Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 293-297.

Karl Marx

[Der Aufstand in Indien]

Geschrieben am 18. September 1857.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5134 vom 3. Oktober 1857, Leitartikel]

<293> Die Nachrichten aus Indien, die uns gestern erreicht haben, tragen für die Engländer einen sehr unheilvollen und bedrohlichen Charakter, obwohl, wie man in einer anderen Spalte sehen kann, unser kundiger Londoner Korrespondent sie anders betrachtet. Aus Delhi besitzen wir Einzelheiten bis zum 29. Juli und ebenso einen späteren Bericht des Inhalts, daß die Belagerungstruppen infolge der Verheerungen durch die Cholera gezwungen waren, sich von Delhi zurückzuziehen und Quartier in Agra zu beziehen. Zwar läßt keine der Londoner Zeitungen diesen Bericht gelten, doch wir können ihn höchstens nur als etwas voreilig ansehen. Wie wir aus der gesamten indischen Korrespondenz wissen, hatte die Belagerungsarmee schwere Verluste durch Ausfälle erlitten, die am 14., 18. und 23. Juli erfolgt waren. Bei diesen Gelegenheiten kämpften die Aufständischen mit rücksichtsloserer Leidenschaft als je zuvor und wußten auch einen größeren Vorteil aus der Überlegenheit ihrer Artillerie zu ziehen.

"Wir feuern mit 18pfündern und 8zölligen Haubitzen", schreibt ein britischer Offizier, "und die Rebellen antworten mit Vierundzwanzigern und Zweiunddreißigern." "Bei den achtzehn Ausfällen", heißt es in einem anderen Brief, "denen wir zu widerstehen hatten, verloren wir an Toten und Verwundeten ein Drittel unserer Soldaten."

Alles, was an Verstärkungen erwartet werden konnte, war eine Abteilung Sikhs unter General Van Courtlandt. Nachdem General Havelock mehrere erfolgreiche Gefechte bestanden hatte, war er gezwungen, sich nach Khanpur zurückzuziehen und zeitweilig den Entsatz Lakhnaus aufzugeben. Gleichzeitig "hatten heftige Regenfälle vor Delhi eingesetzt", die natürlich die Cholera-Epidemie vergrößern mußten. Die Depesche, die den Rückzug nach <294> Agra und den zumindest zeitweiligen Verzicht auf den Versuch zur Einnahme der Hauptstadt des Großmoguls ankündigt, muß sich also bald als wahr erweisen, wenn es nicht schon so ist.

An der Gangeslinie liegt das Hauptinteresse auf den Operationen des Generals Havelock, dessen Heldentaten bei Fatehpur, Khanpur und Bithur natürlich von unseren Berufskollegen der Londoner Presse recht übertrieben herausgestrichen worden sind. Wie wir oben festgestellt haben, sah er sich, nachdem er fünfundzwanzig Meilen von Khanpur aus vorgerückt war, genötigt, sich nach diesem Ort zurückzuziehen, um nicht nur seine Kranken einzuliefern, sondern auch auf Verstärkungen zu warten. Dies gibt Grund zu tiefem Bedauern, denn es deutet an, daß der Versuch zur Rettung Lakhnaus vereitelt worden ist. Die einzige Hoffnung für die britische Garnison dieses Ortes ist jetzt auf die Truppe von 3.000 Gurkha gerichtet, die von Dschang Bahadur aus Nepal zu ihrem Entsatz losgeschickt worden sind. Sollte es ihnen nicht gelingen, die Belagerung aufzuheben, wird das Gemetzel von Khanpur in Lakhnau wiederholt werden. Das wird nicht alles sein. Die Einnahme der Festung von Lakhnau durch die Rebellen und die daraus folgende Konsolidierung ihrer Macht in Audh würde alle britischen Operationen gegen Delhi in der Flanke bedrohen und über das Gleichgewicht der im Kampf befindlichen Kräfte in Benares und dem ganzen Bezirk von Bihar entscheiden. Khanpur würde der Hälfte seiner Bedeutung beraubt und in seinen Verbindungslinien mit Delhi einerseits und mit Benares andererseits bedroht sein, wenn die Aufständischen im Besitz der Festung Lakhnau sind. Diese Möglichkeit verstärkt das schmerzliche Interesse, mit dem Nachrichten aus dieser Gegend erwartet werden müssen. Am 16. Juni rechnete die Garnison aus, daß sie mit ihren Kräften bei Hungerrationen sechs Wochen ausharren kann. Bis zum letzten Depeschendatum waren fünf dieser Wochen bereits verstrichen. Jetzt hängt dort alles von den gemeldeten, aber noch nicht sicher eintreffenden Verstärkungen aus Nepal ab.

Wenn wir den Ganges entlang von Khanpur nach Benares und nach dem Bezirk Bihar weiter abwärts schreiten, sind die Aussichten für die Briten noch düsterer. Ein Brief in der "Bengal Gazette" vom 3. August aus Benares stellt fest,

"daß die Meuterer aus Dinapur auf Arrah marschierten, nachdem sie die Son überschritten hatten. Die mit Recht um ihre Sicherheit besorgten europäischen Einwohner schrieben nach Dinapur um Verstärkungen. Zwei Dampfer wurden daraufhin mit Abteilungen des 5., 10. und 37. Regiments Ihrer Majestät abgeschickt. Mitten in der Nacht lief einer der Dampfer auf Grund und blieb stecken. Die Soldaten wurden hastig an Land gesetzt und genötigt, zu Fuß vorzurücken, ohne jedoch entsprechende <295> Sicherheitsmaßnahmen zu treffen. Plötzlich erhielten sie von beiden Seiten dichtes und heftiges Feuer, und 150 ihrer kleinen Truppe, darunter mehrere Offiziere, wurden hors de combat <außer Gefecht> gesetzt. Man nimmt an, daß alle Europäer des Standortes, etwa 47, niedergemetzelt wurden."

Arrah im britischen Bezirk Schahabad in der Präsidentschaft Bengalen ist eine Stadt an der Straße von Dinapur nach Ghasipur, fünfundzwanzig Meilen westlich jener, fünfundsiebzig Meilen östlich dieser Stadt gelegen. Benares selbst war bedroht. Diese Stadt besitzt ein nach europäischen Prinzipien gebautes Fort und würde ein zweites Delhi werden, wenn es den Rebellen in die Hände fiele. In Mirsapur, das südlich Benares und auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges liegt, ist eine Verschwörung der Muselmanen aufgedeckt worden, während in Berhampur am Ganges, etwa achtzehn Meilen von Kalkutta entfernt, das 63. Eingeborenen- Infanterieregiment entwaffnet worden war. Kurz, Unzufriedenheit auf der einen und Panik auf der anderen Seite breiteten sich über die ganze Präsidentschaft Bengalen aus, sogar bis vor die Tore Kalkuttas, wo man starke Befürchtungen wegen des großen Muharram-Fastens hegte, bei dem die Anhänger des Islam, in fanatische Raserei versetzt, mit Schwertern umherlaufen, bereit, beim geringsten Anlaß zu kämpfen, was leicht zu einem allgemeinen Angriff auf die Engländer führen kann, und wo der Generalgouverneur sich genötigt sah, seine eigene Leibgarde zu entwaffnen. Der Leser wird also sofort begreifen, daß die britische Hauptverbindungslinie, die Gangeslinie, in Gefahr ist, unterbrochen, gesperrt und abgeschnitten zu werden. Dies würde das Vorrücken der Verstärkungen in Frage stellen, die im November ankommen sollen, und die britische Operationslinie an der Dschamna isolieren.

In der Präsidentschaft Bombay sehen die Angelegenheiten ebenfalls sehr ernst aus. Die Meuterei des 27. Bombayer Eingeborenen-Infanterieregiments in Kolhapur ist eine Tatsache, ihre Niederschlagung durch die britischen Truppen aber nur ein Gerücht. In der Bombayer Eingeborenenarmee sind nacheinander Meutereien in Nagpur, Aurangabad, Haidarabad und schließlich in Kolhapur ausgebrochen. Die jetzige Stärke der Bombayer Eingeborenenarmee beträgt 43.048 Mann, während es, und das ist Tatsache, nur zwei europäische Regimenter in dieser Präsidentschaft gibt. Die Eingeborenenarmee sollte nicht nur die Ordnung im Bereich der Präsidentschaft Bombay aufrechterhalten, sondern auch Verstärkungen nach Sind im Pandschab entsenden und die Abteilungen bilden, die auf Mau und Indor vorstoßen sollten, <296> um diese Orte zurückzuerobern und zu halten, die Verbindung mit Agra herzustellen und die Garnison dieses Ortes abzulösen. Die Kolonne des Brigadegenerals Stuart, die mit dieser Operation beauftragt war, bestand aus 300 Mann des 3. Bombayer Europäer-Regiments, 250 Mann des 5.Bombayer Eingeborenen-Infanterieregiments, 1.000 des 25. Bombayer Eingeborenen-Infanterieregiments, 200 des 19. Bombayer Eingeborenen-Infanterieregiments und 800 vom 3. Kavallerieregiment des Kontingents von Haidarabad. In dieser Truppe, die 2.250 eingeborene Soldaten zählt, gibt es etwa 700 Europäer, die sich hauptsächlich aus dem 86. königlichen Infanterieregiment und aus dem 14. Königlichen Leichten Dragonerregiment zusammensetzen. Darüberhinaus hatten die Engländer in Aurangabad eine Kolonne der Eingeborenenarmee zusammengezogen, um die unzufriedenen Territorien Kandesch und Nagpur einzuschüchtern und gleichzeitig den in Zentralindien operierenden fliegenden Kolonnen Unterstützung zu geben.

Uns wird berichtet, daß in diesem Teil Indiens "die Ruhe wiederhergestellt ist", aber auf dieses Ergebnis können wir uns durchaus nicht verlassen. Tatsächlich wird diese Frage nicht durch die Besetzung von Mau entschieden, sondern durch den Kurs, den Holkar und Sindhia, die beiden Marathenfürsten, einschlagen. Dieselbe Depesche, die uns von Stewarts Eintreffen in Mau informiert, fügt hinzu, Holkars Truppen seien bereits widerspenstig geworden, obwohl er selbst noch zuverlässig wäre. Über Sindhias Politik wird nicht ein Wort verloren. Er ist jung, beliebt, voller Feuer und würde als der natürliche Führer und Sammelpunkt für das gesamte Volk der Marathen angesehen werden. Er hat 10.000 Mann gut disziplinierte eigene Truppen. Sein Abfall würde die Briten nicht nur Zentralindien kosten, sondern der revolutionären Vereinigung gewaltige Stärke und Festigkeit verleihen. Der Rückzug der Truppen vor Delhi, die Drohungen und Forderungen der Unzufriedenen können Sindhia schließlich dazu bringen, die Partei seiner Landsleute zu ergreifen. Der Haupteinfluß auf Holkar wie auf Sindhia wird indessen von den Marathen des Dekan ausgehen, wo der Aufstand endlich entschlossen sein Haupt erhoben hat, wie wir bereits festgestellt haben. Auch hier ist die Fastenzeit des Muharram besonders gefährlich. Es gibt also einige Gründe dafür, wenn eine allgemeine Revolte der Bombayer Armee erwartet wird. Auch die Madrasarmee, die 60.555 Mann Eingeborenentruppen zählt, und aus Haidarabad, Nagpur und Malwa, den fanatischsten Mohammedanergebieten, rekrutiert ist, würde nicht lange brauchen, um dem Beispiel zu folgen. Wenn man nun in Betracht zieht, daß die Regenzeit im August und September die Bewegungen der britischen Truppen lähmen und ihre Verbindungslinien unterbrechen wird, so scheint die Annahme berechtigt, daß <297> die aus Europa abtransportierten Verstärkungen, die zu spät und nur in kleinen Abteilungen eintreffen, sich trotz ihrer augenscheinlichen Stärke der ihnen zugewiesenen Aufgabe als nicht gewachsen erweisen werden. Wir können fast sicher darauf gefaßt sein, daß der kommende Feldzug eine Wiederholung der afghanischen Katastrophe wird.