Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 490-492.
Geschrieben Ende Mai 1858.
Aus dem Englischen.
["New-York Daily Tribune" Nr. 5351 vom 15. Juni 1858, Leitartikel]
<490> Trotz der großen militärischen Operationen der Engländer bei der Einnahme zuerst Delhis und dann Lakhnaus, die nacheinander die Hauptzentren des Sepoy-Aufstandes waren, ist die Befriedung Indiens noch längst nicht abgeschlossen. In der Tat, man kann fast sagen, daß sich die wirkliche Schwierigkeit der Lage erst jetzt zu zeigen beginnt. Solange sich die aufständischen Sepoys in großen Massen konzentrierten, solange es sich um Belagerungen und regelrechte Schlachten großen Ausmaßes handelte, waren die englischen Truppen durch ihre gewaltige Überlegenheit bei derartigen Operationen in jeder Hinsicht im Vorteil. Doch bei dem neuen Charakter, den der Krieg jetzt annimmt, wird dieser Vorteil wahrscheinlich in hohem Grade verlorengehen. Die Einnahme Lakhnaus bedeutet noch nicht die Unterwerfung von Audh; und selbst die Unterwerfung von Audh würde nicht die Befriedung Indiens bedeuten. Über das ganze Königreich Audh verstreut liegen viele mehr oder weniger bedeutende Festungen; obwohl vielleicht keine einem förmlichen Angriff lange standhalten würde, wird es nicht nur ein sehr langwieriger Prozeß sein, diese Forts nacheinander einzunehmen, sondern auch ihre Eroberung wird von relativ weit größeren Verlusten begleitet sein als Operationen gegen so große Städte wie Delhi und Lakhnau.
Aber es ist nicht nur das Königreich Audh, das erobert und befriedet werden muß. Die geschlagenen und aus Lakhnau vertriebenen Sepoys haben sich zerstreut und sind in alle Richtungen geflohen. Ein großer Haufe hat in den noch völlig in den Händen der Aufständischen gebliebenen Berggebieten von Rohilkand im Norden Unterschlupf gefunden. Andere flohen in östlicher Richtung nach Gorakhpur - und es ist jetzt notwendig geworden, diesen Bezirk, obwohl er von den britischen Truppen auf ihrem Marsch nach Lakhnau durchquert worden war, zum zweiten Mal zurückzuerobern. Vielen anderen <491> ist es gelungen, sich in südlicher Richtung bis nach Bandelkand hinein durchzuschlagen.
Es scheint tatsächlich eine Kontroverse über die beste Art des Vorgehens entstanden zu sein ebenso wie darüber, ob es nicht besser gewesen wäre, zuerst alle außenliegenden Bezirke zu unterwerfen, die den Aufständischen Schutz bieten konnten, bevor man Operationen gegen ihre in Lakhnau versammelte Hauptmacht richtete. Dies soll der vom Militär bevorzugte Operationsplan gewesen sein. Man kann sich jedoch schwer vorstellen, wie bei der beschränkten Truppenzahl, die den Engländern zur Verfügung stand, jene umliegenden Bezirke so hätten besetzt werden können, wie es erforderlich war, um zu verhindern, daß sich die fliehenden Sepoys nach ihrer endgültigen Vertreibung aus Lakhnau dorthin durchschlagen oder daß sich, wie im Falle von Gorakhpur, die Rückeroberung der Gebiete notwendig macht.
Nach der Einnahme Lakhnaus haben sich anscheinend die Hauptkräfte der Aufständischen auf Bareilly zurückgezogen. Es wird behauptet, daß sich Nana Sahib dort befände. Man hat es für notwendig erachtet, gegen diese Stadt und diesen Bezirk, der über hundert Meilen nordwestlich von Lakhnau gelegen ist, einen Sommerfeldzug zu unternehmen, und nach den letzten Berichten befand sich Sir Colin Campbell selbst auf dem Marsch dorthin.
Inzwischen scheint sich jedoch ein Guerillakrieg nach verschiedenen Richtungen hin auszubreiten. Während die Truppen nach dem Norden abgezogen werden, überschreiten versprengte Teile aufständischer Truppen den Ganges nach Doab, unterbrechen die Verbindung mit Kalkutta und setzen durch ihre Verwüstungen die Bauern außerstande, ihre Bodensteuer zu zahlen, oder verschaffen ihnen zumindest einen Vorwand, es nicht zu tun.
Selbst die Einnahme von Bareilly wird noch bei weitem nicht diesen Übeln abhelfen, sondern sie womöglich verschlimmern. Gerade in dieser planlosen Kriegführung liegt der Vorteil für die Sepoys. Sie können die englischen Truppen während des Marsches in genau demselben Maße schlagen, wie die Engländer sie im Gefecht schlagen können. Eine englische Kolonne kann keine zwanzig Meilen am Tage vorrücken; eine Sepoy-Truppe kann vierzig, und wenn sie sich sehr anstrengt, sogar sechzig Meilen marschieren. Diese Schnelligkeit der Bewegung verleiht den Sepoy-Truppen ihren größten Wert, und das, zusammen mit ihrer Fähigkeit, das Klima zu ertragen, und der verhältnismäßigen Leichtigkeit, sie zu verpflegen, macht sie für die Kriegführung in Indien unentbehrlich. Der Verschleiß an englischen Truppen im Dienst und besonders in einem Sommerfeldzug ist ungeheuer. Der Mangel an Leuten ist bereits ernstlich spürbar. Vielleicht wird es notwendig, die fliehenden Aufständischen von einem Ende Indiens zum anderen zu jagen.
<492> Diesem Zweck würden europäische Truppen kaum genügen, während die Berührung der umherstreifenden Aufständischen mit den bisher treugebliebenen Eingeborenenregimentern von Bombay und Madras zu neuen Erhebungen führen könnte.
Selbst wenn keine neuen Meuterer hinzukommen, sind noch immer nicht weniger als hundertfünfzigtausend bewaffnete Männer im Felde, während die unbewaffnete Bevölkerung den Engländern weder Unterstützung noch Nachrichten zukommen läßt.
Unterdessen droht durch das Ausbleiben des Regens in Bengalen eine Hungersnot - ein in diesem Jahrhundert unbekanntes Unheil, doch in früheren Zeiten und sogar schon unter der englischen Besetzung die Quelle schrecklicher Leiden.