Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 483-486.

Karl Marx

[Die Proklamation Cannings und die Frage des Grundeigentums in Indien]

Geschrieben am 25. Mai 1858.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5344 vom 7. Juni 1858, Leitartikel]

<483> Lord Cannings Proklamation über Audh - einige wichtige Dokumente, die sich darauf beziehen, haben wir am Sonnabend veröffentlicht - hat die Diskussion über den Grundbesitz in Indien wiederaufleben lassen, einen Gegenstand, über den es in vergangenen Zeiten große Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten gegeben hat. Mißverständnisse darüber hätten, so wird behauptet, zu sehr ernsten praktischen Fehlern in der Verwaltung jener Teile Indiens geführt, die unmittelbar unter britischer Herrschaft stehen. Der Angelpunkt in diesem Streit ist die Frage, welche genaue Stellung die Samindare, Talukdare oder Sirdare, wie sie genannt werden, im ökonomischen System Indiens einnehmen? Sind sie eigentlich als Grundbesitzer oder als bloße Steuereinnehmer anzusehen?

Es herrscht Übereinstimmung darüber, daß in Indien, wie in den meisten Ländern Asiens, das höchste Eigentumsrecht an Grund und Boden dem Staat gehört. Während jedoch eine Partei in diesem Streit darauf besteht, daß der Staat als ein Grundbesitzer anzusehen ist, der das Land in Parzellen den Bebauern verleiht, behauptet die andere Seite, daß im Grunde genommen das Land in Indien genauso Privateigentum ist wie in jedem anderen Land; denn das angebliche Eigentum des Staates sei nichts weiter als die Herleitung des Besitztitels vom Souverän, wie sie theoretisch in allen Ländern anerkannt wird, deren Gesetze auf dem Feudalrecht beruhen, und wie sie dem Wesen nach in jedem beliebigen Land darin anerkannt wird, daß der Staat befugt ist, Bodensteuern gemäß seinen Bedürfnissen zu erheben, ganz unabhängig von allen Erwägungen - außer solchen rein politischer Natur -, ob es den Eigentümern genehm ist.

Gibt man jedoch zu, daß der Landbesitz in Indien Privateigentum ist, das sich auf einen genauso soliden und rechtskräftigen Privateigentumstitel stützt <484> wie Land in anderen Staaten, wer soll dann als der wirkliche Eigentümer angesehen werden? Es gibt zwei Parteien, für die dieser Anspruch erhoben worden ist. Eine dieser Parteien ist die Klasse, die als Samindare und Talukdare bekannt ist, von denen man angenommen hat, daß sie eine Stellung ähnlich der des Landadels und der Gentry in Europa einnehmen. Sie sollen in der Tat die wirklichen Eigentümer des Landes sein, die einer gewissen Abgabepflicht der Regierung gegenüber unterworfen sind, und haben als Eigentümer das Recht, nach Gutdünken die eigentlichen Bebauer zu verjagen, die unter diesem Gesichtspunkt so betrachtet werden, als stünden sie in der Position bloßer Pächter, denen jederzeit gekündigt werden kann und die zu jeder Zahlung im Wege der Pacht verpflichtet sind, deren Auferlegung die Samindare für richtig halten. Dieser Gesichtspunkt, der natürlich übereinstimmte mit den englischen Vorstellungen über die Bedeutung und Notwendigkeit eines Landadels als des Hauptpfeilers der gesellschaftlichen Struktur, wurde vor siebzig Jahren unter Generalgouverneur Lord Cornwallis zur Grundlage der berühmten Landveranlagung von Bengalen gemacht - einer Veranlagung, die immer noch in Kraft ist, die jedoch, wie von vielen behauptet wird, dem Staat ebenso wie den tatsächlichen Bebauern großes Unrecht zugefügt habe. Ein gründlicheres Studium der Einrichtungen Hindustans im Zusammenhang mit den sozialen und politischen Ungehörigkeiten, die von der Veranlagung in Bengalen herrühren, hat der Ansicht Geltung verschafft, daß nach den ursprünglichen Bräuchen der Hindus das Eigentumsrecht an Grund und Boden bei den Dorfgemeinden läge, die die Befugnis hatten, ihn zur Bearbeitung an Einzelpersonen zu verteilen, während die Samindare und Talukdare ursprünglich nichts weiter als Regierungsbeamte waren, eingesetzt, um die fälligen Abgaben des Dorfes zu überwachen, einzusammeln und an den Fürsten zu zahlen.

Diese Ansicht hat zu einem beträchtlichen Grade die Landpacht- und Steuerveranlagung beeinflußt, die in den letzten Jahren in den indischen Provinzen vorgenommen worden ist und deren unmittelbare Verwaltung die Engländer übernommen haben. Von den ausschließlichen Eigentumsrechten, wie sie die Talukdare und Samindare in Anspruch nehmen, war man der Ansicht, daß sie ursprünglich auf Kosten des Staates und der Bauern usurpiert worden sind, und es sind alle Anstrengungen gemacht worden, um sie, die wie ein Alpdruck auf den wirklichen Bebauern des Bodens und auf der allgemeinen Weiterentwicklung des Landes lasten, loszuwerden. Da jedoch diese middle men <Pächter von großen Ländereien, die sie in kleinen Teilen wieder verpachteten> die Verjährung für sich in Anspruch nehmen konnten, welchen Ur- <485> sprungs auch ihre Rechte sein mochten, mußten ihre Ansprüche bis zu einem gewissen Grade als legal anerkannt werden, wie beschwerlich, willkürlich und drückend sie auch für das Volk sein mögen. In Audh hatten es unter der schwachen Herrschaft der eingeborenen Fürsten diese feudalen Grundbesitzer sehr weit darin gebracht, die Ansprüche der Regierung ebenso wie die Rechte der Bebauer zu beschneiden; und als diese Angelegenheit nach der kürzlich erfolgten Annexion dieses Königreiches überprüft wurde, gerieten die mit der Veranlagung beauftragten Bevollmächtigten bald in einen sehr scharfen Streit mit ihnen über den wirklichen Umfang ihrer Rechte. Hieraus ergab sich auf ihrer Seite ein Zustand der Unzufriedenheit, der sie gemeinsame Sache mit den aufständischen Sepoys machen ließ.

Von denjenigen, die zu der oben angedeuteten Politik neigen - und zwar zu einem System der dörflichen Veranlagung, nach dem die wirklichen Bebauer mit einem Eigentumsrecht an Grund und Boden ausgestattet sind, das stärker ist als das der middle men, über die der Staat seinen Anteil am Bodenertrag erhält -, wird die Proklamation von Lord Canning als günstige Gelegenheit verteidigt, die die Lage ausnutzt, in die sich die große Misse der Samindare und Talukdare selbst gebracht hatte, eine Gelegenheit, um die Tür zu öffnen für die Einführung von weit umfassenderen Reformen, als sie sonst möglich gewesen wären; denn das durch jene Proklamation konfiszierte Eigentumsrecht sei nur das Samindari- oder Talukdari-Recht und beträfe nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung und keineswegs die wirklichen Bebauer.

Läßt man jegliche Frage nach Gerechtigkeit und Menschlichkeit beiseite, so paßt der Standpunkt, den andererseits die Regierung Derby zu Lord Cannings Proklamation einnimmt, ziemlich genau zu den allgemeinen Prinzipien, die die Tory- oder Konservative Partei über die Heiligkeit verliehener Rechte und die Wichtigkeit der Aufrechterhaltung aristokratischen Landbesitzes vertritt. Wenn sie vom Landbesitz im eigenen Lande spricht, bezieht sie sich stets mehr auf die Grundherren und Pachtempfänger als auf die Pachtzahler und auf die wirklichen Bebauer; und deshalb ist es nicht überraschend, daß sie die Interessen der Samindare und Talukdare, so klein auch ihre tatsächliche Zahl ist, mit den Interessen der großen Masse des Volkes gleichsetzt.

Hier besteht in der Tat eine der größten Unbequemlichkeiten und Schwierigkeiten in der Beherrschung Indiens von England aus, daß nämlich Ansichten über indische Probleme der Beeinflussung durch typisch englische Vorurteile oder Gefühle unterliegen, die auf einen Gesellschaftszustand und eine Lage der Dinge angewendet werden, mit denen sie faktisch sehr wenig <486> gemein haben. Lord Canning verteidigt in seiner heute veröffentlichten Depesche sehr einleuchtend die politische Linie seiner Proklamation gegen die vom Bevollmächtigten für Audh, Sir James Outram, erhobenen Einwände, obwohl es scheint, daß er den Vorstellungen Outrams insofern entgegengekommen ist, als er einen abschwächenden Satz in die Proklamation eingefügt hat, der in dem nach England abgesandten Originalentwurf nicht enthalten war, auf den sich Lord Ellenboroughs Depesche gestützt hatte.

Lord Cannings Meinung zu der Frage, in welchem Licht man das Verhalten der Grundbesitzer in Audh bei der Teilnahme am Aufstand betrachten müsse, unterscheidet sich anscheinend nicht sehr von der Sir James Outrams und Lord Ellenboroughs. Er legt dar, daß sich die Stellung der Grundbesitzer nicht nur wesentlich von der der meuternden Sepoys unterscheidet, sondern auch von der Stellung der Einwohner aufständischer Bezirke, die schon länger unter britischer Herrschaft standen. Er räumt ein, daß sie mit Recht erwarten, als Personen behandelt zu werden, die zu dem von ihnen beschrittenen Weg herausgefordert worden sind; doch gleichzeitig beharrt er darauf, daß ihnen klar gemacht werden muß, man könne seine Zuflucht nicht zur Rebellion nehmen, ohne ernsthafte Folgen für sich selbst heraufzubeschwören. Wir werden bald erfahren, welche Wirkung die Proklamation gehabt hat und ob Lord Canning oder Sir James Outram in der Vorwegnahme ihrer Ergebnisse der Wahrheit näher war.