Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 378-381.

Karl Marx

Die bevorstehende Indienanleihe

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5243 vom 9, Februar 1858]

<378> London, 22. Januar 1858

Die steigende Tendenz auf dem Londoner Geldmarkt, die durch den Abzug einer enormen Masse von Kapital aus der gewöhnlichen produktiven Anlagensphäre und dessen folgerichtige Überführung auf den Wertpapiermarkt bedingt ist, hat in den letzten vierzehn Tagen wegen der Aussichten auf eine unmittelbar bevorstehende Indienanleihe in Höhe von acht bis zehn Millionen Pfund Sterling etwas nachgelassen. Diese Anleihe, die in England aufgenommen und vom Parlament unverzüglich bei seinem Zusammentritt im Februar bestätigt werden soll, wird gebraucht, um sowohl die Ansprüche der englischen Gläubiger an die Ostindische Kompanie als auch die Sonderausgaben für Kriegsmaterial, Proviant, Truppentransporte usw. zu decken, die durch den indischen Aufstand notwendig geworden waren. Im August 1857, vor der Vertagung des Parlaments, hatte die britische Regierung feierlich im Unterhaus erklärt, daß keine derartige Anleihe beabsichtigt sei, da die finanziellen Mittel der Kompanie völlig ausreichend wären, um der Krise zu begegnen. Die angenehme Illusion, in der man auf diese Weise John Bull befangen hielt, verflog jedoch bald, als herauskam, daß sich die Ostindische Kompanie durch ein Verfahren höchst fragwürdiger Art eine Summe von 3.500.000 Pfd.St. angeeignet hatte, die ihr von verschiedenen Firmen für den Bau von Eisenbahnen in Indien anvertraut worden war, und daß sie sich darüber hinaus insgeheim 1.000.000 Pfd.St. von der Bank von England und eine weitere Million von den Londoner Aktienbanken geliehen hatte. Nachdem die Öffentlichkeit so auf das Schlimmste vorbereitet war, zögerte die Regierung nicht länger, die Maske fallenzulassen und in halbamtlichen Artikeln in der "Times", im "Globe" und in anderen Regierungsorganen die Notwendigkeit einer Anleihe einzugestehen.

<379> Man könnte sich fragen, warum ein besonderes Gesetz seitens der legislativen Gewalt notwendig ist, um solch eine Anleihe auszuschreiben, und weiterhin, warum so ein Ereignis überhaupt Besorgnis hervorrufen kann, da ja im Gegenteil jede Ausweichmöglichkeit für britisches Kapital, das jetzt vergebens nach profitabler Anlage sucht, unter den gegebenen Umständen als unerwarteter Glücksfall und als höchst begrüßenswertes Mittel gegen die schnelle Entwertung des Kapitals betrachtet werden müßte.

Es ist allgemein bekannt, daß die Handelstätigkeit der Ostindischen Kompanie 1834 beendet war, als die ihr noch verbliebene Hauptquelle kommerzieller Profite, das Handelsmonopol mit China genommen wurde. Da die Besitzer von Ostindienaktien ihre Dividenden, zumindest nominell, aus den Handelsprofiten der Kompanie gezogen hatten, war hinsichtlich dieser Dividenden eine finanzielle Neuregelung notwendig geworden. Die Zahlung der Dividenden, die man bis zu dieser Zeit aus den kommerziellen Einkünften der Kompanie bestritten hatte, mußte nunmehr auf Kosten ihrer politischen Einkünfte erfolgen. Die Besitzer von Ostindienaktien sollten ihre Dividenden künftig aus jenen Einkünften ausgezahlt bekommen, deren sich die Ostindische Kompanie kraft ihrer Regierungsbefugnisse erfreute; und durch Gesetz des Parlaments wurde das Kapital der Kompanie, das sich auf 6.000.000 Pfd.St. belief und zehn Prozent Zinsen trug, in ein Kapital umgewandelt, das nur zum Preis von 200 Pfd.St. für je 100 Pfd.St. Aktien liquidiert werden kann. Mit anderen Worten, das ursprünglich 6.000.000 Pfd.St. betragende Kapital der Ostindischen Kompanie wurde in ein Kapital von 12.000.000 Pfd.St. umgewandelt, das fünf Prozent Zinsen trägt und jene Einkünfte belastet, die aus den Steuern des indischen Volkes herrühren. Die Schuld der Ostindischen Kompanie wurde somit durch einen parlamentarischen Taschenspielertrick in eine Schuld des indischen Volkes verwandelt. Nebenbei gibt es noch eine Schuld von mehr als 50.000.000 Pfd.St., die von der Ostindischen Kompanie in Indien aufgenommen wurde und ausschließlich die Staatseinkünfte jenes Landes belastet; solche von der Kompanie in Indien selbst aufgenommene Anleihen sind stets als außerhalb des Bereichs der parlamentarischen Gesetzgebung liegend betrachtet worden und haben diese sowenig betroffen wie die Schulden, welche z.B. die Kolonialregierungen Kanadas oder Australiens eingegangen sind.

Andererseits war es der Ostindischen Kompanie ohne die ausdrückliche Genehmigung des Parlaments untersagt, zinspflichtige Schulden in Großbritannien selbst aufzunehmen. Als die Kompanie vor einigen Jahren begann, Eisenbahnen und elektrische Telegraphenlinien in Indien anzulegen, bemühte sie sich um die Zulassung indischer Obligationen auf dem Londoner <380> Markt; diesem Gesuch wurde bis zu einer Höhe von 7.000.000 Pfd.St. stattgegeben; die Obligationen sollten 4 Prozent Zinsen tragen und nur aus den indischen Staatseinkünften gedeckt werden. Zu Beginn des Aufruhrs in Indien belief sich diese Schuld auf 3.894.400 Pfd.St., und eben die Notwendigkeit, sich erneut an das Parlament zu wenden, zeigt, daß die Ostindische Kompanie während des indischen Aufstandes ihre gesetzlichen Möglichkeiten, im Mutterland Geld aufzunehmen, erschöpft hat.

Nun ist es kein Geheimnis, daß die Ostindische Kompanie, bevor sie sich zu diesem Schritt entschloß, in Kalkutta eine Anleihe ausgeschrieben hatte, die sich jedoch als völliger Fehlschlag erwies. Das beweist einmal, daß die indischen Kapitalisten weit davon entfernt sind, die Zukunftsaussichten der britischen Herrschaft in Indien mit der gleichen Zuversicht zu betrachten, wie es die Londoner Presse tut; und zum anderen erbittert es die Empfindungen John Bulls ungemein, seitdem er weiß, welche gewaltige Kapitalhortung in den letzten sieben Jahren in Indien vor sich gegangen ist, wohin nach einem kürzlich von der Firma Haggard & Pixley veröffentlichten Bericht allein aus dem Londoner Hafen 1856 und 1857 Edelmetall in Höhe von 21.000.000 Pfd.St. verschifft worden ist. Die Londoner "Times" hat ihre Leser in höchst überzeugender Weise davon unterrichtet, daß

"von allen Mitteln, die Eingeborenen zur Loyalität anzuspornen, jenes am wenigsten bedenklich war, sie zu unseren Gläubigern zu machen; während andererseits bei einem reizbaren, verschwiegenen und habsüchtigen Volk kein Anlaß zu Unzufriedenheit oder Verrat stärker sein konnte als die Vorstellung, daß es Jahr für Jahr Steuern zahlen müsse, um reichen Gläubigem in anderen Ländern Dividenden zu liefern".

Die Inder jedoch scheinen die Schönheit eines Plans nicht zu erfassen, der auf Kosten des indischen Kapitals die englische Herrschaft nicht nur wiederherstellen, sondern gleichzeitig auf einem Umweg die Geldtruhen der Eingeborenen dem britischen Handel öffnen würde. Wenn tatsächlich den indischen Kapitalisten die britische Herrschaft so angenehm wäre, wie jeder wahre Engländer hoch und heilig versichert, hätte ihnen keine bessere Gelegenheit geboten werden können, ihre Loyalität zu zeigen und ihr Silber loszuwerden. Da die indischen Kapitalisten ihre Truhen verschließen, muß John Bull sein Herz erschließen, und zwar der bitteren Wahrheit, daß er, zumindest in der ersten Zeit, die Kosten der indischen Erhebung selbst zu tragen hat, ohne irgendwelche Unterstützung seitens der Eingeborenen. Außerdem schafft die bevorstehende Anleihe erst einen Präzedenzfall, sie sieht aus wie das erste Blatt in einem Buch, das den Titel trägt: "Die englisch-indischen inneren Schulden." Es ist kein Geheimnis, daß die Ostindische <381> Kompanie nicht acht Millionen oder zehn Millionen, sondern fünfundzwanzig bis dreißig Millionen Pfund Sterling braucht, und auch diese nur als erste Rate, nicht für künftige Ausgaben, sondern für bereits fällige Schulden. Das Defizit in den Einkünften der letzten drei Jahre belief sich auf 5.000.000 Pfd.St.; das von den Aufständischen bis zum 15. Oktober vorigen Jahres geraubte Schatzgeld betrug nach Angaben des "Phoenix", eines indischen Regierungsblattes, 10.000.000 Pfd.St.; die Einbuße an Einkünften infolge des Aufstandes betrug in den Nordostprovinzen 5.000.000 Pfd.St., und die Kriegsausgaben betrugen mindestens 10.000.000 Pfd.St.

Zwar würden aufeinanderfolgende Anleihen der Ostindischen Kompanie auf dem Londoner Geldmarkt den Wert des Geldes heben und die steigende Entwertung von Kapital, d.h. das weitere Sinken des Zinsfußes verhindern; doch dieses Sinken ist gerade für das Wiederaufleben der britischen Industrie und des britischen Handels erforderlich. Jeder künstliche Hemmschuh, der das Sinken der Diskontorate verhindern soll, ist gleichbedeutend mit einer Erhöhung der Produktionskosten und der Kreditsätze, die zu tragen die englische Industrie und der englische Handel bei ihrem derzeitigen schwachen Zustand sich nicht in der Lage fühlen. Daher der allgemeine Notschrei bei der Ankündigung der indischen Anleihe. Obwohl die Sanktion durch das Parlament der Anleihe der Kompanie keine Reichsgarantie verleiht, muß auch diese Garantie gewährt werden, wenn zu anderen Bedingungen kein Geld zu bekommen ist; und trotz aller feinen Unterschiede wird die Schuld der Ostindischen Kompanie, sobald ihre Stelle von der britischen Regierung eingenommen wird, sich mit der britischen Schuld verschmelzen. Eine weitere Erhöhung der großen nationalen Schuld scheint deshalb eine der ersten finanziellen Folgen des indischen Aufstandes zu sein.