Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 493-496.

Friedrich Engels

[Die englische Armee in Indien]

Geschrieben um den 4. Juni 1858.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5361 vom 26. Juni 1858, Leitartikel]

<493> Unser indiskreter Freund, Herr William Russell von der Londoner "Times", ließ sich kürzlich durch seine Vorliebe für das Malerische dazu verleiten, die Plünderung Lakhnaus zum zweiten Mal zu veranschaulichen, in einem Maße, daß andere Völker dies nicht als sehr schmeichelhaft für den britischen Charakter ansehen werden. Es scheint nun, daß auch Delhi in einem sehr beträchtlichen Umfang "geplündert" worden ist und daß außer dem Kaisar Bagh die Stadt Lakhnau allgemein dazu beigetragen hat, den britischen Soldaten für seine vorhergehenden Entbehrungen und heroischen Anstrengungen zu entschädigen. Wir zitieren Herrn Russell:

"Es gibt Kompanien, die sich rühmen können, in ihren Reihen gemeine Soldaten mit einem Vermögen von mehreren tausend Pfund Sterling zu haben. Ich hörte von einem Mann, der einem Offizier selbstzufrieden angeboten hatte, 'jede beliebige Summe zu leihen, die er benötige, falls er den Hauptmann bestechen wolle'. Andere übersandten ihren Freunden große Summen. Vor Eintreffen dieses Briefes in England werden so mancher Diamant, so mancher Smaragd und so manche kostbare Perle ihre Geschichte von der Erstürmung und Plünderung des Kaisar Bagh auf eine ruhige und gefällige Art erzählt haben. Glücklicherweise sahen die schönen Trägerinnen nicht ... wie der glitzernde Tand erworben, oder unter welchen Umständen die Schätze geraubt wurden... Einige dieser Offiziere haben buchstäblich ihr Glück gemacht... Es gibt da gewisse Kästchen in schäbigen Uniformkoffern, die Landgüter in Schottland und Irland enthalten, sowie ansehnliche Fischgründe und Jagdreviere in jedem an Wild oder an Lachs reichen Winkel der Erde."

Dies also erklärt die Inaktivität der britischen Armee nach der Eroberung Lakhnaus. Die dem Plündern gewidmeten vierzehn Tage wurden gut ausgenutzt. Arm und verschuldet gelangten Offiziere und Soldaten in die Stadt, und plötzlich reich geworden, kamen sie heraus. Es waren nicht mehr dieselben Menschen; von ihnen wurde jedoch erwartet, daß sie zu ihrem früheren Militärdienst zurückkehrten, zu Unterordnung, schweigendem Gehorsam, <494> Strapazen, Entbehrung und Kampf. Aber damit ist es vorbei. Eine Armee, die sich zum Plündern aufgelöst hat, ist für immer verwandelt; kein Kommandowort, kein Ansehen des Generals kann sie wieder zu dem machen, was sie vorher war. Hören wir wieder Herrn Russell:

"Es ist seltsam zu beobachten, wie Reichtum Krankheiten hervorruft, wie einem durch Beute die Leber anschwillt, und was für furchtbare Verheerungen in der Familie, unter den Nächsten und Teuersten, durch ein paar Kohlenstoffkristalle angerichtet werden können ... Das Gewicht des Gürtels um die Hüfte des gemeinen Soldaten, voller Rupien und Gold-Mohurs gibt ihm die Gewißheit, daß sein Traumbild (von einem behaglichen Auskommen in der Heimat) erfüllt werden kann, und es ist kein Wunder, daß er das Kommando 'Antreten, Antreten!' übel aufnimmt ... Zwei Schlachten, zwei Anteile am Beutegeld, die Plünderung zweier Städte und viele Gelegenheitseinkünfte haben manche unserer Männer zu reich gemacht für den unbeschwerten Soldatenberuf."

Es entspricht dem völlig, wenn wir vernehmen, daß über 150 Offiziere Sir Colin Campbell um ihren Abschied ersucht haben - ein wirklich ganz einzigartiges Vorgehen in einer vor dem Feind stehenden Armee, ein Vorgehen, das in jeder anderen Armee innerhalb vierundzwanzig Stunden Kassation und andere strengste Bestrafung nach sich ziehen würde, die jedoch, so vermuten wir, in der britischen Armee als eine Handlung angesehen wird, die einem "Offizier und Gentleman", der plötzlich sein Glück gemacht hat, sehr angemessen ist. Was die gemeinen Soldaten angeht, so steht die Sache mit ihnen anders. Beute erzeugt das Verlangen nach mehr; und wenn keine indischen Schätze mehr für diesen Zweck zur Hand sind, warum nicht die der britischen Regierung plündern? Dementsprechend schreibt Herr Russell:

"Da sind auf verdächtige Art und Weise zwei Geldkarren unter europäischer Bewachung umgestürzt worden, wobei einige Rupien verschwunden sind; und die Zahlmeister bevorzugen ganz offen Eingeborene für den heiklen Dienst als Begleitschutz!"

Das ist wirklich sehr gut. Der Hindu oder Sikh ist besser diszipliniert, weniger diebisch, weniger habgierig als jenes unvergleichliche Vorbild eines Kriegers, der britische Soldat! Doch bisher haben wir nur den einzelnen Briten in Aktion gesehen. Werfen wir jetzt einen Blick auf die britische Armee, wie sie in ihrer Gesamtheit "plündert":

"Jeden Tag kommt neues Beutegut hinzu, und man schätzt, daß die Verkäufe 600.000 Pfd.St. einbringen werden. Die Stadt Khanpur soll vollgepfropft sein mit der Beute aus Lakhnau; und wenn der Schaden, der an den öffentlichen Gebäuden entstanden ist, die Vernichtung von Privateigentum, die Entwertung von Häusern und <495> Land und die Auswirkungen der Entvölkerung abgeschätzt wurden, könnte man feststellen, daß die Hauptstadt von Audh einen Verlust von fünf oder sechs Millionen Pfund Sterling erlitten hat."

Die Kalmückenhorden Dschingis-Khans und Timurs, die wie ein Heuschreckenschwarm über eine Stadt herfielen und alles vertilgten, was ihnen in den Weg kam, müssen ein Segen für das Land gewesen sein, verglichen mit dem Einfall dieser christlichen, zivilisierten, ritterlichen und edlen britischen Soldaten. Jene verschwanden wenigstens bald wieder auf ihrem Nomadenzug; aber diese methodisch vorgehenden Engländer, die das Beutemachen in ein System verwandeln, bringen ihre Taxatoren mit, die den Raub registrieren, ihn versteigern und ein wachsames Auge darauf haben, daß der britische Heldenmut nicht um ein Tüttelchen seines Lohnes betrogen wird. Wir werden voller Neugierde beobachten, wie die Qualitäten dieser Armee, deren Disziplin infolge der allgemeinen Plünderei zerrüttet ist, in der Hitzeperiode sein werden, wenn die Strapazen eines Feldzuges die härteste Disziplin verlangen.

Die Hindus müssen jedoch jetzt noch weniger für eine reguläre Schlacht geeignet sein, als sie dies zu Lakhnau waren; doch das ist gegenwärtig nicht die Hauptfrage. Es ist weitaus wichtiger zu wissen, was getan werden muß, falls die Aufständischen nach einem scheinbaren Widerstand den Kriegsschauplatz erneut verlegen, sagen wir nach Radschputana, das noch längst nicht niedergeworfen ist. Sir Colin Campbell muß überall Besatzungen zurücklassen, seine Feldtruppe ist auf weniger als die Hälfte der Streitmacht, über die er vor Lakhnau verfügte, zusammengeschmolzen. Wenn er Rohilkand besetzen soll, welche Kräfte werden dann noch für das Schlachtfeld verfügbar bleiben? Gegenwärtig hat ihn die Hitzeperiode gepackt; im Juni dürften offensichtlich die Regenfälle der aktiven Kriegführung Einhalt gebieten und den Aufständischen Zeit zum Atemholen geben. Die infolge von Krankheit zu erwartenden Verluste der europäischen Soldaten werden sich von Mitte April ab, wenn das Wetter drückend geworden ist, täglich erhöhen; und die jungen Leute, die im letzten Winter nach Indien gebracht worden sind, müssen dem Klima in weit größerer Zahl unterliegen als die abgehärteten Indienkämpfer, die im vorigen Sommer unter Havelock und Wilson fochten. Rohilkand ist genausowenig der entscheidende Punkt, wie es Lakhnau oder Delhi gewesen sind. Zwar hat der Aufstand seine Fähigkeit zu Feldschlachten größtenteils eingebüßt, doch ist er weit schrecklicher in seiner augenblicklichen versprengten Form, die die Engländer zwingt, ihre Armee zugrunde zu richten durch Märsche und Gefahren, denen sie ausgesetzt sein wird. Man betrachte die vielen neuen Widerstandszentren. Da ist Rohilkand, wo <496> sich die Masse der ehemaligen Sepoys gesammelt hat; da ist das nordöstliche Audh jenseits der Gogra, wo die Truppen aus Audh Stellung bezogen haben; da ist Kalpi, das im Augenblick als Konzentrationspunkt für die Aufständischen aus Bandelkand dient. Wir werden höchstwahrscheinlich in wenigen Wochen, wenn nicht schon früher, erfahren, daß sowohl Bareilly als auch Kalpi gefallen sind. Der Fall Bareillys wird von geringer Bedeutung sein, da dabei nahezu alle, wenn nicht sämtliche verfügbaren Kräfte Camphells absorbiert werden. Eine weit wichtigere Eroberung wird Kalpi sein, das jetzt von General Whitlock bedroht wird, der seine Kolonne von Nagpur nach Banda in Bandelkand geführt hat, und von General Rose, der von Dschansi heranrückt und die Vorhut der Streitkräfte von Kalpi geschlagen hat. Diese Eroberung wird Campbells Operationsbasis Khanpur von der einzigen Gefahr befreien, die ihr droht, und ihn so vielleicht in die Lage versetzen, seine Kampftruppen bis zu einem gewissen Grade durch Truppen aufzufüllen, die hierdurch frei gesetzt werden. Aber es ist sehr zweifelhaft, ob es genug Truppen geben wird, um mehr zu tun, als Audh zu säubern.

Somit ist die stärkste Armee, die England jemals an einem Punkt in Indien konzentriert hat, wieder in alle Winde zerstreut und hat mehr Arbeit zu tun, als in ihren Kräften liegt. Die Verheerungen durch das Klima während der Sommerhitze und der Regenfälle müssen schrecklich sein; und wie groß auch die moralische Überlegenheit der Europäer über die Hindus sein mag, es ist sehr fraglich, ob die physische Überlegenheit der Hindus im Ertragen der Hitze und der Regenfälle eines indischen Sommers nicht wiederum zur Vernichtung der englischen Streitkräfte führen wird. Im Augenblick sind nur wenig britische Truppen nach Indien unterwegs, und es ist nicht beabsichtigt, vor Juli und August große Verstärkungen nach dort zu schicken. Bis Oktober und November hat also Campbell nur diese eine Armee, mit der er sich behaupten muß und die rasch zusammenschmilzt. Was dann, wenn es den aufständischen Hindus in der Zwischenzeit gelingt, Radschputana und das Marathenland aufzuwiegeln? Was dann, wenn die Sikhs sich erheben sollten, von denen 80.000 in britischen Diensten stehen, die den ganzen Ruhm der Siege für sich in Anspruch nehmen und den Briten durchaus nicht freundlich gesinnt sind?

Alles in allem scheint den Briten in Indien zumindest ein weiterer Winterfeldzug bevorzustehen, und dieser kann nicht ohne eine neue Armee aus England durchgeführt werden.