Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 353-358.

Friedrich Engels

[Die Belagerung und Erstürmung Lakhnaus]

Geschrieben am 4. Januar 1858.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5235 vom 30. Januar 1858, Leitartikel]

<353> Die letzte Post aus Kalkutta brachte einige Einzelheiten, die ihren Weg hierher durch die Londoner Blätter gefunden haben; aus ihnen kann man sich ein Urteil über Sir Colin Campbells Leistung in Lakhnau bilden. Da die britische Presse behauptet, diese Waffentat rage im Glanze beispiellosen Ruhmes in der Kriegsgeschichte hervor, mag es ganz angebracht sein, diese Angelegenheit ein wenig näher zu untersuchen.

Die Stadt Lakhnau liegt auf dem rechten Ufer des Gumti, der an dieser Stelle in südöstlicher Richtung fließt. Zwei bis drei Meilen von diesem Fluß entfernt verläuft nahezu parallel dazu ein Kanal, durchschneidet die Stadt und nähert sich unterhalb von ihr dem Fluß, in den er dann etwa eine Meile weiter einmündet. Die Ufer des Flusses werden nicht von belebten Straßen umsäumt, sondern von einer Reihe von Palästen mit Gärten und vereinzelten öffentlichen Gebäuden. Wo sich Kanal und Fluß vereinigen, jedoch am rechten oder südlichen Ufer von beiden, befinden sich dicht beieinander eine Schule, die sogenannte La Martinière, und ein Jagdschloß mit Park, Dilkuscha genannt. Der erste Palast und Garten jenseits des Kanals, doch noch auf der Südseite des Flusses und dicht an seinem Ufer, ist der Sikandar Bagh; weiter westlich folgen Kasernen und Offiziers und Mannschaftsmessen und dann der Moti Mahal (Perlenpalast), der nur wenige hundert Yard von der Residenz entfernt ist. Das letztgenannte Bauwerk ist auf der einzigen Erhöhung, die es in der Umgebung gibt, errichtet; es beherrscht die Stadt und besteht aus mehreren Palästen und Nebengebäuden, welche von einer ansehnlichen Schutzwehr umgeben sind. Südlich dieser Gebäudereihe liegt der dichtbesiedelte Teil der Stadt, und zwei Meilen südlich hiervon befinden sich der Park und Palast von Alam Bagh.

Die natürliche Stärke der Residenz erklärt sofort, wie die Engländer in ihr gegen weit überlegene Kräfte aushalten konnten; doch gleichzeitig zeigt <354> gerade diese Tatsache, welcher Art Kämpfer die Audh-Leute sind. In der Tat, wenn Soldaten, die zum Teil von europäischen Offizieren ausgebildet worden und reichlich mit Artillerie versehen sind, es bisher nicht einmal fertiggebracht haben, eine einzige elende Schutzwehr, die von Europäern verteidigt wird, zu überwinden, dann sind solche Soldaten in militärischer Hinsicht nicht mehr als Wilde und ein Sieg über sie kann nicht viel zum Ruhm einer Armee beitragen, so groß die zahlenmäßige Überlegenheit der Eingeborenen auch sein mag. Eine weitere Tatsache, die die Audh-Leute zu den erbärmlichsten Gegnern stempelt, denen man begegnen kann, ist die Art, in der Havelock sich trotz Barrikaden, verschanzter Häuser und dergleichen den Weg durch den am dichtesten besiedelten Teil der Stadt erzwungen hat. Er hat tatsächlich hohe Verluste erlitten, aber man vergleiche dieses Unternehmen auch nur mit dem erbärmlichsten Straßenkampf von 1848. Nicht ein einziger Mann seiner schwachen Truppe hätte sich durchschlagen können, wenn es wirklich Kampf gegeben hätte. Die Häuser können überhaupt nicht verteidigt worden sein; es hätte Wochen bedurft, so viel von ihnen einzunehmen, um einen sicheren Durchmarsch zu gewährleisten. Über den Scharfsinn, den Havelock bewiesen haben soll, indem er also den Stier bei den Hörnern gepackt hat, können wir uns keine Meinung bilden; er soll dazu durch die große Notlage, in die die Residenz geraten war, gezwungen worden sein; auch andere Beweggründe werden erwähnt, jedoch ist nichts Authentisches bekannt.

Als Sir Colin Campbell ankam, verfügte er über etwa 2.000 europäische und 1.000 Sikh-Infanteristen, 350 europäische und 600 Sikh-Kavalleristen, 18 Kanonen reitender Artillerie, 4 Belagerungsgeschütze und 300 Matrosen mit ihren schweren Schiffsgeschützen, insgesamt 5.000 Mann, darunter 3.000 Europäer. Diese Truppe war zahlenmäßig etwa so stark, wie es so ziemlich ein guter Durchschnitt der meisten englisch-indischen Armeen war, die große Taten vollbracht haben; ja, die Feldtruppe, mit der Sind von Sir C. Napier erobert wurde, war kaum halb so stark und oft schwächer gewesen. Andererseits erhielt sie durch die starke Beimischung des europäischen Elements und den Umstand, daß der ganze Eingeborenenanteil aus der kampffähigsten Völkerschaft Indiens, den Sikhs, bestand, eine weit größere innere Kraft und Geschlossenheit, als die Gesamtheit der englisch-indischen Armeen. Wie wir gesehen haben, waren ihre Gegner erbärmlicher Art - zum größten Teil ungeübte Miliz statt ausgebildeter Soldaten. Die Bewohner von Audh gelten zwar für das kriegerischste Volk des Unteren Hindustans, doch das trifft lediglich im Vergleich zu den feigen Bengalesen zu, deren moralische Haltung durch das erschlaffendste Klima der Welt und durch jahrhundertelange Unterdrückung völlig zerrüttet ist. Die Art, in der sie sich der "filibusterhaften" <357> Einverleibung ihres Landes in den Herrschaftsbereich der Ostindischen Kompanie fügten, und ihr gesamtes Verhalten während des Aufstandes stellen sie sicherlich, was Mut und Intelligenz betrifft, unter das Niveau der Sepoys. Es wird freilich berichtet, daß die Quantität die Qualität ersetzt habe. Einige Briefschreiber melden, in der Stadt hätten sich 100.000 Mann befunden. Sie waren den Briten zweifellos im Verhältnis vier oder sechs zu eins überlegen, vielleicht war das Verhältnis sogar noch höher; doch bei solchen Feinden spielt das keine Rolle. Eine Stellung kann nur von einer bestimmten Zahl verteidigt werden, und wenn diese entschlossen ist davonzulaufen, macht es wenig aus, ob sich die vier- oder fünffache Zahl solcher Helden im Bereich einer halben Meile befindet. Ohne Zweifel hat es viele Beispiele persönlicher Tapferkeit gegeben, auch unter diesen Audh-Leuten. Einige von ihnen mögen wie die Löwen gekämpft haben; doch was nutzten sie in einer Stellung, zu deren Verteidigung sie zu schwach waren, nachdem das in der Garnison befindliche Gesindel davongelaufen war? Es scheint, als sei bei ihnen keinerlei Versuch unternommen worden, das Ganze unter einheitlichem Kommando zusammenzufassen; ihre örtlichen Häuptlinge besaßen nur über ihre eigenen Leute Gewalt und wollten sich niemand anderem fügen.

Sir Colin Campbell ging zuerst gegen den Alam Bagh vor; statt wie Havelock seinen Weg durch die Stadt zu erzwingen, nützte er die Erfahrung aus, die dieser General gemacht hatte, und wandte sich Dilkuscha und La Martinière zu. Das Gelände vor diesen Schutzwehren ließ er am 13. November von den Audh-Schützen säubern. Am 15. begann der Angriff. Der Feind war so nachlässig gewesen, daß selbst zu dieser Zeit die Vorbereitungen für den Bau der Verschanzung um Dilkuscha noch nicht fertig waren; Dilkuscha wurde sofort und ohne viel Gegenwehr genommen und desgleichen La Martinière. Diese beiden Positionen sicherten den Engländern die Kanallinie. Der Feind ging noch einmal über dieses Hindernis vor, um die beiden am Morgen verlorenen Stellungen zurückzugewinnen, wurde jedoch bald unter schweren Verlusten zurückgeschlagen. Am 16. überschritten die Briten den Kanal und griffen den Sikandar-Bagh-Palast an. Hier waren die Verschanzungen in etwas besserem Zustand, daher griff General Campbell die Stellung klugerweise mit Artillerie an. Nachdem die Verteidigungsanlagen zerstört waren, stürmte die Infanterie und nahm den Platz ein. Als nächstes wurde der Samuck, eine weitere befestigte Stellung, drei Stunden lang beschossen und dann, wie Sir Colin Campbell sagt, "nach einem der schwersten Kämpfe, die man jemals erlebt hat", genommen; ein geschickter Korrespondent vom Kriegsschauplatz fügt hinzu, "wenige Leute haben derart harte Kämpfe erlebt wie er". Wir würden gern wissen, wo er sie erlebt hat. Sicher nicht auf <358> der Krim, wo er nach der Schlacht an der Alma ein sehr ruhiges Leben in Balaklawa geführt hat, denn nur eines seiner Regimenter ist in der Schlacht von Balaklawa und keines bei Inkerman eingesetzt worden.

Am 17. wurde die Artillerie auf die Kasernen und Offiziers- und Mannschaftsmessen gerichtet, die die nächste Stellung in Richtung auf die Residenz bildeten. Diese Kanonade dauerte bis 3 Uhr, worauf die Infanterie die Stellung im Sturm nahm. Der fliehende Feind wurde energisch verfolgt. Zwischen der vorrückenden Armee und der Residenz lag noch eine Stellung, der Moti Mahal. Vor Einbruch der Dunkelheit wurde auch diese genommen, und die Verbindung mit der Garnison war vollauf hergestellt.

Campbell verdient Lob für den Scharfsinn, mit dem er die leichtere Route wählte und mit dem er seine schwere Artillerie verwendete, um die verschanzten Stellungen niederzuringen, bevor er seine Kolonnen vorschickte. Doch die Briten kämpften mit all den Vorteilen, die gut ausgebildete Soldaten, welche auf den Befehl eines Kommandeur hören, über Halbwilde besitzen, die von niemandem befehligt werden; und, wie wir sehen, machten sie von diesen Vorteilen vollen Gebrauch. Sie setzten ihre Leute nicht mehr als absolut notwendig der Gefahr aus. Sie verwendeten die Artillerie, solange es nur etwas gab, was noch zusammenzuschießen war. Zweifellos kämpften sie mit Tapferkeit; wofür sie jedoch gewürdigt werden müssen, ist ihre Umsicht. Der beste Beweis hierfür ist die Zahl der Toten und Verwundeten. Hinsichtlich der Mannschaften ist sie noch nicht veröffentlicht worden, doch an Offizieren wurden fünf getötet und zweiunddreißig verwundet. Die Armee muß bei 5.000 Mann wenigstens 250 bis 300 Offiziere gehabt haben. Sicherlich scheuen sich die englischen Offiziere niemals, ihr Leben einzusetzen. Ihren Leuten ein Beispiel der Tapferkeit zu geben, ist nur allzuoft der einzige Teil ihrer Pflicht, den sie kennen. Und wenn in einem drei Tage währenden Kampfe unter Bedingungen und in Stellungen, deren Eroberung erfahrungsgemäß mehr Menschenleben kostet, als die irgendwelcher anderer, die Verluste einen Mann auf acht oder neun betragen, dann ist es ausgeschlossen, hier von schwerem Kampf zu sprechen. Um nur aus der britischen Geschichte ein Beispiel zu nehmen: was ist schon dieser ganze Kampf in Indien, insgesamt genommen, allein im Vergleich zu der Verteidigung von Hougomont und La Haye-Sainte bei Waterloo? Was würden diese Zeitungsschreiber, die jetzt jedes kleine Scharmützel in eine regelrechte Schlacht verwandeln, zu Kämpfen wie bei Borodino sagen, wo die eine Armee die Hälfte und die andere ein Drittel ihrer Kämpfer verlor?