Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 420-424.

Karl Marx

Mazzini und Napoleon

Geschrieben am 30. März 1858.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5321 vom 11. Mai 1858]

<421> Herr Mazzini hat kürzlich einen Brief an den französischen Kaiser gerichtet, der in literarischer Hinsicht wohl den ersten Platz unter seinen Schriften einnehmen muß. Nur wenige Spuren sind von jenem unechten Pathos, jener schwülstigen Größe und Weitschweifigkeit, jenem prophetischen Mystizismus übriggeblieben, die für viele seiner Schriften so charakteristisch sind und gewissermaßen die eigentümlichen Züge jener Schule der italienischen Literatur verkörpern, deren Begründer er ist. Auch eine Erweiterung seiner Auffassungen ist wahrnehmbar. Mazzini erschien bisher als das Haupt der republikanischen Formalisten in Europa. Ausschließlich für die politische Form des Staates interessiert, hatten sie keinen Blick für die Organisation der Gesellschaft, auf der der politische Überbau ruht. Sich eines falschen Idealismus rühmend, hielten sie es für unter ihrer Würde, sich mit ökonomischen Tatsachen bekannt zu machen. Nichts ist leichter, als auf Kosten anderer Leute ein Idealist zu sein. Ein übersättigter Mensch mag leicht die Nase rümpfen über den Materialismus hungriger Menschen, die vulgäres Brot anstatt erhabene Ideen fordern. Den Triumvirn der Römischen Republik von 1848, die die Bauern der Campagna in einem Zustand der Sklaverei beließen, der weit schlimmer war als der ihrer Vorfahren aus der römischen Kaiserzeit, war es recht willkommen, sich weitschweifig über den gesunkenen geistigen Zustand auf dem Lande auslassen zu können.

Jeder wirkliche Fortschritt in der modernen Geschichtsschreibung ist dadurch bewirkt worden, daß man von der politischen Oberfläche in die Tiefen des gesellschaftlichen Lebens hinabgestiegen ist. Indem er die verschiedenen Entwicklungsphasen des Grundbesitzes im alten Rom erforschte, hat Dureau de La Malle den Schlüssel zu den Geschicken jener welterobernden Stadt geliefert, neben dem Montesquieus Betrachtungen über ihre Größe und ihren <421> Verfall fast wie die Deklamation eines Schulknaben erscheinen. Der ehrwürdige Lelewel hat durch seine mühevolle Erforschung der ökonomischen Verhältnisse, die den polnischen Bauern aus einem Freien in einen Leibeigenen verwandelten, mehr dazu beigetragen, Klarheit über die Unterjochung seiner Heimat zu schaffen, als der ganze Schwarm von Schriftstellern, deren geistiges Kapital einfach eine Denunziation Rußlands ist. Auch Herr Mazzini verschmäht es jetzt nicht, bei gesellschaftlichen Realitäten zu verweilen, bei den Interessen der verschiedenen Klassen, bei der Ausfuhr und Einfuhr, bei den Preisen für Bedarfsartikel, bei Mieten und anderen solch vulgären Dingen; vielleicht ist er betroffen von dem großen, wenn nicht gar tödlichen Schock, der dem Zweiten Kaiserreich versetzt worden ist, nicht durch die Manifeste der demokratischen Komitees, sondern durch die Handelskrise, die in New York begann, um die ganze Welt zu erfassen. Man kann nur hoffen, daß er bei diesem Punkt nicht stehenbleiben, sondern, frei von falschem Stolz, dazu übergehen wird, seinen ganzen politischen Katechismus im Lichte der ökonomischen Wissenschaft zu reformieren. Sein Brief an Louis-Napoleon beginnt mit dieser kraftvollen Anrede:

"Die Zeit, wo sich Ihr Schicksal erfüllt, rückt näher; die kaiserliche Flut ist sichtbar am Verebben. Auch Sie fühlen es. Alle Maßnahmen, die Sie seit dem 14. Januar in Frankreich eingeleitet haben, alle jene diplomatischen Noten und Aufforderungen, die Sie seit jenem verhängnisvollen Tage in alle vier Winde verstreut haben, verraten die Ruhelosigkeit des Schreckens. Ein Gefühl der heftigsten Todespein, das an die Qualen Macbeths erinnert, nagt an Ihrer Seele und offenbart sich in allem, was Sie tun oder sagen. Ein Vorgefühl beschleicht Ihr Inneres, daß summa dies et ineluctablie fatum <das Ende der Tag' und das unabwendbare Los (Vergil. "Aeneis", Buch II)> bevorsteht. Der 'Than von Glamis, Than von Gawdor und König' - der Prätendent, Präsident und Usurpator - sie sind gerichtet. Der Zauber ist gebrochen. Das Gewissen der Menschheit ist aufgerüttelt, es starrt Sie unerbittlich an, es fordert Sie heraus, es prüft sorgfältig Ihre Handlungen und fordert Rechenschaft über Ihre Versprechungen. Von diesem Augenblick an ist Ihr Schicksal besiegelt. Sie mögen jetzt noch Monate leben - Jahre nicht mehr."

Nachdem er so den Untergang des Zweiten Kaiserreiches angekündigt, vergleicht Mazzini den gegenwärtigen ökonomischen Zustand Frankreichs mit Napoleons glühenden Versprechungen der allgemeinen Prosperität:

"Als Sie gesetzwidrig die Macht an sich rissen, versprachen Sie, gleichsam als Sühne für ihren Ursprung, das rastlose, unruhige, Unruhe stiftende Frankreich zum Frieden zu führen. Ist Einkerkern, Knebeln, Verbannen - Herrschen? Ist der Gendarm ein Lehrer? Ist der Spitzel ein Apostel der Sittlichkeit und des gegenseitigen Ver- <422> trauens? Sie sagten dem ungebildeten französischen Bauern, daß mit Ihrem Kaiserreich für ihn eine neue Ära anbrechen würde und daß die Lasten, unter denen er stöhnt, alle, eine nach der anderen, verschwinden würden. Ist auch nur eine verschwunden? Können Sie auch nur eine einzige Verbesserung in seinem Los aufweisen - ist auch nur ein einziger Faktor der Besteuerung beseitigt? Können Sie erklären, wie es kommt, daß der Bauer sich jetzt in die Marianne einschreiben läßt? Können Sie leugnen, daß die Absorption der einst für die Landwirtschaft bestimmten Geldmittel durch die von Ihnen geöffneten Kanäle der industriellen Spekulation den Landmann der Möglichkeit beraubt hat, Vorschüsse für den Kauf von Arbeitsgeräten und für die Bodenverbesserung zu erhalten? Sie köderten den irregeleiteten Arbeitsmann, als Sie erklärten, daß Sie der Empereur du peuple <Kaiser des Volkes> sein würden, eine Art umgemodelter Heinrich IV., daß Sie ihm ständige Arbeit verschaffen würden, hohe Löhne und la poule au pot <das Huhn im Topf>. Ist nicht gerade jetzt la poule au pot etwas teuer in Frankreich? Ist nicht die Miete, sind nicht einige der lebensnotwendigsten Dinge noch teurer? Sie haben neue Straßen - neue Verbindungslinien, entworfen nach den strategischen Erfordernissen Ihrer Unterdrückungspolitik - angelegt, niedergerissen und wiederaufgebaut. Gehört aber die Mehrzahl der Arbeiterklasse zu der begünstigten Baubranche? Können Sie Paris und die größeren Provinzstädte unbegrenzt umstülpen, um dem proletaire eine Quelle der Arbeit und des Verdienstes zu schaffen? Können Sie auch nur davon träumen, aus solch einem künstlichen zeitweiligen Hilfsmittel einen Ersatz für regulären, normalen Fortschritt und lohnende Produktion zu schaffen? Hat die Nachfrage nach der Produktion jetzt einen befriedigenden Stand? Sind in Paris jetzt nicht drei Fünftel der Schreiner, Zimmerleute und Mechaniker ohne Beschäftigung? Der leicht erschreckten, leicht bezauberten Bourgeoisie wisperten Sie phantastische Träume ins Ohr, Hoffnungen auf eine verdoppelte industrielle Tätigkeit, auf neue Profitquellen, auf das Eldorado lebhafter Ausfuhr und internationalen Verkehrs. Wo sind sie? Stagnation schwebt bei Ihnen über dem schöpferischen Leben Frankreichs, Handelsaufträge gehen zurück, das Kapital beginnt sich zurückzuziehen. Wie der Barbar fällten Sie den Baum, um die Frucht zu pflücken. Sie haben künstlich eine wilde, unmoralische, alles versprechende und nichts erfüllende Spekulation angefacht; durch marktschreierisch angekündigte, riesige, aufgeblähte Vorhaben zogen Sie die Ersparnisse der kleinen Kapitalisten aus allen vier Ecken Frankreichs nach Paris und entzogen sie den einzig wahren ständigen Quellen des Nationalreichtums - der Landwirtschaft, dem Gewerbe und der Industrie. Diese Ersparnisse wurden verschlungen, sie verschwanden in den Händen einiger Dutzend Großspekulanten; sie wurden maßlos für unproduktiven Luxus vergeudet oder geräuschlos und vorsichtig - ich könnte Mitglieder Ihrer Familie anführen - ins sichere Ausland gebracht. Die Hälfte dieser Vorhaben ist in Vergessenheit und Nichtsein gesunken. Einige ihrer Urheber reisen vorsichtshalber im Ausland umher. Sie sehen sich einer unzufriedenen Bourgeoisie gegenüber, all Ihre normalen Hilfsquellen sind versiegt, auf Ihnen lastet der Alpdruck, etwa fünfhundert Millionen Francs für unproduktive öffentliche <423> Arbeiten in allen größeren Städten Frankreichs verausgabt zu haben; Sie haben ein offensichtliches Defizit von dreihundert Millionen in Ihrem letzten Budget; die Stadt Paris ist außerordentlich verschuldet; und Sie können keinen Ausweg zeigen, es sei denn, Sie würden eine neue Anleihe von einhundertundsechzig Millionen aufnehmen, und nicht in Ihrem Namen, sie würde keinen Erfolg haben, sondern im Namen des Stadtrates selbst, und um die Zinsenlast zu decken, müßten die Schlagbäume des verhaßten Oktroi bis zu den Außenbefestigungen vorverlegt werden. Die Abhilfe wird schwer auf der Arbeiterklasse lasten und die bisher ergebenen Vorstädte gegen Sie erbittern. Sie sind am Ende mit Ihren künstlichen Erfindungen; von nun an wird alles, was Sie unternehmen, um der finanziellen Schwierigkeiten Ihrer Lage Herr zu werden, einen Schritt in den verderblichen Abstieg bedeuten. Bisher haben Sie von einer unbegrenzten Reihe von Anleihen und Krediten gelebt; wo aber ist Ihre Garantie für verlängerten Kredit? Rom und Napoleon plünderten eine Welt; Sie haben nur Frankreich zum Plündern. Roms und Napoleons Armeen lebten von der Eroberung; Ihre kann es nicht. Sie mögen von Eroberung träumen, aber Sie können nicht und wagen nicht, sich darauf einzulassen. Die römischen Diktatoren und Ihr Onkel führten Eroberungsarmeen an; wie sehr Sie auch vergoldete Paradeuniformen lieben mögen, ich bezweifle Ihre Fähigkeit, auch nur einige zusammengezogene Bataillone zu führen."

Von den materiellen Aussichten des Zweiten Kaiserreiches wendet sich Mazzini den moralischen zu und ist natürlich etwas bestürzt, als er die Beweise für die Behauptung, die Freiheit trage keine bonapartistische Livree, zusammenfaßt. Die Freiheit, nicht nur in ihren körperlichen Formen, sondern in ihrer eigentlichen Seele, ihrem intellektuellen Leben, ist unter der gemeinen Berührung dieser Resurrekionisten einer vergangenen Epoche zusammengeschrumpft. Infolgedessen sind die Vertreter des intellektuellen Frankreichs, die sich in keiner Weise durch eine übergroße Feinfühligkeit des politischen Gewissens ausgezeichnet und es niemals versäumt haben, sich um jedes Regime zu scharen, vom Regenten <Philippe von Orléans> bis Robespierre, von Ludwig XIV. bis Louis-Philippe, vom Ersten Kaiserreich bis zur Zweiten Republik, zum ersten Male in der französischen Geschichte massenweise von einer bestehenden Regierung abgefallen.

"Von Thiers bis Guizot, von Cousin bis Villemain, von Michelet bis Jean Reynaud schreckt das intellektuelle Frankreich vor Ihrer befleckenden Berührung zurück. Ihre Männer sind Veuillot, der Verteidiger der Bartholomäusnacht und der Inquisition, Granier de Cassagnac, der Schutzherr der Negersklaverei, und ihresgleichen. Um einen Mann zu finden, würdig, Ihr an England gerichtetes Pamphlet zu unterstützen, müssen Sie sich nach einem umsehen, der ein Abtrünniger vom Legitimismus und ein Abtrünniger vom Republikanismus ist."

<424> Mazzini trifft dann die wahre Bedeutung der Ereignisse vom 14. Januar, indem er erklärt, daß die Geschosse, die den Kaiser verfehlten, das Kaiserreich durchbohrten und die Hohlheit seiner Prahlereien bloßlegten.

"Erst vor kurzer Zeit brüsteten Sie sich gegenüber Europa, Ihnen gehöre das Herz Frankreichs, das ruhig, glücklich und unerschütterlich Sie als seinen Retter lobpreise. Wenige Monate waren vergangen, man hörte die Explosion in der Rue Lapelletier, und nun erklären Sie nach sieben Jahren unbeschränkter Herrschaft durch Ihre wilden, überstürzten Unterdrückungsmaßnahmen, durch Ihre halb drohenden, halb bittenden Appelle an Europa, durch die von Ihnen durchgeführte militärische Zersplitterung des Landes, mit einem Haudegen im Innenministerium, mit einer überwältigenden, konzentrierten Armee, nach der Säuberung der nationalen Reihen von allen gefürchteten führenden Männern, daß Sie nicht leben und herrschen können, wenn nicht Frankreich in eine riesige Bastille und Europa in eine simple kaiserliche Polizeistation verwandelt wird ... Ja, das Kaiserreich hat sich als Lüge erwiesen. Sie formten es, Herr, nach Ihrem Ebenbild. Mit Ausnahme Talleyrands hat in den letzten fünfzig Jahren kein Mensch in Europa mehr gelogen als Sie; und das ist das Geheimnis Ihrer zeitweiligen Macht."

Die Lügen des Retters der Gesellschaft werden dann von 1831 an rekapituliert, als er sich der Insurrektionsbewegung der römischen Bevölkerung gegen den Papst als "einer heiligen Sache" anschloß, bis 1851, als er einige Tage vor dem coup d'état der Armee sagte: "Ich werde nichts von Ihnen verlangen, das über mein Recht hinausgeht, das von der Verfassung anerkannt ist", und bis zum 2. Dezember selbst, als das endgültige Ergebnis seiner Usurpationsprojekte noch unentschieden war und er verkündete, daß "es seine Pflicht sei, die Republik zu beschützen". Und schließlich sagt Mazzini Napoleon rundheraus, daß ohne England er schon längst von der Revolution besiegt worden wäre. Nachdem er dann Napoleons Behauptung widerlegt, er habe das Bündnis zwischen Frankreich und England begründet, schließt er mit den Worten:

"Was immer die gleisnerische, sich verstellende Diplomatie sagen mag, Sie, Herr, stehen nun allein in Europa."