Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 469-474.

Karl Marx

Die Annexion von Audh

Geschrieben am 14. Mai 1858.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5336 vom 28. Mai 1858, Leitartikel]

<469> Vor etwa achtzehn Monaten legte die britische Regierung in Kanton die neue Doktrin des Völkerrechts vor, nach der ein Staat Kriegshandlungen in großem Maßstab gegen eine Provinz eines anderen Staates unternehmen kann, ohne Krieg zu erklären oder mit jenem anderen Staat einen Kriegs-Status herbeizuführen. Die gleiche britische Regierung hat jetzt in der Person des Generalgouverneurs von Indien, Lord Canning, einen weiteren Schritt in ihrem Bemühen getan, das bestehende Völkerrecht umzustoßen. Sie hat proklamiert,

"daß das Eigentumsrecht an Grund und Boden in der Provinz Audh zugunsten der britischen Regierung konfisziert wird, die von diesem Recht in der Weise Gebrauch machen wird, wie es ihr geeignet erscheint".

Als der russische Zar nach dem Fall Warschaus 1831 "das Eigentumsrecht an Grund und Boden" konfiszierte, das bis dahin im Besitz zahlreicher polnischer Adliger war, gab es einen einstimmigen Entrüstungsschrei in der britischen Presse und im Parlament. Als die österreichische Regierung nach der Schlacht von Novara die Güter der lombardischen Adligen, die aktiv am Unabhängigkeitskrieg teilgenommen hatten, nicht konfiszierte, sondern nur unter Verwaltung stellte, wiederholte sich dieser einstimmige Entrüstungsschrei der Briten. Und als Louis-Napoleon nach dem 2. Dezember 1851 die Güter der Familie Orleans konfiszierte, die nach dem ungeschriebenen französischen Gewohnheitsrecht bei Regierungsantritt Louis-Philippes den Staatsländereien hätten einverleibt werden müssen, diesem Schicksal jedoch durch eine juristische Haarspalterei entgangen waren, da kannte die britische Entrüstung keine Grenzen, und die Londoner "Times" erklärte, daß durch diesen Schritt die Grundpfeiler der gesellschaftlichen Ordnung ins Wanken geraten seien <470> und daß die bürgerliche Gesellschaft nicht länger existieren könne. Diese ganze biedere Entrüstung ist nun praktisch illustriert worden. Durch einen einzigen Federstrich hat England nicht nur die Güter einiger Adliger oder einer Königsfamilie konfisziert, sondern das gesamte Gebiet eines Königreichs, fast so groß wie Irland, "das Erbe eines ganzen Volkes", wie Lord Ellenborough es selbst nennt.

Doch hören wir, welche Vorwände - Gründe können wir sie nicht nennen - Lord Canning im Namen der britischen Regierung für dieses unerhörte Vorgehen anführt: Erstens, "die Armee ist im Besitz von Lakhnau". Zweitens, "der von meuternden Soldaten begonnene Widerstand fand die Unterstützung der Einwohner der Stadt und der gesamten Provinz". Drittens, "sie haben sich eines großen Verbrechens schuldig gemacht und sich einer gerechten Vergeltung ausgesetzt". In einfachen Worten: Weil die britische Armee Lakhnau in Besitz genommen, hat die Regierung das Recht, all das Land von Audh zu konfiszieren, das sie noch nicht erobert hat. Weil die eingeborenen Soldaten in britischem Sold meuterten, haben die Eingeborenen in Audh, die mit Gewalt der britischen Herrschaft unterworfen wurden, nicht das Recht, sich für ihre nationale Unabhängigkeit zu erheben. Kurz, die Bevölkerung von Audh hat gegen die legitimen Behörden der britischen Regierung rebelliert, und die britische Regierung erklärt nun entschieden, daß Rebellion ein ausreichender Grund zur Konfiskation ist. Wenn man also alle Umschweife Lord Cannings außer acht läßt, so dreht sich die ganze Frage um seine anmaßende Behauptung, die britische Herrschaft in Audh sei legitim errichtet worden.

Die britische Herrschaft in Audh wurde aber folgendermaßen errichtet: Als Lord Dalhousie 1856 den Augenblick zum Handeln gekommen sah, zog er in Khanpur eine Armee zusammen, die, wie man dem König von Audh <Wadschid Ali-Schah> mitteilte, als Beobachtungstruppe gegen Nepal dienen sollte. Diese Armee überfiel plötzlich das Land, nahm Lakhnau in Besitz und machte den König zum Gefangenen. Er wurde aufgefordert, das Land den Briten zu übergeben, doch vergeblich. Man schleppte ihn darauf nach Kalkutta, und das Land wurde dem Territorium der Ostindischen Kompanie angegliedert. Dieser verräterische Einfall wurde mit Artikel 6 des von Lord Wellesley abgeschlossenen Vertrages von 1801 begründet. Dieser Vertrag war die natürliche Folge des von Sir John Shore 1798 abgeschlossenen. Der üblichen Politik entsprechend, die die englisch-indische Regierung im Verkehr mit eingeborenen Fürsten befolgt, war dieser erste Vertrag von 1798 ein gegenseitiges Offensiv- und Defensivbündnis. Er sicherte der Ostindischen Kompanie eine <471> jährliche Subsidie von 76 Lakh Rupien (3.800.000 Dollar); doch auf Grund der Artikel 12 und 13 war der König verpflichtet, die Steuern des Landes einzuschränken. Selbstverständlich konnten diese beiden Bestimmungen, die in offenem Widerspruch zueinander standen, vom König nicht gleichzeitig eingehalten werden. Dieses von der Ostindischen Kompanie beabsichtigte Ergebnis ließ neue Komplikationen entstehen, die zum Vertrag von 1801 führten, durch den eine Gebietsabtretung wegen der angeblichen Verletzungen des vorigen Vertrages erzwungen wurde, eine Gebietsabtretung, die übrigens damals im Parlament als regelrechter Raub bezeichnet wurde und die Lord Wellesley ohne den damaligen politischen Einfluß seiner Familie vor einen Untersuchungsausschuß gebracht hätte.

Als Gegenleistung für diese Gebietsabtretung übernahm die Ostindische Kompanie gemäß Artikel 3, das dem König verbleibende Gebiet gegen alle fremden und einheimischen Feinde zu schützen, und garantierte gemäß Artikel 6 dem König und seinen Erben und Nachfolgern auf ewig den Besitz dieser Territorien. Aber der gleiche Artikel 6 enthielt auch eine Falle für den König: Der König verpflichtete sich, ein von seinen eigenen Beamten durchzuführendes Verwaltungssystem einzurichten, das dem Wohlergehen seiner Untertanen förderlich und dazu bestimmt sein sollte, Leben und Eigentum der Einwohner zu sichern. Angenommen nun, der König von Audh hätte diesen Vertrag gebrochen, hätte Leben und Eigentum der Einwohner durch seine Regierung nicht geschützt (sagen wir, indem er sie vor die Kanonenmündung binden und zerfetzen ließ und ihre gesamten Ländereien konfiszierte), welches Mittel bliebe der Ostindischen Kompanie? Der König war durch den Vertrag als unabhängiger Souverän, als ein nach eigenem Willen Handelnder und als Vertragspartner anerkannt. Als sie den Vertrag für gebrochen und dadurch für annulliert erklärte, konnte die Ostindische Kompanie nur auf zweierlei Art vorgehen: Entweder hätte sie durch Verhandlungen, unterstützt durch Druck, zu einer neuen Vereinbarung gelangen können, oder aber sie hätte dem König den Krieg erklären können. Doch sein Territorium ohne Kriegserklärung überfallen, ihn unversehens zum Gefangenen machen, ihn entthronen und sein Territorium annektieren, das war eine Verletzung nicht nur des Vertrages, sondern jeglichen Prinzips des Völkerrechts.

Daß die Annexion von Audh nicht eine plötzliche Entscheidung der britischen Regierung war, wird durch eine merkwürdige Tatsache bewiesen. Kaum war Lord Palmerston 1831 Außenminister, als er dem damaligen Generalgouverneur die Anweisung übersandte, Audh zu annektieren. Der Untergebene lehnte es damals ab, diese Anweisung durchzuführen. Die <472> Angelegenheit wurde jedoch dem König von Audh <Nasir-ed-Din> bekannt, der irgendeinen Vorwand benutzte, um eine Abordnung nach London zu schicken. Trotz aller Hindernisse gelang es der Abordnung, Wilhelm IV., der von dem ganzen Vorgang nichts wußte, mit der Gefahr bekannt zu machen, die ihrem Lande gedroht hatte. Das Ergebnis war eine stürmische Szene zwischen Wilhelm IV. und Palmerston, die damit endete, daß Palmerston eine strikte Anweisung erhielt, bei Strafe sofortiger Entlassung nie mehr derartige coups d'état zu wiederholen. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, daß die tatsächliche Annexion von Audh und die Konfiskation des ganzen Grundbesitzes im Lande erfolgten, als Palmerston wieder an der Macht war. Die Schriftstücke über jenen ersten Versuch der Annexion von Audh im Jahre 1831 wurden vor einigen Wochen im Unterhaus angefordert, als Herr Baillie, Secretary of the Board of Control <Sekretär der Kontrollbehörde (für indische Angelegenheiten)>, erklärte, daß diese Schriftstücke verschwunden seien.

Im Jahre 1837, als Palmerston zum zweiten Mal Außenminister war und Lord Auckland Generalgouverneur von Indien, wurde der König von Audh <Mohammed Ali-Schah> abermals gezwungen, einen neuen Vertrag mit der Ostindischen Kompanie abzuschließen. Dieser hebt den Artikel 6 des Vertrages von 1801 auf, weil "er kein Rechtsmittel für die in ihm enthaltene Verpflichtung vorsieht" (das Land gut zu regieren); und er legt deshalb in Artikel 7 ausdrücklich fest,

"daß der König von Audh im Einvernehmen mit dem britischen Residenten unverzüglich die geeignetsten Maßnahmen zur Beseitigung der Mängel in der Polizei und in der Gerichts- und Steuerverwaltung seiner Herrschaftsgebiete erwägen soll. Falls Seine Majestät es verabsäumen sollte, dem Rat und Beistand der britischen Regierung zu entsprechen, und falls rohe und systematische Unterdrückung, Anarchie und Mißwirtschaft in den Gebieten von Audh herrschen sollten, so daß die öffentliche Ruhe ernsthaft gefährdet werde, dann behalte die britische Regierung sich das Recht vor, zur Verwaltung beliebiger Gebiete von Audh, ob von kleiner oder großer Ausdehnung, in denen solche Mißstände eventuell eingetreten sind, ihre eigenen Beamten einzusetzen, und zwar für so lange, wie man es für nötig hält; die Einnahmeüberschüsse sollen in diesem Fall nach Deckung aller Unkosten an das Schatzamt des Königs gezahlt und Seiner Majestät ein wahrer und ehrlicher Bericht über die Einnahmen und Ausgaben gemacht werden."

Im Artikel 8 sieht der Vertrag weiterhin vor:

"Falls der Generalgouverneur von Indien und Vorsitzende des Rates gezwungen sein sollte, zur Ausübung der Machtbefugnisse zu schreiten, die ihm durch Artikel 7 verliehen wurden, wird er soviel wie möglich bemüht sein, die einheimischen Institutionen und Verwaltungsformen innerhalb der übernommenen Gebiete mit <473> einigen zugestandenen Verbesserungen beizubehalten, um die Rückgabe dieser Gebiete an den Souverän von Audh zu erleichtern, wenn die rechte Zeit für diese Rückgabe gekommen sei."

In diesem Vertrag wird erklärt, er sei zwischen dem Generalgouverneur von Britisch-Indien und Vorsitzenden des Rates einerseits und dem König von Audh andererseits abgeschlossen worden. In dieser Hinsicht wurde er ordnungsgemäß von beiden Parteien ratifiziert, und die Ratifikationsurkunden wurden ordnungsgemäß ausgetauscht. Doch als man ihn dem Direktorium der Ostindischen Kompanie vorlegte, wurde er annulliert, da er einen Bruch der freundschaftlichen Beziehungen zwischen der Kompanie und dem König von Audh und einen Eingriff des Generalgouverneurs in die Rechte des Herrschers darstelle (10. April 1838). Palmerston hatte die Kompanie weder um die Genehmigung gebeten, den Vertrag abzuschließen, noch nahm er jetzt Notiz von ihrem Annullierungsbeschluß. Auch wurde der König von Audh nicht davon informiert, daß der Vertrag jemals aufgehoben worden war. Das beweist Lord Dalhousie (Protokoll vom 5. Januar 1856):

"Es ist sehr wahrscheinlich, daß sich der König im Verlauf der künftigen Unterredungen mit dem Residenten auf den Vertrag berufen wird, der 1837 mit seinem Vorgänger abgeschlossen worden war; dem Residenten ist bekannt, daß der Vertrag nicht in Kraft blieb, da er vom Direktorium annulliert wurde, sobald er nach England gelangt war. Dem Residenten ist ferner bekannt, daß zwar der König von Audh seinerzeit darüber informiert wurde, gewisse verschärfende Bestimmungen des Vertrages von 1837 hinsichtlich einer verstärkten Streitmacht würden nicht in die Tat umgesetzt, daß aber seine völlige Aufhebung niemals Seiner Majestät mitgeteilt wurde. Die Wirkung dieser Zurückhaltung und unvollständigen Information macht sich jetzt nachteilig bemerkbar, und zwar um so nachteiliger, als das annullierte Dokument noch in einer Vertragssammlung enthalten war, die auf Anordnung der Regierung 1845 veröffentlicht wurde."

In demselben Protokoll heißt es in Abschnitt 17:

"Falls der König auf den Vertrag von 1847 Bezug nehmen und fragen sollte, warum man, wenn weitere Maßnahmen hinsichtlich der Verwaltung von Audh nötig seien, die ausgedehnten Machtbefugnisse, die der britischen Regierung durch besagten Vertrag gegeben sind, jetzt nicht in Kraft setze, so müsse Seine Majestät darüber informiert werden, daß der Vertrag keine Gültigkeit gehabt habe, da das Direktorium, dem er vorgelegt worden sei, ihn gänzlich annulliert habe. Man wird Seine Majestät daran erinnern, daß man dem Hof zu Lakhnau seinerzeit mitgeteilt habe, es seien gewisse Artikel des Vertrages von 1837, die dem König die Kosten für eine zusätzliche Streitmacht auferlegten aufgehoben worden. Man muß annehmen, daß es seinerzeit nicht nötig schien, Seiner Majestät Mitteilung über jene Artikel des Vertrages zu machen, <474> die nicht unmittelbar in Kraft treten mußten, und daß die spätere Benachrichtigung aus Nachlässigkeit unterlassen wurde."

Doch dieser Vertrag wurde nicht nur in die offizielle Sammlung von 1845 aufgenommen, auf ihn verwiesen auch offiziell wie auf einen gültigen Vertrag Lord Auckland in seiner Notifikation an den König von Audh vom 8. Juli 1839, Lord Hardinge (damals Generalgouverneur) in der Beschwerde an denselben König vom 23. November 1847 und Oberst Sleeman (Resident zu Lakhnau) in der Mitteilung an Lord Dalhousie selbst vom 10. Dezember 1851. Warum war nun Lord Dalhousie so erpicht darauf, die Gültigkeit eines Vertrages zu bestreiten, den alle seine Vorgänger und sogar seine eigenen Beauftragten im Verkehr mit dem König von Audh als gültig anerkannt hatten? Einzig und allein deshalb, weil eine Einmischung, welchen Vorwand der König auch immer zur Einmischung liefern könnte, durch den Vertrag darauf beschränkt bliebe, daß die britischen Beamten die Verwaltung im Namen des Königs von Audh übernehmen müßten, dem sie den Überschuß aus den Staatseinnahmen auszahlen sollen. Das war das genaue Gegenteil von dem, was man wollte. Nur eine Annexion würde das erreichen. Daß man die Gültigkeit von Verträgen, die zwanzig Jahre lang die anerkannte Grundlage der Beziehungen gebildet hatten, leugnet, daß man gewaltsam unabhängige Gebiete in offener Verletzung sogar der anerkannten Verträge an sich reißt, daß man schließlich jede Bodenfläche des ganzen Landes konfisziert - all diese verräterischen und brutalen Maßnahmen der Briten gegen die Eingeborenen Indiens beginnen sich jetzt zu rächen, und zwar nicht nur in Indien, sondern auch in England.