Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 335-338.

1. Korrektur
Erstellt am .

Karl Marx

[Die Handelskrise in England]

Geschrieben am 27. November 1857.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5196 vom 15. Dezember 1857, Leitartikel]

<335> Während wir auf dieser Seite des Ozeans < in den USA> uns an unserem kleinen Präludium zu dem großen symphonischen Getöse der Bankrotte erfreuten, das inzwischen über die Welt hereingebrochen ist, spielte unser exzentrischer Zeitgenosse, die Londoner "Times", triumphale rhetorische Variationen über das Thema der "Gesundheit" des britischen Handels. Jetzt allerdings schlägt sie andere und traurigere Seiten an. In einer ihrer letzten Ausgaben, der vom 26. November, die gestern von der "Europe" an diese glücklichen Gestade gebracht wurde, erklärt jenes Blatt, daß "die Handelskreise Englands bis ins Mark ungesund seien". Indem es dann fortfährt und sich vor moralischer Entrüstung überschlägt, ruft es aus:

"Das, was den größten Ruin bewirkt, ist die demoralisierende Karriere, der man acht oder zehn Prosperitätsjahre nachgejagt ist, ehe das Ende kommt. Das Gift wird eingeflößt, indem man Banden hemmungsloser Spekulanten und Wechselfälscher züchtet und sie zu Musterexemplaren erfolgreichen britischen Unternehmergeistes erhebt, so daß das Vertrauen in das langsame Reichwerden vermöge ehrlichen Fleißes erschüttert wird. Jeder so geschaffene Herd der Korruption bildet einen Kreis, der immer weitere Kreise zieht."

Wir werden jetzt nicht danach fragen, ob die englischen Journalisten, die ein Jahrzehnt lang die Doktrin verbreiteten, die Ära kommerzieller Zuckungen wäre mit Einführung des Freihandels endgültig vorbei, jetzt das Recht haben, sich ganz plötzlich aus kriecherischen Lobrednern in römische Sittenrichter des modernen Gelderwerbs zu verwandeln. Folgende Aufstellungen, die vor kurzem auf Gläubigerversammlungen in Schottland vorgelegt wurden, <336> dürften jedoch als nüchterner Kommentar zu der "Gesundheit" des britischen Handels dienen.

John Monteith & Co., Passiva, die über die Aktiva hinausgehen

430.000 Pfd.St.

D. & T. Macdonald

334.000 Pfd.St

Godfrey, Pattison & Co

240.000 Pfd.St

William Smith & Co

104.000 Pfd.St

T. Trehes, Robinson & Co

     75.000 Pfd.St

Insgesamt

1.183.000 Pfd.St

Aus dieser Aufstellung ist ersichtlich", so schreibt die "North British Mail", daß nach eigener Aussage der Bankrotteure den Gläubigern von fünf Firmen 1.183.000 Pfd.St. verlorengegangen sind.

Gerade das wiederholte Auftreten von Krisen in regelmäßigen Abständen trotz aller Warnungen der Vergangenheit schließt indessen die Vorstellung aus, ihre letzten Gründe in der Rücksichtslosigkeit einzelner zu suchen. Wenn die Spekulation gegen Ende einer bestimmten Handelsperiode als unmittelbarer Vorläufer des Zusammenbruchs auftritt, sollte man nicht vergessen, daß die Spekulation selbst in den vorausgehenden Phasen der Periode erzeugt worden ist und daher selbst ein Resultat und eine Erscheinung und nicht den letzten Grund und das Wesen darstellt. Die politischen Ökonomen, die vorgeben, die regelmäßigen Zuckungen von Industrie und Handel durch die Spekulation zu erklären, ähneln der jetzt ausgestorbenen Schule von Naturphilosophen, die das Fieber als den wahren Grund aller Krankheiten ansahen.

Bisher ist das Zentrum der europäischen Krise in England geblieben, und wie wir vorhersahen, hat sie in England selbst ihr Erscheinungsbild geändert. Wenn sich die erste Auswirkung unserer amerikanischen Erschütterung auf Großbritannien in einer Geldpanik äußerte, die von einer allgemeinen Depression auf dem Warenmarkt begleitet wurde und der etwas später Elend und Not in der Industrie folgten, so steht jetzt die industrielle Krise an erster Stelle und die Geldschwierigkeiten an letzter. Wenn für einen Augenblick London der Herd der Feuersbrunst war, so ist das jetzt Manchester. Die schwerwiegendste Erschütterung, der die englische Industrie je ausgesetzt war, und die einzige, die große soziale Veränderungen hervorbrachte, nämlich die industrielle Krise von 1838 bis 1843, wurde eine kurze Zeit lang 1839 von einer Einengung des Geldmarktes begleitet, während in der längeren Zeit dieser Periode der Zinsfuß niedrig stand und sogar auf 21/2 Prozent und 2 Prozent sank. Diese Bemerkung machen wir nicht deshalb, weil wir die relative Besserung des Londoner Geldmarktes als Symptom seiner endgültigen Erholung ansehen, sondern nur, um die Tatsache zu verzeichnen, <337> daß in einem solchen Industrielande wie England die Schwankungen des Geldmarktes bei weitem nicht die Intensität noch das Ausmaß einer Handelskrise andeuten. Man vergleiche z.B. die Zeitungen gleichen Datums aus London und Manchester. Jene, die nur das Aus- und Einströmen von Edelmetall beobachten, sind voller Heiterkeit, wenn die Bank von England durch einen neuen Goldankauf ihre Position gestärkt hat. Die Zeitungen in Manchester sind voller Trübsinn in dem Gefühl, daß diese Stärke auf ihre Kosten mit einer Erhöhung des Zinsfußes und einer Senkung ihrer Warenpreise erkauft worden ist. Daher hat sich sogar Herr Tooke, der Verfasser der "History of Prices", so gut er auch die Erscheinungen des Londoner Geldmarktes und der Kolonialmärkte behandelt, nicht nur als unfähig wiesen, die Verengungen im Herzen der englischen Produktion darzustellen, sondern auch, sie zu verstehen.

Was den englischen Geldmarkt anbetrifft, so zeigt seine Geschichte wahrend der Woche, die mit dem 27. November endete, einerseits einen ständigen Wechsel von Tagen mit Bankrotten und von Tagen ohne Bankrotte, andererseits die Besserung der Lage der Bank von England und den Zusammenbruch der Northumberland and Durham District Bank. Diese Bank, die vor 21 Jahren gegründet wurde, 408 Aktionäre zählt, und über ein gezahltes Kapital von 562.891 Pfd.St. verfügt, hatte ihre Hauptgeschäftsstelle in Newcastle und ihre Filialen in Alnwick, Berwick, Hexham, Morpeth, North und South Shields, Sunderland und Durham. Ihre Passiva werden mit drei Millionen Pfund Sterling angegeben und allein die Wochenlöhne, die durch ihre Vermittlung gezahlt wurden, auf 35.000 Pfd.St. Die erste Folge ihres Zusammenbruchs wird natürlich die Stillegung der großen Kohlengruben und Eisenhütten sein, die mit den Darlehen dieser Bank betrieben wurden. Viele Tausend Arbeiter wird man also arbeitslos machen.

Die Bank von England soll ihre Edelmetallreserve um etwa 700.000 Pfd.St. vergrößert haben, wobei der Zufluß von Edelmetall teils auf die Beendigung des Abflusses nach Schottland, teils auf die Sendungen aus diesem Lande <den USA> und aus Rußland, und schließlich auf die Ankunft von Gold aus Australien zurückzuführen ist. An dieser Entwicklung gibt es nichts Bemerkenswertes, da es völlig klar ist, daß die Bank von England durch Heraufschrauben des Zinsfußes den Import beschneiden, den Export forcieren, einen Teil des im Ausland investierten britischen Kapitals zurückziehen und folglich die Handelsbilanz umkehren und ein Einströmen einer gewissen Menge von Edelmetall bewirken wird. Nicht weniger gewiß ist, daß bei der geringsten <338> Lockerung der Diskontobedingungen das Gold wieder anfangen wird, ins Ausland zu fließen. Die einzige Frage ist, wie lange die Bank imstande sein wird, diese Bedingungen aufrechtzuerhalten.

Der offizielle Bericht des Handelsministeriums für den Monat Oktober, den Monat, in dem der Mindestsatz der Diskontorate nacheinander auf 6, 7 und 8 Prozent erhöht wurde, beweist augenfällig, daß die erste Auswirkung dieser Operation nicht in der Einstellung der Produktion bestanden hat, sondern darin, ihre Waren den ausländischen Märkten aufzudrängen und den Import ausländischer Waren zu kürzen.

Trotz der amerikanischen Krise weist der Export vom Oktober 1857 im Vergleich zum Oktober 1856 einen Überschuß von 318.838 Pfd.St. auf, doch zeugt der im gleichen Bericht sich widerspiegelnde beträchtliche Rückgang der Konsumtion an allen Nahrungsmitteln und Luxusgütern, daß dieser Überschuß keineswegs rentabel oder die natürliche Folge einer blühenden Industrie gewesen ist. Der Rückschlag der Krise auf die englische Industrie wird in den nächsten Berichten des Handelsministeriums sichtbar werden. Ein Vergleich der Berichte für die einzelnen Monate von Januar bis Oktober 1857 zeigt, daß die englische Produktion ihren Höchststand im Mai erreichte, als der Export den von Mai 1856 um 2.648.904 Pfd.St. überwog. Auf die ersten Meldungen vom indischen Aufstand hin fiel die Gesamtproduktion im Juni unter den Stand des entsprechenden Monats im Jahre 1856 und zeigte einen relativen Rückgang des Exports in Höhe von 30.247 Pfd.St. Trotz der Schrumpfung des indischen Marktes hatte die Produktion im Juli nicht nur den Stand des entsprechenden Monats von 1856 wieder erreicht, sondern übertraf ihn sogar um eine Summe von nicht weniger als 2.233.306 Pfd.St. Es ist daher klar, daß in diesem Monat die anderen Märkte über ihren normalen Verbrauch an Waren hinaus nicht nur den Exportanteil aufnehmen mußten, der gewöhnlich nach Indien ging, sondern auch einen großen Überschuß dessen, was England üblicherweise produzierte. In diesem Monat scheinen daher die Auslandsmärkte soweit übersättigt worden zu sein, daß die Exportzunahme nach und nach von etwa zweieindrittel Millionen auf 885.513 Pfd.St. im August, auf 852.203 Pfd.St. im September und auf 318.838 Pfd.St. im Oktober heruntergehen mußte. Das Studium der englischen Handelsberichte bietet den einzig zuverlässigen Schlüssel zu dem Geheimnis der gegenwärtigen Erschütterung in diesem Lande.