Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 412-416.

Karl Marx

Die gegenwärtige Position Bonapartes

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5287 vom 1. April 1858]

<412> Paris, 18. März 1858

"Risorgerò nemico ognor più crudo
Cenere anco sepolto e spirto ignudo."

("Als grausamerer Feind noch werd' ich auferstehn, auch wenn begrabne Asche nur und nackter Geist.") Diese beiden Zeilen aus Tassos "Jerusalem", die Orsini nach Favres Rede mit einem seltsamen Lächeln seinem Verteidiger zuflüsterte, beginnen bereits sich zu erfüllen. Die Haltung der Menge, die den Tod des italienischen Patrioten miterlebte, wird von einem Augenzeugen wie folgt geschildert:

"Die Furcht der Regierung war so groß gewesen, daß eine ganze Division unter dem persönlichen Befehl eines Offiziers im Generalsrang aufgeboten wurde, die bei der Exekution zugegen war. Fünfzehntausend Soldaten waren bereit, auf das geringste Signal hin zu handeln, und alle Gänge und Ausgänge wurden wie zur Zeit eines Aufstands bewacht. Nach meiner Schätzung waren zwischen 90.000 und 100.000 Leute aus den Vorstädten, Arbeiter in ihren Blusen, auf den Straßen und freien Plätzen nächst dem Place de le Roquette versammelt; doch durch die Art und Weise, in der die Soldaten postiert waren, standen sie so, daß sie wenig oder gar nichts sehen konnten. Als das Beil mit einem toten, stumpfen Ton auf Orsini herniederfiel, ertönte als Antwort ein unermeßliches, aber unterdrücktes 'Vive la Republique' <'Es lebe die Republik'>. Ich kann das nicht genau beschreiben, es war wie ein gewaltiges Raunen; es war kein Schrei oder Ruf, sondern es klang wie das Atmen oder das Seufzen von Tausenden menschlicher Wesen. Es wurde von der Obrigkeit wohl verstanden, denn die Soldaten erhoben auf der Stelle den wirrsten Lärm, den man sich vorstellen konnte, sie schlugen ihre Pferde, damit sie stampften und ausschlugen, sie rasselten mit ihren Waffen und brachten es fertig, das Flüstern des Volkes zu ersticken, ohne es eigentlich zu unterdrücken. Aber die Worte 'Vive la Republique!' müssen jedem deutlich vernehmbar gewesen sein. Ich <413> ging absichtlich zu Fuß nach Hause und drängte mich langsam durch die Gruppen, wo sie am dichtesten standen. Ich muß bekennen, daß ich überall Ausdrücke des Mitgefühls und der Bewunderung für Orsini hörte, dessen Verbrechen gänzlich vergessen zu sein scheint, während nur der Eindruck bleibt, den sein Mut und die Großherzigkeit gegenüber seinen Gefährten hervorgerufen haben. Pieris Namen habe ich nicht einmal gehört. Ich möchte sagen, die Haltung der Bevölkerung war äußerst bedrohlich, denn sie trug die Zeichen eines Hasses und eines Rachedursts, deren Tiefe in Worten nicht auszudrücken ist. Alle Bemerkungen, die ich hörte, wurden mit gedämpfter Stimme gemacht, als ob man jeden Augenblick einen Polizeispitzel fürchtete."

Demzufolge scheint es, daß die Maßnahmen zur "allgemeinen Sicherheit", die das republikanische Element ausrotten sollten, die Massenverhaftungen und Deportationen, ebensowenig gefruchtet haben wie die cités ouvrières <Arbeitersiedlungen>, die neu eingerichteten Werkstätten und die anderen Versuche, das Gewissen der französischen Arbeiterklasse zu kaufen. Die bei früherer Gelegenheit erörterten Umstände, welche Orsinis Prozeß begleiteten, sind nun zum allgemeinen Gesprächsthema in Paris geworden. Es ist sogar durchgesickert, daß bei der Untersuchung der umfangreichen Korrespondenz von Orsini und Pieri Briefe ans Tageslicht kamen, die vor vielen Jahren von Louis-Napoleon geschrieben und eigenhändig unterzeichnet worden waren. Wäre der französische "Constitutionnel" noch in der angenehmen Position, die er zu Herrn Guizots Zeiten einnahm, würde man uns Tag für Tag mit der weihevollen Phrase bewirten: "L'horizon politique s'obscurcit." <"Der politische Horizont verdunkelt sich."> Das ist tatsächlich der Fall. Groß war die Bestürzung in den Tuilerien, als man von dem Verhalten der Offiziere der Garnison zu Chalon erfuhr, und maßlos die Wut über die naiveté <Naivität>des "Moniteur", der Frankreich und Europa darüber informierte, daß die Offiziere von Chalon, anstatt auf der Stelle über die ganze Angelegenheit zu lachen und ihre Soldaten antreten zu lassen oder zu erklären, daß sie, selbst wenn man in Paris die Republik ausgerufen hätte, gegen diese für das Kaiserreich kämpfen würden, daß sie anstatt dessen zuerst zum Unterpräfekten gelaufen kamen und nicht geneigt waren, ihr Leben und ihre Stellungen für den Kaiser aufs Spiel zu setzen, ehe sie sich nicht versichert hatten, ob die Republik proklamiert war oder nicht. Die Tatsache beweist, daß die Masse der Armee nicht zuverlässig ist. Außer ihren Führern, die zu stark kompromittiert sind oder allzu glänzende Prämien erhalten haben, um ihre Geschicke von dem des Kaiserreiches lösen zu können, gibt es in der Armee vielleicht nur einen einzigen Teil, der vollkommen vertrauenswürdig ist, nämlich die <414> Garde. Dieses Korps ist tatsächlich sehr stark, und es muß gewärtig sein, daß es unter jeder anderen Regierung in die Linie eingereiht oder überhaupt aufgelöst wird. Die Gardeinfanterie besteht aus vier Regimentern Grenadiere, zwei Regimentern Voltigeurs, einem Regiment Gendarmen, einem Regiment Zuaven und einem Bataillon Chasseurs - zusammen siebzehn Bataillone Infanterie. Außerdem zählt die Garde zwei Regimenter Kürassiere, zwei Regimenter Dragoner, ein Regiment Grenadiere zu Pferd, ein Regiment Husaren und ein Regiment Chasseurs, oder insgesamt einundzwanzig Schwadronen Kavallerie; und auch die Gardeartillerie ist ziemlich stark. Die zahlenmäßige Stärke dieses Korps beträgt etwa 20.000 Mann mit 40 bis 50 Kanonen, ein hinreichend fester Kern, um den Tendenzen zum Schwanken zu begegnen, die im Falle eines ernsthaften Kampfes mit der Pariser Bevölkerung in der Linie überhandnehmen könnten. Darüber hinaus ist alles für eine plötzliche Konzentration der Truppen aus den Provinzen vorgesehen, wie schon der oberflächlichste Blick auf eine Eisenbahnkarte Frankreichs beweist, so daß eine Bewegung, der es nicht gelingen würde, die Regierung zu überrumpeln, mit Sicherheit die gewaltige Macht von 60.000 bis 80.000 Mann gegen sich aufmarschiert sähe. Doch schon die Maßregeln selbst, die Bonaparte zur Unterdrückung eines bewaffneten Aufstands getroffen hat, machen es ganz unwahrscheinlich, daß er überhaupt ausbricht, es sei denn bei einer großen unvorhergesehenen Gelegenheit, wenn die entschieden antibonapartistische Haltung der Bourgeoisie, wenn die geheimen Gesellschaften, die die unteren Schichten der Armee unterwühlen, wenn die kleinliche Eifersucht, die verräterische Käuflichkeit und die orleanistischen sowie legitimistischen Neigungen, die ihre oberen Schichten spalten, die Geschicke aller Wahrscheinlichkeit nach zugunsten der revolutionären Massen wenden. Das Schlimmste, was den letzteren passieren könnte, wäre ein erfolgreicher Anschlag auf Bonapartes Leben. Vielleicht würde sich in diesem Falle die Antwort als Prophezeiung erweisen, die Morny zu Beginn des Krieges gegen Rußland auf Bonapartes Frage, was sie bei seinem plötzlichen Tode zu tun gedächten, gegeben hat.

"Nous commencerions de jeter tous les Jerômes par la fenêtre, et puis nous tacherions de nous arranger tant bien que mal avec les Orléans." ("Wir würden damit beginnen, alle Jerômes aus dem Fenster hinauszuwerfen, und dann würden wir versuchen, uns recht und schlecht mit dem Haus Orleans zu verständigen.")

Ehe die Bevölkerung der Faubourgs in der Lage wäre, ihre Entscheidung über den einzuschlagenden Weg zu treffen, könnte Morny seine Palastrevolution ausführen, die Orléans proklamieren und somit die Bourgeoisie in das antirevolutionäre Lager hinüberziehen.

<415> Inzwischen tragen Bonapartes Enttäuschungen auf dem Gebiet der Außenpolitik in hohem Maße dazu bei, ihn in seinem Terrorsystem im Inneren anzutreiben. Auf jede Schlappe, die er von außen her erleidet, und die die Schwäche seiner Position verrät und den Bestrebungen seiner Gegner neuen Auftrieb gibt, folgen notwendigerweise neue Kundgebungen sogenannter "Stärke der Regierung". Und diese außenpolitischen Fehlschläge haben sich in den letzten Wochen schnell angehäuft. Zuerst ereignete sich das große Mißgeschick in bezug auf England. Dann faßte sogar die Schweiz, obwohl sie sehr feige Konzessionen gemacht hatte, den Mut, sich gegen die weiteren Schritte zu wehren, die ihr in der rücksichtslosesten Weise aufgenötigt wurden. Der Eidgenossenschaft wurde offiziell erklärt, daß gegebenenfalls französische Infanterieregimenter einmarschieren und jene Polizeipflichten erfüllen würden, zu denen die Polizei der Schweiz selbst nicht in der Lage wäre. An diesem Punkt hielt es sogar Herr Kern für notwendig, seine Pässe zu verlangen, und die französische Regierung lenkte ein. Belgien, das sein Gesetz nach dem Diktat Bonapartes abgeändert hatte, lehnte es ab, sich der Forderung nach Ausweisung General Changarniers zu fügen. Der Ausschuß der piemontesischen Kammer, der mit der Aufgabe betraut war, den Gesetzentwurf zur Angleichung der sardinischen Institutionen an die idees napoléoniennes zu prüfen, schlug mit einer Mehrheit von fünf gegen zwei vor, das bonapartistische Projekt schlicht und einfach abzulehnen. Österreich, das sich völlig im klaren darüber ist, daß ihm Orsinis Hinrichtung den Helden von Straßburg mit Haut und Haar ausgeliefert hat und daß er es nicht mehr mit Italien beunruhigen kann, zeigt ihm die kalte Schulter.

Sich der Lächerlichkeit preiszugeben, ist für die französische Regierung der sicherste Weg, sich selbst zu vernichten. Bonaparte ist sich des grotesken Scheins bewußt, den seine letzten vereitelten Versuche, den Diktator Europas zu spielen, auf ihn geworfen haben. Je verächtlicher seine Position in Europa wird, um so schärfer empfindet er die Notwendigkeit, Frankreich gegenüber furchterregend zu erscheinen. Demzufolge dehnt sich die Terrorherrschaft in zunehmendem Maße aus. General Espinasse, der das Innenministerium leitet, wird nunmehr von Herrn Boittelle unterstützt, einem früheren Husarenoberst, der jetzt die Polizeipräfektur unter sich hat. Das System, das von diesen militärischen Myrmidonen des Zweiten Kaiserreiches praktiziert worden ist, wird in "The Continental Review" wie folgt beschrieben:

"Sie haben die alten Listen der Personen hergenommen, die nach den Unruhen von 1848 und 1851 von der Polizei als gefährlich bezeichnet worden waren, und sie haben diese Leute sowohl in Paris als auch in den Departements en masse verhaftet. Das alles geschah, ohne daß die geringsten Nachforschungen darüber angestellt <416> wurden, ob diese Personen seit jener Zeit Anlaß zur Klage gegeben haben oder nicht, und es ist zu den grausamsten Folgen gekommen. So sind ehrbare Bürger, die 1848 vom Wirbelsturm, der die ganze Nation aufwühlte, mitgerissen wurden, und die sich zu fortschrittlichen Ideen bekannten, die aber seitdem die Politik aufgegeben haben und von denen viele jetzt Familienoberhäupter und fleißige Geschäftsleute sind, durch die Polizei mitten aus ihren Geschäften und von ihren Familien gerissen worden. Es sind bekannte Tatsachen, die zeigen, wie wenig Ursache für die Verhaftungen bestand und wie sehr sogar der Schein der Gesetzlichkeit oder Notwendigkeit bei der Ausführung dieser Terrormaßnahmen fehlte. Unter den Personen, die die Polizeiagenten verhaften wollten, waren einige, die seit nicht weniger als sechs Jahren außerhalb Frankreichs weilten und die folglich kein Vergehen begangen haben konnten, die man aber, wenn sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Frankreich gewesen wären, unter dem Vorwand der 'öffentlichen Sicherheit' unfehlbar ins Gefängnis geworfen hätte. Ja, mehr noch, in der Absicht, Verhaftungen vorzunehmen, ging die Polizei sogar in die Häuser mehrerer Personen, die seit einigen Jahren tot waren. Ihre Namen standen in den Listen der Personen, die ehemals verhaftet worden waren (und viele davon einfach deshalb, weil sie sich in der Menschenmenge auf den Straßen befunden hatten, das war ihr einziges Verbrechen). Hieraus wird deutlich, daß die Polizei nicht gegen die Schuldigen kämpft, sondern gegen die Verdächtigen, und die Art, in der das Gesetz gehandhabt wird, ist schon allein eine Rechtfertigung des Namens, den die öffentliche Meinung diesem Gesetz beilegt. In den Departements geht es fast genauso zu wie in Paris. Die Listen der Verdächtigen wurden von den Verwaltungsbehörden aufgestellt, und wehe denjenigen, die es bei den Wahlen im vergangenen Juni gewagt hatten, sich dem vom Präfekten unterstützten Kandidaten entgegenzustellen, und die, in der Vorstellung, die Verfassung, das Wahlgesetz und die Zirkulare des Innenministers wären ernsthafte Realitäten, geglaubt hatten, sie könnten Maßnahmen für die Wahl der Kandidaten ihrer Neigung ergreifen. Diese letzteren werden als die ärgsten Verbrecher angesehen, und sie müssen entweder sehr reich, sehr einflußreich oder sehr gut durch Freunde geschützt sein, um der Rache jener Beamten zu entgehen, denen sie sich in den Weg gestellt hatten. Unter den in den Provinzen verhafteten Personen erscheint der Name des Generals Courtais, der, nachdem er 1848 als Oberbefehlshaber der Nationalgarde von Paris eine Rolle gespielt hatte, seit neun Jahren in der größten Zurückgezogenheit ein Landhaus im Departement Allier bewohnte, abgeschieden von der Gesellschaft und gänzlich entfremdet der Politik und den öffentlichen Angelegenheiten."

Teils durch dieses System der "allgemeinen Sicherheit", teils durch die Schmerzen einer chronisch gewordenen kommerziellen Krise, wird die französische Bourgeoisie bald bis zu dem Punkt gebracht worden sein, wo sie eine Revolution zur "Wiederherstellung des Vertrauens" für notwendig erachten wird.