutreffen, der den Einfluß seiner Stellung dazu benutzt, um Handlungen der Unterdrückung zu begehen, oder zu sehen, wie die Gattin eines Ministers die Gattin eines anderen Ministers gegen eine Regierung ausspielt."
Es kommt häufig vor, daß die Wahrheit nur über die krummen Wege der politischen Intrige in irgendeinen Winkel der britischen Presse geschmuggelt wird. Der anscheinend edle Schauder vor einem wirklichen Frevel ist schließlich nur eine berechnete Grimasse; und an die öffentliche Gerechtigkeit wird nur appelliert, um persönliche Bosheit zu nähren. Wenn es nach den tapferen Rittern des Tintenfasses gehen würde, so hätte Lady Bulwer für immer in einer Irrenanstalt in London bleiben können; man hätte sich ihrer geräuschloser als in St. Petersburg oder Wien entledigen können; die Gepflogenheiten der literarischen Etikette hätten ihr jegliche Mittel versagt, wieder zu ihrem Rechte zu kommen, wäre nicht der glückliche Umstand gewesen, daß Palmerstons scharfes Auge sie als die scharfe Kante des Keils auserwählte, mit dem vielleicht die Tory-Regierung zu spalten ist.
<529> Eine kurze Analyse des von Bulwers Sohn an die Londoner Zeitungen gerichteten Briefes wird genügen, um den wahren Sachverhalt des Falles deutlich zu machen. Herr Robert Bulwer-Lytton beginnt mit der Erklärung, man müsse seiner
"schlichten Aussage sogleich Glauben schenken", weil er "der Sohn Lady Bulwer-Lyttons ist, mit dem größten Recht, in ihrem Interesse zu sprechen, und offensichtlich mit den besten Mitteln der Information".
Nun, dieser sehr zärtliche Sohn hat sich weder um seine Mutter gekümmert noch mit ihr korrespondiert; er hat sie fast siebzehn Jahre nicht gesehen, bis er sie bei der Wahlversammlung in Hertford anläßlich der Wiederwahl seines Vaters traf. Als Lady Bulwer die Wahlversammlung verließ und den Bürgermeister von Hertford aufsuchte, um ihn um die Benutzung des Rathauses als Hörsaal zu bitten, sandte Herr Robert Bulwer-Lytton einen Arzt in des Bürgermeisters Haus mit dem Auftrag, den mütterlichen Geisteszustand zu untersuchen. Als nachher in London seine Mutter im Hause des Herrn Hale Thompson in der Clarges Street entführt wurde und ihre Cousine, Fräulein Ryves, auf die Straße rannte und den draußen wartenden Herrn Lytton flehentlich bat, sich einzumischen und Beistand zu leisten, damit seine Mutter nicht nach Brentford fortgeschafft werde, lehnte es Herr Lytton kühl ab, mit der Sache irgend etwas zu tun zu haben. Nachdem er zuerst als einer der Hauptakteure in der von seinem Vater angezettelten Verschwörung aufgetreten ist, wechselt er nun die Seiten und gibt sich als der natürliche Anwalt seiner Mutter aus. Als zweiten Punkt macht Herr Lytton geltend, seine Mutter "sei niemals auch nur für einen Augenblick in eine Irrenanstalt gebracht worden", sondern im Gegenteil - in das "Privathaus" eines Wundarztes, des Herrn Robert Gardiner Hill. Dies ist nichts weiter als eine faule Ausrede. Da das von Herrn Hill geleitete "Wyke House" gesetzlich nicht in die Kategorie der "Anstalten" gehört, sondern in die der "Lizenzierten Häuser der Hauptstadt", ist es dem Buchstaben nach richtig, daß Lady Bulwer nicht in eine "Irrenanstalt", sondern in ein Irrenhaus geworfen wurde.
Wundarzt Hill, der auf eigene Rechnung und Gefahr mit "Irrsinn" Handel treibt, hat ebenfalls mit einer Entschuldigung aufgewartet, in der er erklärt, daß Lady Bulwer niemals eingesperrt gewesen wäre, sondern im Gegenteil das Vergnügen gehabt hätte, über einen Brougham <einspännigen, zweisitzigen, geschlossenen Wagen (nach Lord Brougham benannt)> zu verfügen, mit dem sie während ihres erzwungenen Aufenthaltes bei ihm fast jeden Abend nach <530> Richmond, Acton, Hanwell oder Isleworth gefahren wäre. Herr Hill vergißt der Öffentlichkeit mitzuteilen, daß die von ihm praktizierte "verbesserte Behandlung der Irren" genau der offiziellen Empfehlung der Kommissäre für Geisteskrankheiten entspricht. Die freundlichen Grimassen, die lächelnde Nachsicht, das kindische Beschwatzen, das ölige Geplapper, das vielwissende Blinzeln und die affektierte Heiterkeit einer Bande gedrillter Wärter können eine sensible Frau ebenso verrückt machen, wie Duschen, Zwangsjacken, brutale Aufseher und Dunkelkammern. Wie dem auch sei, die Proteste des Herrn Wundarztes Hill und des Herrn Lytton laufen einfach darauf hinaus, daß Lady Bulwer tatsächlich wie eine Irre behandelt wurde, nur nach den Regeln des neuen anstatt des alten Systems.
"Ich setzte mich in ständige Verbindung mit meiner Mutter", sagt Herr Lytton in seinem Schreiben "... und ich führte die Anweisungen meines Vaters durch, der mich in jeden Plan restlos einweihte ... und mir einschärfte, den Rat Lord Shaftesburys in allem zu befolgen, was für Lady Lytton am besten und günstigsten sei."
Lord Shaftesbury ist bekanntlich der Oberbefehlshaber jener Kriegerschar, deren Hauptquartier sich in Exeter Hall befindet. Die Gerüche einer schmutzigen Sache durch den Geruch ihrer Heiligkeit zu bekämpfen - das könnte man als einen coup de théâtre ansehen, würdig des Erfindungsgenies eines Romanschriftstellers. Mehr als einmal hat man Lord Shaftesbury in dieser Hinsicht beschäftigt, so z.B. in der China-Angelegenheit und im Cambridge-House-Komplott. Doch Herr Lytton zieht die Öffentlichkeit nur halb ins Vertrauen, sonst hätte er offen erklärt, daß unmittelbar nach der Entführung seiner Mutter ein gebieterisches Schreiben Lady Palmerstons die Pläne Sir Edwards über den Haufen warf und ihn veranlaßte, "den Rat Lord Shaftesburys zu befolgen", der durch ein ausgesprochenes Mißgeschick zufällig Palmerstons Schwiegersohn und gleichzeitig der Vorsitzende von den Kommissären für Geisteskrankheiten ist. Herr Lytton fährt in seinen absichtlichen Täuschungsversuchen fort und erklärt:
"Seit dem Augenblick, als sich mein Vater gezwungen fühlte, jene Maßnahmen zu befürworten, die zum Gegenstand so vieler Entstellungen gemacht worden sind, war er darum besorgt, die Meinung der erfahrensten und fähigsten Ärzte zu erhalten, damit meine Mutter der Beschränkung nicht einen Augenblick länger ausgesetzt werden sollte, als unbedingt gerechtfertigt war. Solcher Art war sein Auftrag an mich."
Aus der ausweichenden Formulierung dieser geflissentlich linkischen Stelle geht also hervor, daß Sir Edward Bulwer maßgeblichen ärztlichen Rat für notwendig hielt, nicht um seine Frau als Irre abzusondern, sondern um <531> sie als mentis compos <des Verstandes mächtig> freizulassen. In Wirklichkeit waren die Ärzte, mit deren Zustimmung Lady Bulwer entführt wurde, alles andere als "erfahrenste und fähigste Ärzte". Die von Sir Edward beschäftigten Subjekte waren ein gewisser Herr Ross, ein Stadtapotheker, den anscheinend seine Lizenz für den Handel mit Drogen plötzlich in eine psychologische Leuchte verwandelt hat, und ein gewisser Herr Hale Thompson, der früher mit dem Krankenhaus Westminster zu tun hatte, aber in der wissenschaftlichen Welt ein völlig Unbekannter ist. Erst nachdem ein sanfter Druck von außen eingesetzt hatte und Sir Edward voller Unruhe fühlte, daß er zurückweichen muß, wandte er sich an Leute von medizinischem Ruf. Ihre Atteste wurden von seinem Sohn veröffentlicht - doch was beweisen sie schon? Dr. Forbes Winslow, der Herausgeber des "Journal of Psychological Medicine", der vorher von Lady Bulwers Rechtsberatern konsultiert worden war, bestätigt, "nachdem er den Geisteszustand Lady Bulwer-Lyttons untersucht hatte", daß er ihn solcherart fand, "daß er ihre Befreiung von Beschränkung rechtfertige". Was der Öffentlichkeit bewiesen werden sollte, war jedoch nicht, ob Lady Bulwers Freilassung, sondern im Gegenteil, ob ihre Gefangenhaltung gerechtfertigt war. Herr Lytton wagt es nicht, diesen delikaten und entscheidenden Punkt zu berühren. Würde man nicht einen Konstabler auslachen, der der ungesetzlichen Einkerkerung eines freigeborenen Briten beschuldigt, zu seiner Verteidigung sagen würde, er habe keinen Fehler begangen, als er seinen Gefangenen in Freiheit setzte! Ist aber Lady Bulwer wirklich in Freiheit gesetzt?
"Meine Mutter", fährt Herr Lytton fort, "ist jetzt bei mir, frei von jeder Beschränkung und im Begriffe, auf eigenen Wunsch für kurze Zeit auf Reisen zu gehen, begleitet von mir und einer Freundin und Verwandten ihrer eigenen Wahl."
Herrn Lyttons Brief ist von "Park Lane Nr. 1" abgesandt, das heißt, von der Stadtwohnung seines Vaters. Ist also Lady Bulwer von ihrem Gefangenschaftsort in Brentford nach einem Gefangenschaftsort in London gebracht und leibhaftig einem erbitterten Feind ausgeliefert worden? Wer bürgt dafür, daß sie "frei von jeder Beschränkung" ist? Als sie den vorgeschlagenen Vergleich unterzeichnete, war sie auf alle Fälle nicht frei von Beschränkung, sondern schmachtete unter dem verbesserten System des Arztes Hill. Der wichtigste Umstand ist der: Während Sir Edward gesprochen hat, hat Lady Bulwer Schweigen bewahrt. Keine Erklärung ihrerseits, wo sie doch literarischer Tätigkeit so zugetan, ist vor die Augen der Öffentlichkeit gelangt. Ein <532> von ihr selbst geschriebener Bericht über ihre Behandlung wurde der Person, an die er gerichtet war, geschickt entzogen.
Zu welcher Vereinbarung auch immer die Ehegatten gelangt sind, für die Öffentlichkeit bleibt die Frage, ob unter dem Deckmantel des Gesetzes über Geisteskranke skrupellose Individuen, die verlockende Honorare an zwei hungrige Ärzte zahlen können, lettres de cachet <Haftbefehle> herausgeben dürfen. Eine weitere Frage ist die: Ist es einem Minister gestattet, durch einen privaten Vergleich ein öffentliches Verbrechen als erledigt abzutun? Es ist jetzt durchgesickert, daß im Laufe dieses Jahres bei der Untersuchung der Zustande in einer Anstalt in Yorkshire die Kommissäre für Geisteskrankheiten einen Mann entdeckten, der im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten mehrere Jahre lang eingesperrt und in einem Keller verborgen gehalten worden war. Auf eine Frage, die Herr Fitzroy in bezug auf diesen Fall im Unterhaus stellte, antwortete Herr Walpole, daß er "keine Akte über diese Tatsache" gefunden hätte, eine Erwiderung, die die Akte leugnet, aber nicht die Tatsache. Daß man die Dinge nicht dabei belassen will, kann man aus der Ankündigung des Herrn Tite entnehmen, daß
"er zu Beginn der nächsten Sitzungsperiode die Einsetzung eines besonderen Ausschusses beantragen werde, der die Anwendung des Gesetzes über Geisteskranke überprüfen soll".