Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 518-522.
Geschrieben am 6. Juli 1858.
Aus dem Englischen.
["New-York Daily Tribune" Nr. 5381 vom 21. Juli 1858, Leitartikel]
<518> Der Krieg in Indien geht nach und nach in das Stadium eines planlosen Guerillakrieges über, auf das wir mehrmals als seine unmittelbar bevorstehende und gefährlichste Entwicklungsphase hingewiesen haben <Siehe vorl. Band, S. 376, 467/468 und 490-492>. Die aufständischen Armeen lösen sich nach einer Reihe von Niederlagen, die sie in Feldschlachten und bei der Verteidigung von Städten und befestigten Lagern erlitten haben, allmählich in kleinere Trupps von zwei- bis zu sechs- oder achttausend Mann auf, die bis zu einem gewissen Grade unabhängig voneinander operieren, doch stets bereit sind, sich zu einer kurzen Expedition gegen eine beliebige britische Abteilung, die einzeln überrumpelt werden kann, zu vereinigen. Bareilly wurde ohne einen Streich aufgegeben, nachdem die aktive Kampftruppe Sir C. Campbells einige achtzig Meilen von Lakhnau abgezogen worden war und bildete in dieser Hinsicht den Wendepunkt für die Hauptarmee der Aufständischen; die Aufgabe von Kalpi hatte die gleiche Bedeutung für den zweiten großen Truppenteil der Eingeborenen. In beiden Fällen wurde die letzte zentrale Operationsbasis, die zu verteidigen war, aufgegeben, und da die Kriegführung einer Armee hierdurch unmöglich wird, führten die Aufständischen exzentrische Rückzüge durch, wobei sie sich in kleinere Trupps aufteilten. Diese beweglichen Kolonnen brauchen keine große Stadt als zentrale Operationsbasis. Sie können Mittel zur Verproviantierung, zur Wiederausrüstung und zur Rekrutierung in den verschiedenen Gebieten finden, in denen sie operieren; und eine kleine Stadt oder ein großes Dorf als Zentrum zur Reorganisation kann für jede einzelne von ihnen genauso wertvoll sein wie Delhi, Lakhnau oder Kalpi für die größeren Armeen. <519> Durch diesen Wandel verliert der Krieg viel von seinem Interesse; die Bewegungen der verschiedenen Kolonnen der Aufständischen können nicht im einzelnen verfolgt werden und erscheinen in den Berichten verworren. Die Operationen der britischen Kommandeure entziehen sich in hohem Maße der Kritik, da die Voraussetzungen, auf denen sie basieren, in unvermeidliches Dunkel gehüllt sind; Erfolg oder Mißerfolg bleiben das einzige Kriterium, und sie sind gewiß von allen die trügerischsten.
Diese Ungewißheit ist ebenfalls sehr groß in bezug auf die Bewegungen der Eingeborenen. Nach dem Fall von Lakhnau zogen sich die Eingeborenen exzentrisch zurück - einige südöstlich, einige nordöstlich, einige nordwestlich. Die letzteren bildeten den stärkeren Trupp und wurden von Campbell bis nach Rohilkand hinein verfolgt. Sie hatten sich in Bareilly gesammelt und neu formiert; doch als die Briten herankamen, gaben sie den Platz ohne Widerstand auf und zogen sich wieder in verschiedenen Richtungen zurück. Einzelheiten über diese verschiedenen Rückzugslinien sind nicht bekannt. Wir wissen nur, daß sich ein Teil den Bergen an den Grenzen von Nepal zugewandt hat, während eine oder mehrere Kolonnen anscheinend in die entgegengesetzte Richtung, auf den Ganges und den Doab (das Land zwischen Ganges und Dschamna) zu, marschiert sind. Kaum hatte Campbell jedoch Bareilly besetzt, als die Aufständischen, die sich in östlicher Richtung zurück gezogen hatten, eine Vereinigung mit einigen Trupps an der Grenze von Audh zustande brachten und über Schahdschahanpur herfielen, wo eine kleine britische Besatzung zurückgelassen worden war; währenddessen eilten weitere Kolonnen der Aufständischen in diese Richtung. Zum Glück für die Besatzung traf Brigadegeneral Jones bereits am 1. Mai mit Entsatztruppen ein und schlug die Eingeborenen, aber sie wurden auch durch die Kolonnen, die sich auf Schahdschahanpur zusammenzogen, verstärkt und schlossen die Stadt am 15. wiederum ein. An diesem Tage marschierte Campbell zu ihrem Entsatz und ließ eine Besatzung in Bareilly zurück; doch erst am 24. Mai griff er die Aufständischen an und trieb sie zurück, worauf sich ihre verschiedenartigen Kolonnen, die in diesem Manöver zusammengewirkt hatten, wieder in verschiedenen Richtungen zerstreuten.
Während Campbell so an der Grenze von Rohilkand beschäftigt war, marschierte General Hope Grant mit seinen Truppen im Süden von Audh hin und her, ohne ein anderes Ergebnis zu erzielen als Verluste unter seiner eigenen Truppe infolge der Strapazen unter der Sonne eines indischen Sommers. Die Aufständischen waren zu schnell für ihn. Sie waren überall, nur nicht dort, wo er sie gerade suchte, und wenn er glaubte, sie vorn zu finden, waren sie ihm schon längst wieder im Rücken. Weiter unten am <520> Ganges, in dem Bezirk zwischen Dinapur, Dschagdispur und Buxar, jagte General Lugard nach einem ähnlichen Gespenst. Die Eingeborenen hielten ihn ständig in Bewegung, und nachdem sie ihn von Dschagdispur abgezogen hatten, griffen sie plötzlich die Besatzung dieses Ortes an. Lugard kehrte zurück, und ein Telegramm berichtet, daß er am 26. einen Sieg errungen hätte. Die Übereinstimmung der Taktik dieser Aufständischen mit der der Kolonnen von Audh und Rohilkand ist offensichtlich. Der Sieg, den Lugard errungen hat, wird jedoch kaum große Bedeutung haben. Solche Banden können es sich leisten, reichlich oft geschlagen zu werden, ehe sie demoralisiert und schwach werden.
So hatte Mitte Mai die ganze aufständische Streitmacht Nordindiens den Krieg im großen aufgegeben, mit Ausnahme der Armee von Kalpi. In verhältnismäßig kurzer Zeit hatte diese Truppe in jener Stadt ein vollkommenes Operationszentrum eingerichtet; sie hatte Proviant, Pulver und andere Vorräte im Überfluß, reichlich Geschütze und sogar Gießereien und Musketenfabriken. Obwohl sie nur 25 Meilen von Khanpur entfernt waren, hatte Campbell sie in Ruhe gelassen. Er beobachtete sie nur durch eine Truppe auf dem Doab - bzw. Westufer der Dschamna. Die Generale Rose und Whitlock hatten für den Marsch nach Kalpi lange Zeit gebraucht; endlich traf Rose ein und schlug die Aufständischen vor Kalpi in einer Reihe von Gefechten. Die Beobachtungstruppe auf der anderen Seite der Dschamna hatte inzwischen die Stadt und das Fort mit Granaten belegt, und plötzlich räumten die Aufständischen beide, wobei sie ihre letzte große Armee in selbständige Kolonnen aufteilten. Aus den eingegangenen Meldungen wird keineswegs klar, welche Wege sie eingeschlagen haben; wir wissen nur, daß einige in den Doab, andere in Richtung Gwalior gezogen sind.
So schwärmen im ganzen Gebiet vom Himalaja bis Bihar und dem Windhja-Gebirge und von Gwalior und Delhi bis Gorakhpur und Dinapur Banden aktiver Aufständischer, die zu einem gewissen Grade durch die Erfahrungen eines zwölfmonatigen Krieges organisiert und trotz einer Anzahl Niederlagen guten Mutes sind, weil keine von entscheidendem Charakter gewesen ist und weil die Erfolge, die die Briten errungen haben, nur geringfügig sind. Zwar sind ihnen alle ihre Stützpunkte und Operationszentren genommen; der größere Teil ihrer Vorräte und ihrer Artillerie ist verloren; die wichtigen Städte sind sämtlich in der Hand ihrer Feinde. Doch andererseits behaupten die Briten in diesem ganzen riesigen Gebiet nichts als die Städte und vom offenen Lande nichts als den Flecken Erde, wo ihre mobilen Kolonnen gerade stehen; sie sind gezwungen, ihre flinken Feinde zu jagen ohne jede Hoffnung, sie zu fassen; und sie stehen unter dem Zwang, diese <521> aufreibende Art der Kriegführung gerade während der schlimmsten Jahres zeit aufzunehmen. Der eingeborene Inder kann die Mittagshitze seines Sommers relativ leicht ertragen, während es für den Europäer fast sicheren Tod bedeutet, wenn er allein schon den Sonnenstrahlen ausgesetzt ist; der Eingeborene kann in einer solchen Jahreszeit vierzig Meilen marschieren, wo schon zehn seinen nördlichen Gegner niederwerfen; für ihn sind sogar die warmen Regenfälle und die sumpfigen Dschungel verhältnismäßig harmlos, während Ruhr, Cholera und Fieber die Folge jeder Anstrengung sind, die von Europäern in der Regenzeit oder in Sumpfgegenden unternommen wird. Wir besitzen keine ausführlichen Berichte über den Gesundheitszustand der britischen Armee, doch aus den Vergleichsziffern über die Verluste durch Hitzschlag und durch den Feind in der Armee von General Rose, aus der Meldung, daß die Besatzung Lakhnaus krank ist, daß das 38. Regiment, das im vorigen Herbst mit einer Stärke von über 1.000 Mann eingetroffen ist, jetzt kaum 550 zählt, und aus anderen Anzeichen können wir die Schlußfolgerung ziehen, daß die Sommerhitze im April und Mai ihr Werk unter den Männern und Burschen verrichtet hat, die neu hinübergeschickt worden sind und die sonnenverbrannten alten Indienkämpfer des vorjährigen Feldzuges abgelöst haben. Mit den Männern, über die Campbell verfügt, kann er weder die Eilmärsche Havelocks noch eine Belagerung während der Regenzeit wie die von Delhi unternehmen. Und obwohl die britische Regierung wiederum große Verstärkungen abschickt, ist es fraglich, ob sie ausreichen werden, um die Verluste dieses Sommerfeldzuges gegen einen Feind wettzumachen, der nicht geneigt ist, mit den Briten zu kämpfen, es sei denn zu den für ihn günstigsten Bedingungen.
Die Kriegführung der Aufständischen beginnt nun, den Charakter des Krieges anzunehmen, den die Beduinen Algeriens gegen die Franzosen führen, mit dem Unterschied, daß die Hindus längst nicht so fanatisch und daß sie kein Reitervolk sind. Das letztere ist wichtig in einem ebenen Lande von unermeßlicher Weite. Unter den Aufständischen gibt es eine Menge Mohammedaner, die eine gute irreguläre Kavallerie abgeben würden; doch die hauptsächlichen Reitervölker Indiens haben sich dem Aufstand bisher nicht angeschlossen. Die Stärke der aufständischen Armee liegt in der Infanterie, und da diese Waffengattung nicht dazu fähig ist, den Engländern im offenen Felde entgegenzutreten, wird sie zu einem Hemmschuh beim Guerillakrieg in der Ebene; denn in einem solchen Lande ist die irreguläre Kavallerie das Kernstück der regellosen Kriegführung. Wie weit dieser Mangel während der Ruhepause, die die Engländer in der Regenzeit einlegen müssen, behoben werden kann, werden wir sehen. Diese Pause wird den Eingeborenen durch- <522> aus die Möglichkeit geben, ihre Streitkräfte zu reorganisieren und zu rekrutieren. Außer der Aufstellung der Kavallerie gibt es noch zwei weitere Punkte von Bedeutung. Sobald das kühle Wetter einsetzt, wird der Guerillakrieg allein nicht ausreichen. Operationszentren, Vorräte, Artillerie, befestigte Lager oder Städte werden benötigt, um die Briten in Unruhe zu halten, bis die kalte Jahreszeit vorüber ist; andernfalls könnte der Guerillakrieg erloschen sein, ehe ihm der nächste Sommer neues Leben verleiht. Unter anderen scheint Gwalior ein günstiger Punkt zu sein, falls sich die Aufständischen seiner wirklich bemächtigt haben. Zweitens hängt das Schicksal des Aufstandes von seiner Ausdehnungsfähigkeit ab. Wenn es die zerstreuten Kolonnen nicht zuwege bringen, aus Rohilkand nach Radschputana und ins Marathenland überzuwechseln, wenn die Bewegung auf das nördliche Zentralgebiet beschränkt bleibt, dann wird zweifellos der nächste Winter genügen, um die Banden auseinanderzujagen und sie in dacoits <Räuber> zu verwandeln, die den Einwohnern bald verhaßter sein werden als selbst die bleichwangigen Eindringlinge.