Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 327-334.

Friedrich Engels

[Die Einnahme Delhis]

Geschrieben am 16. November 1857.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5188 vom 5. Dezember 1857, Leitartikel]

<327> Wir wollen nicht in den lärmenden Chor einstimmen, der jetzt in Großbritannien die Tapferkeit der Truppen, die Delhi erstürmt haben, in den Himmel hebt. Kein Volk, nicht einmal das französische, kann es den Engländern in Selbstlob gleichtun, besonders wenn von Tapferkeit die Rede ist. Die Untersuchung der Tatsachen reduziert jedoch in neunundneunzig von hundert Fällen die Größe dieses Heldenmuts sehr bald auf ganz alltägliche Ausmaße; und jedermann mit gesundem Menschenverstand muß von dieser überlauten Geschäftigkeit angewidert sein, womit aus dem Mut anderer Kapital geschlagen wird und wodurch der englische Paterfamilias <Haus- und Familienvater> sich den Anschein zu geben versucht, als habe er Anteil an der unbestrittenen, aber durchaus nicht so außergewöhnlichen Tapferkeit, die sich beim Sturm auf Delhi gezeigt hat, derselbe Paterfamilias, der geruhsam daheim sitzt und allem mit unüberwindlicher Abneigung begegnet, was auch nur entfernt mit der Möglichkeit droht, selbst kriegerischen Ruhm zu erwerben.

Wenn wir Delhi mit Sewastopol vergleichen, müssen wir natürlich zugeben, daß die Sepoys keine Russen waren, daß keiner ihrer Ausfälle gegen das britische Kantonnement mit Inkerman verglichen werden kann, daß es in Delhi keinen Todtleben gab, und daß die Sepoys, so tapfer jeder einzelne Mann und jede einzelne Kompanie in den meisten Fällen auch kämpfte, gänzlich ohne Führung waren, nicht nur ihre Brigaden und Divisionen, sondern auch fast alle ihre Bataillone, daß daher ihr Zusammenhalt nicht über den Bereich der Kompanien hinausging, daß ihnen das wissenschaftliche Element völlig fehlte, ohne das eine Armee heutzutage hilflos und die Verteidigung einer Stadt ganz und gar aussichtslos ist. Doch das Mißverhältnis <328> von Kräften und Kampfmitteln, die Widerstandskraft der Sepoys gegenüber dem Klima, worin sie den Europäern überlegen sind, der Zustand äußerster Schwäche, in den die Truppen vor Delhi zeitweilig gebracht worden sind - alles das wiegt die genannten Unterschiede auf und macht es möglich, beide Belagerungen (soweit man diese Operationen Belagerungen nennen kann) in angemessener Weise zu vergleichen. Um zu wiederholen, wir sehen die Erstürmung Delhis nicht als einen Akt ungewöhnlicher oder besonders heldenmütiger Tapferkeit an, obwohl wie in jeder Schlacht einzelne kühne Taten zweifellos auf beiden Seiten vollbracht wurden, doch behaupten wir, daß die englisch-indische Armee vor Delhi mehr Ausdauer, Charakterstärke, Urteilsfähigkeit und Geschick bewiesen hat als die englische Armee bei ihrer Bewährungsprobe zwischen Sewastopol und Balaklawa. Diese war nach Inkerman bereit und willens, sich wieder einzuschiffen, und hätte dies zweifellos getan, wenn die Franzosen nicht gewesen wären. Erstere erwog in der Tat auch, ob es nicht ratsam sei, sich zurückzuziehen, als die Jahreszeit, die damit verbundenen todbringenden Krankheiten, die Unterbrechung der Verbindungslinien, das Fehlen jeder Möglichkeit rascher Verstärkungen und die Lage in ganz Oberindien zu einem Rückzug aufforderten, hielt jedoch trotz alledem auf ihrem Posten aus.

Als der Aufstand seinen Höhepunkt erreicht hatte, wurde als erstes eine bewegliche Kolonne in Oberindien benötigt. Es gab nur zwei Truppenkörper, die so verwendet werden konnten - die kleine Truppe Havelocks, die sich bald als unzureichend erwies, und die Truppe vor Delhi. Daß es unter diesen Umständen militärisch gesehen ein Fehler war, vor Delhi zu bleiben und die verfügbaren Kräfte in nutzlosen Kämpfen mit einem unangreifbaren Feind aufzureiben; daß die Armee in Bewegung viermal so wertvoll gewesen wäre wie in Ruhe; daß die Säuberung Oberindiens mit Ausnahme Delhis, die Wiederherstellung der Verbindungslinien sowie die Zerschlagung jedes Versuchs der Aufständischen, eine Streitmacht zu konzentrieren, erreicht worden wäre, und damit der Fall Delhis als natürliche und einfache Folge - das sind unbestreitbare Tatsachen. Doch politische Erwägungen führten dazu, das Lager vor Delhi nicht aufzuheben. Zu tadeln sind die Neunmalklugen im Hauptquartier, die die Armee nach Delhi schickten - nicht die Beharrlichkeit der Armee beim Durchhalten, nachdem sie nun einmal da war. Gleichzeitig dürfen wir nicht unterlassen festzustellen, daß die Auswirkung der Regenzeit auf diese Armee weit geringer war, als man hatte erwarten müssen, und daß bei einem auch nur durchschnittlichen Krankheitsstand, den gewöhnlich aktive Operationen in solcher Jahreszeit zur Folge haben, der Rückzug oder die Auflösung der Armee unausbleiblich gewesen wäre. Die gefährliche Lage der <329> Armee hielt bis Ende August an. Die Verstärkungen begannen einzutreffen, während Zwistigkeiten das Lager der Aufständischen weiterhin schwächten. Anfang September traf der Belagerungspark ein, und die Verteidigungsstellung verwandelte sich in eine Angriffsstellung. Am 7. September eröffnete die erste Batterie das Feuer, und am Abend des 13. September waren zwei erstürmbare Breschen geschlagen. Untersuchen wir nun, was sich in der Zwischenzeit ereignete.

Wenn wir uns zu diesem Zweck auf die offizielle Depesche General Wilsons verlassen müßten, wären wir allerdings sehr übel dran. Dieser Bericht ist genauso verworren wie es immer die Berichte waren, die vom englischen Hauptquartier auf der Krim herausgegeben wurden. Kein Mensch auf der Welt konnte sich nach diesem Bericht ein Bild über die Lage der beiden Breschen machen oder über die entsprechende Position und Ordnung, in der die Sturmkolonnen aufgestellt waren. Was die nichtamtlichen Berichte angeht, so sind diese natürlich noch hoffnungsloser verwirrt. Glücklicherweise hat einer jener befähigten, wissenschaftlich gebildeten Offiziere, denen nahezu das ganze Verdienst des Erfolgs gebührt, ein Angehöriger der bengalischen Genie- und Artillerietruppen, in der "Bombay Gazette" einen Bericht über die Ereignisse gegeben, der ebenso klar und sachlich wie einfach und bescheiden ist. Während des gesamten Krimkrieges fand sich nicht ein einziger englischer Offizier, der in der Lage gewesen wäre, einen so vernünftigen Bericht wie diesen zu schreiben. Leider ist jener Offizier am ersten Tage des Sturms verwundet worden, und damit endet sein Brief. Über die späteren Aktionen sind wir daher noch ganz im Dunkeln.

Die Engländer hatten die Verteidigungsanlagen von Delhi so weit verstärkt, daß sie einer Belagerung durch eine asiatische Armee standhalten konnten. Nach unseren heutigen Begriffen war Delhi kaum als Festung zu bezeichnen, sondern nur als ein Ort, der gegen den Ansturm einer Feldtruppe gesichert war. Von seinem Steinwall, 16 Fuß hoch und 12 Fuß stark, gekrönt von einer 3 Fuß starken und 8 Fuß hohen Brustwehr, waren außer der Brustwehr 6 Fuß Mauerwerk durch das Glacis nicht gedeckt, und dem direkten Feuer der Angreifer ausgesetzt. Die geringe Breite dieses Steinwalls ließ es nicht zu, irgendwo, außer in den Bastionen und den Martello-Türmen, Geschütze aufzustellen. Diese Türme flankierten die Kurtine nur sehr ungenügend, und eine gemauerte Brustwehr von drei Fuß Stärke war von Belagerungsgeschützen (Feldartillerie könnte es auch tun) leicht zusammenzuschießen, um das Feuer der Verteidigung und besonders die den Graben flankierenden Geschütze zum Schweigen zu bringen. Zwischen Wall und Graben lag eine breite Berme oder ein ebener Weg, der das Schlagen einer <330> erstürmbaren Bresche erleichterte, und unter diesen Umständen wurde der Graben, statt ein coupe-george <einer Mördergrube> für jede da hineingeratene Truppe zu sein, zu einem Rastplatz, um die Kolonnen neu zu formieren, die beim Vordringen auf dem Glacis in Unordnung geraten waren.

Gegen einen solchen Ort nach den Regeln der Belagerung mit regulären Laufgräben vorzugeben, würde Wahnsinn gewesen sein, selbst wenn die erste Voraussetzung vorhanden gewesen wäre, nämlich genügend Kräfte, um den Ort von allen Seiten einzuschließen. Der Zustand der Verteidigungsanlagen, die Desorganisation und der sinkende Mut der Verteidiger hätten jede andere Angriffsart als die angewandte zu einem absoluten Fehlgriff werden lassen. Diese Art ist Militärfachleuten unter der Bezeichnung durchdringender Angriff (attaque de vive force) gut bekannt. Die Verteidigungsanlagen, die so beschaffen sind, daß sie nur einen direkten Angriff ohne schwere Geschütze vereiteln können, werden ohne Umstände von der Artillerie erledigt; das Innere des Ortes wird während der ganzen Zeit mit Granaten belegt, und sobald die Breschen erstürmbar sind, gehen die Truppen zum Sturmangriff vor.

Die angegriffene Front war die nördliche, direkt gegenüber dem englischen Lager. Diese Front besteht aus zwei Kurtinen und drei Bastionen, die einen leicht einspringenden Winkel bei der zentralen (der Kaschmir-)Bastion bilden. Die östliche Position, von der Kaschmir- bis zur Water-Bastion, ist kürzer und springt im Vergleich zur westlichen Position, zwischen der Kaschmir- und Mori-Bastion, etwas vor. Das Gelände vor der Kaschmir- und der Water-Bastion war von den Sepoys nicht eingeebnet worden, sondern mit niedrigem Dschungel, mit Garten, Häusern etc. bedeckt und bot dem Angriff Schutz. (Dieser Umstand erklärt, wie es möglich war, daß die Engländer den Sepoys so oft bis direkt unter deren Festungsgeschütze folgen konnten, was damals als äußerst heldenhaft angesehen wurde, in Wirklichkeit jedoch mit wenig Gefahr verbunden war, solange sie diese Deckung hatten.) Außerdem verlief etwa 400 bis 500 Yard von dieser Front entfernt eine tiefe Schlucht in gleicher Richtung mit dem Wall und bildete so eine natürliche Parallele für den Angriff. Da ferner der Fluß eine ausgezeichnete Basis für den linken Flügel der Engländer darstellte, wurde der durch die Kaschmir- und die Water-Bastion gebildete leichte Vorsprung sehr richtig als Hauptangriffspunkt gewählt. Auf die westliche Kurtine und die westlichen Bastionen wurde gleichzeitig ein Scheinangriff unternommen, und dieses Manöver gelang so gut, daß die Hauptkräfte der Sepoys ihm entgegengestellt wurden. Sie zogen ein <333> starkes Korps in den Vorstädten außerhalb des Kabul-Tores zusammen, um den rechten Flügel der Engländer zu bedrohen. Dieses Manöver wäre völlig richtig und sehr wirksam gewesen, wenn die westliche Kurtine zwischen der Mon- und der Kaschmir-Bastion am meisten gefährdet gewesen wäre. Die flankierende Stellung der Sepoys hätte sich ausgezeichnet als ein Mittel der aktiven Verteidigung geeignet, da jede Sturmkolonne durch einen Vorstoß dieses Korps sofort in die Flanke genommen worden wäre. Doch die Wirksamkeit dieser Stellung konnte nicht weiter östlich reichen als bis zur Kurtine zwischen der Kaschmir- und der Water-Bastion, und so wurden durch die Besetzung dieser Stellung die besten Kräfte der Verteidiger vom entscheidenden Punkt abgezogen.

Die Wahl, der Bau und die Bestückung der Batteriestellungen sowie die Art der Bedienung verdienen höchstes Lob. Die Engländer hatten etwa 50 Kanonen und Mörser in starken Batterien hinter ordentlichen, festen Brustwehren konzentriert. Die Sepoys hatten nach offiziellen Angaben an der angegriffenen Front 55 Kanonen, die jedoch über kleine Bastionen und Martello-Türme verstreut und zu konzentriertem Feuer unfähig waren und die durch die jämmerliche, drei Fuß starke Brustwehr kaum gedeckt wurden. Zweifellos müssen ein paar Stunden genügt haben, das Feuer der Verteidigung zum Schweigen zu bringen, und dann blieb nur noch wenig zu tun übrig.

Am 8. eröffnete die Batterie Nr. 1, 10 Kanonen, 700 Yard vom Wall entfernt das Feuer. In der folgenden Nacht baute man die erwähnte Schlucht zu einer Art Laufgraben aus. Am 9. wurden das unebene Gelände und die Häuser vor dieser Schlucht ohne Widerstand genommen; und am 10. nahm die Batterie Nr. 2 mit 8 Kanonen das Feuer auf. Diese stand 500 bis 600 Yard vom Wall entfernt. Am 11. begann die Batterie Nr. 3, die sehr kühn und geschickt 200 Yard vor der Water-Bastion auf unebenem Gelände errichtet worden war, mit sechs Kanonen zu feuern, während zehn schwere Mörser die Stadt mit Granaten belegten. Am Abend des 13. wurde gemeldet, daß die Breschen - die eine in der an die rechte Flanke der Kaschmir-Bastion anschließenden Kurtine, die andere in der linken Face und Flanke der Water-Bastion - für die Erstürmung breit genug seien, und der Angriff wurde befohlen. Die Sepoys hatten am 11. einen Gegenlaufgraben auf dem Glacis zwischen den beiden bedrohten Bastionen angelegt und hoben nun in etwa dreihundertfünfzig Yard Entfernung vor den englischen Batterien einen Schützengraben aus. Von dieser Stellung außerhalb des Kabul-Tores gingen sie auch zu Flankenangriffen vor. Doch diese Ansätze einer aktiven Verteidigung wurden ohne Einheit, Zusammenhalt oder Begeisterung ausgeführt und blieben ergebnislos.

<334> Am 14. gingen fünf britische Kolonnen bei Tagesanbruch zum Angriff vor. Eine Kolonne sollte auf dem rechten Flügel die Kräfte außerhalb des Kabul-Tores beschäftigen und im Erfolgsfalle das Lahor-Tor angreifen, je eine war gegen die beiden Breschen eingesetzt, eine weitere gegen das Kaschmir-Tor, das gesprengt werden sollte, und die letzte blieb als Reserve. Mit Ausnahme der ersten waren alle diese Kolonnen erfolgreich. Die Breschen wurden nur schwach verteidigt, doch der Widerstand in den Häusern nahe des Walls war sehr hartnäckig. Durch den Heldenmut eines Offiziers und dreier Sergeanten der Genietruppen (denn hier gab es Heldenmut) gelang es, das Kaschmir-Tor aufzusprengen, und so drang auch diese Kolonne in das Innere vor. Gegen Abend war die gesamte nördliche Front im Besitz der Engländer. Hier machte General Wilson jedoch halt. Dem Angriff aufs Geratewohl wurde Einhalt geboten, es wurden Kanonen aufgefahren und gegen alle starken Positionen in der Stadt gerichtet. Mit Ausnahme der Erstürmung des Arsenals scheint es sehr wenig wirklichen Kampf gegeben zu haben. Die Aufständischen waren entmutigt und verließen die Stadt in Scharen. Wilson rückte vorsichtig in die Stadt ein, fand nach dem 17. kaum noch irgendwelchen Widerstand und besetzte sie am 20. vollends.

Unsere Meinung über die Angriffsführung haben wir schon dargelegt. Was die Verteidigung angeht, so zeigen der Versuch zu offensiven Gegenbewegungen, die Flankenstellung am Kabul-Tor, die Gegenlaufgräben und die Schützenlöcher, daß sich gewisse Vorstellungen einer wissenschaftlichen Kriegführung unter den Sepoys durchgesetzt hatten; doch waren sie entweder nicht klar oder nicht stark genug, um mit Erfolg in die Tat umgesetzt zu werden. Ob sie von Indern stammten oder von einigen Europäern, die es mit den Sepoys halten, ist natürlich schwer zu entscheiden; doch eins steht mit Sicherheit fest: Diese Versuche, wenn auch unvollkommen in der Ausführung, sind in ihrer Grundlage der aktiven Verteidigung Sewastopols sehr ähnlich; und die Ausführung erweckt den Anschein, als hätte irgendein europäischer Offizier einen genauen Plan für die Sepoys entworfen, sie jedoch waren nicht imstande gewesen, die Idee völlig zu begreifen, oder aber Desorganisation und mangelhafte Führung verwandelten brauchbare Entwürfe in schwache und kraftlose Versuche.