Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 268-273.

Karl Marx

[Über die Folterungen in Indien]

Geschrieben am 28. August 1857.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5120 vom 17. September 1857, Leitartikel]

<268> Wir veröffentlichten gestern über den indischen Aufstand einen Brief unseres Londoner Korrespondenten, in dem er sehr richtig auf gewisse Vorgänge in der Vergangenheit hinwies, die diesem gewaltsamen Ausbruch den Weg bereiteten. Heute wollen wir einen Augenblick bei dieser Betrachtungsweise verharren und zeigen, daß die britischen Beherrscher Indiens durchaus nicht so milde und makellose Wohltäter des indischen Volkes sind, wie sie es der Welt weismachen möchten. In dieser Absicht halten wir uns an die offiziellen Blaubücher über die Folter in Ostindien, die dem Unterhaus während der Sitzungsperioden von 1856 und 1857 vorlagen. Wie man sehen wird, ist das Material so beweiskräftig, daß es nicht widerlegt werden kann.

Zunächst haben wir den Bericht der Folterkommission von Madras, in dem sie ihre "Überzeugung" mitteilt, "daß die Folter für Steuerzwecke allgemein existiert". Sie bezweifelt, ob

"auch nur annähernd eine gleiche Anzahl Personen jährlich wegen krimineller Delikte Gewalttätigkeiten ausgesetzt ist wie für das Vergehen, die Steuer nicht bezahlt zu haben".

Sie erklärt, daß

"eine Sache die Kommission noch schmerzlicher berührt hätte als die Überzeugung, daß die Folter existiert; es sei die Schwierigkeit, Wiedergutmachung zu erhalten, der die geschädigten Parteien gegenüberstehen".

Die von den Kommissionsmitgliedern angegebenen Gründe für diese Schwierigkeit sind: 1. Die Entfernungen, die diejenigen zurücklegen müssen, die sich persönlich beim Collector beschweren wollen, was Geldausgaben und Zeitverlust beim Aufsuchen seines Amtes einschließt. 2. Die Furcht, <269> daß schriftliche Gesuche "mit dem üblichen Vermerk zur Verweisung an den Tahsildar", den Polizei- und Steuerbeamten des Kreises, zurückgeschickt werden, das heißt, gerade an den Mann, der ihm entweder in eigener Person oder durch seine ihm untergebenen Polizeidiener Unrecht zugefügt hat. 3. Die Unzulänglichkeit der Rechtsmittel und Strafmaßnahmen, die das Gesetz für Regierungsbeamte vorsieht, selbst wenn diese solcher Vergehen förmlich angeklagt oder überführt worden sind. Es scheint, daß ein Richter nur eine Geldstrafe von fünfzig Rupien oder eine Gefängnisstrafe von einem Monat verhängen könnte, falls eine derartige Anklage vor ihm bewiesen würde. Die Alternative bestand darin, den Angeklagten entweder "zur Bestrafung dem Strafrichter zu übergeben oder seinen Fall zur Untersuchung dem Kreisgericht zu überweisen".

Der Bericht fügt hinzu,

"dies scheinen langwierige Verfahren zu sein, nur auf eine Kategorie von Vergehen anwendbar, auf Amtsmißbrauch nämlich, in Polizeidienststellen, und sind völlig unzureichend für die Erfordernisse des Falles".

Wird ein Polizei- oder Steuerbeamter, der ein und dieselbe Person darstellt, da die Polizei die Steuer einzieht, unter Anklage wegen Gelderpressung gestellt, so wird er zuerst vom Collector-Assistenten vernommen; er kann dann beim Collector Berufung einlegen und hierauf beim Steueramt. Dieses Amt kann ihn an die Regierung oder an die Zivilgerichtshöfe verweisen.

"Bei solch einem Rechtszustand könnte kein armer Raiat etwas gegen einen reichen Steuerbeamten ausrichten, und uns ist nichts bekannt von irgendwelchen Beschwerden, die unter diesen beiden Verordnungen (von 1822 und 1828) von der Bevölkerung vorgebracht worden sind."

Überdies liegt nur dann Gelderpressung vor, wenn Aneignung öffentlicher Gelder vorliegt, oder wenn ein Beamter gewaltsam eine zusätzliche Abgabe aus dem Raiat herauspreßt, die er in seine eigene Tasche steckt. Es gibt also keinerlei Rechtsmittel, um die Anwendung von Gewalt bei der Einziehung der öffentlichen Steuer zu bestrafen.

Der Bericht, dem diese angeführten Beispiele entnommen sind, bezieht sich nur auf die Präsidentschaft Madras; doch in einem Schreiben an die Direktoren stellt Lord Dalhousie im September 1855 selbst fest, daß

"er längst aufgehört hat, daran zu zweifeln, daß die Folter in der einen oder anderen Form von den untergeordneten Beamten in jeder britischen Provinz angewendet wird".

Die allgemeine Anwendung der Folter als einer Finanzinstitution Britisch-Indiens wird damit offiziell zugegeben, aber dieses Eingeständnis ist in einer <270> solchen Form gemacht worden, daß sie die britische Regierung selbst deckt. In der Tat lautet die Schlußfolgerung, zu der die Kommission von Madras gelangt, daß die Anwendung der Folter ausschließlich das Vergehen der unteren Hindubeamten sei, während die europäischen Beamten der Regierung, wenn auch erfolglos, stets alles getan hätten, dies zu verhindern. Als Antwort auf diese Behauptung machte die Eingeborenen-Assoziation von Madras im Januar 1856 eine Eingabe an das Parlament, worin sie mit folgenden Gründen Klage über die Folteruntersuchung führte: 1. Es gab überhaupt kaum irgendeine Untersuchung, da die Kommission ihre Sitzungen nur in der Stadt Madras abhielt, und nur drei Monate lang, während es, von sehr wenigen Fällen abgesehen, den Eingeborenen, die Beschwerden hatten, unmöglich war, ihre Wohnorte zu verlassen. 2. Die Kommissionsmitglieder bemühten sich nicht, dem Übel bis zur Wurzel nachzuspüren; hätten sie dies getan, wäre das Übel gerade im System der Steuereinziehung entdeckt worden. 3. Die beschuldigten einheimischen Beamten wurden nicht befragt, inwieweit ihre Vorgesetzten mit der Folterpraxis bekannt waren.

"Die letzte Schuld für diese Anwendung von Zwang", schreiben die Verfasser der Eingabe, "liegt nicht bei denen, die ihn physisch ausüben; auf sie geht sie nur von den unmittelbar vorgesetzten Beamten über, die wiederum für die veranschlagte Höhe der Steuereinnahme ihren europäischen Vorgesetzten gegenüber einstehen müssen, wobei diese in gleicher Weise der höchsten Behörde des Staates verantwortlich sind."

Wahrlich, wenige Auszüge aus dem Beweismaterial, auf dem der Bericht aus Madras laut eigener Erklärung beruht, werden genügen, um die darin enthaltene Behauptung zu widerlegen, daß "die Engländer keine Schuld trifft". So schreibt Herr W. D. Kohlhoff, ein Kaufmann:

"Die Methoden der verübten Folter sind vielfältig und entsprechen der Erfindungsgabe des Tahsildars oder seiner Untergebenen, doch ob irgendeine Abhilfe von den oberen Amtsstellen erlangt wird, ist für mich schwierig zu sagen, da alle Beschwerden im allgemeinen den Tahsildars zur Untersuchung und Meldung überwiesen werden."

Unter den Beschwerdefällen von Eingeborenen finden wir folgenden:

"Da im vergangenen Jahr unser Peasanum (Hauptpaddy oder Reisernte) wegen der Trockenheit mißraten war, konnten wir nicht wie gewöhnlich zahlen. Als die Dschamabandi <jährliche Veranlagung der Grundsteuer> gemacht wurde, forderten wir wegen der Verluste eine Ermäßigung entsprechend den Bedingungen des Abkommens von 1837, dem wir zugestimmt hatten, als Herr Eden unser Collector war. Da diese Ermäßigung nicht gewährt wurde, weigerten wir uns, unsere Pattahs <auferlegten Grundsteuern> zu akzeptieren. Darauf begann der Tahsildar, uns mit großer Härte vom Juni bis August zur Zahlung zu zwingen. Man übergab mich und andere in <271> Gewahrsam von Leuten, die uns in die Sonne zu stellen pflegten. Dort mußten wir uns niederbeugen. Steine wurden uns auf den Rücken gelegt, und so mußten wir im glühenden Sand verharren. Erst nach 8 Uhr ließ man uns auf unsere Reisfelder gehen. Derartige Mißhandlungen wurden drei Monate lang fortgesetzt, währenddessen wir mehrmals, um unsere Bittschriften abzugeben, zu dem Collector gingen, der sich weigerte, sie anzunehmen. Wir nahmen diese Bittschriften und wandten uns an den Gerichtshof, der sie dem Collector überwies. Doch wir bekamen kein Recht. Im September erhielten wir eine Warnung, und fünfundzwanzig Tage darauf wurde unser Eigentum gepfändet und dann verkauft. Neben allem, was ich erwähnt habe, wurden auch unsere Frauen mißhandelt; der kittee <ein Folterinstrument zum Knebeln> wurde ihnen auf die Brüste gesetzt."

Ein christlicher Eingeborener stellt als Antwort auf Fragen der Kommissionsmitglieder fest:

"Wenn ein Regiment von Europäern oder Eingeborenen durchmarschiert, werden alle Bauern gezwungen, umsonst Proviant usw. zu liefern, und wenn einer von ihnen um die Bezahlung der Waren ersuchen sollte, wird er grausam gefoltert."

Es folgt der Fall eines Brahmanen, der zusammen mit anderen aus seinem Dorf und den Nachbardörfern von dem Tahsildar aufgefordert wurde, Bretter, Holzkohle, Brennholz usw. gratis zu liefern, damit er den Bau der Brücke über den Kolerun durchführen könne; als jener sich weigerte, wurde er von zwölf Mann ergriffen und auf verschiedene Art mißhandelt. Er fügt hinzu:

"Ich übergab dem Subcollector, Herrn W. Cadell, eine Beschwerde, aber er stellte keine Untersuchung an und zerriß meinen Beschwerdebrief. Da er die Brücke über den Kolerun auf Kosten der Armen billig fertigstellen und sich bei der Regierung in ein gutes Licht setzen will, nimmt er keine Kenntnis von dem Mord, wie er sich auch immer zugetragen haben mag, den der Tahsildar verübt hat."

In welchem Licht die obersten Behörden ungesetzliche, bis zum äußersten Grad der Erpressung und Gewalttätigkeit gehende Handlungen betrachtet, zeigt am besten der Fall des Herrn Brereton, des Kommissars, der 1855 für den Bezirk Ludhiana im Pandschab eingesetzt war. Nach dem Bericht des Oberkommissars für den Pandschab war es erwiesen, daß

"in einer Reihe von Fällen mit Wissen des Vizekommissars, Herrn Brereton selbst, oder unter seiner direkten Leitung die Häuser wohlhabender Bürger grundlos durchsucht worden waren, daß bei solchen Gelegenheiten beschlagnahmtes Eigentum über Gebühr hinaus einbehalten wurde, daß viele Betroffene ins Gefängnis geworfen wurden und dort wochenlang lagen, ohne Kenntnis der gegen sie erhobenen Beschuldigungen, daß die Gesetze, welche Schutzhaft für üble Gesinnung vorsehen, summarisch und unterschiedslos mit blinder Härte angewandt worden waren, daß dem Vizekommissar von <272> einem Bezirk in den anderen gewisse Polizeioffiziere und Denunzianten gefolgt waren, die er verwendete, wohin er auch ging, und daß diese Leute die hauptsächlichen Unheilstifter waren".

In seinem Protokoll über den Fall sagt Lord Dalhousie:

"Wir haben unwiderlegbare Beweise - Beweise, die sogar von Herrn Brereton selbst nicht bestritten werden -, daß dieser Beamte in jedem Punkt des langen Katalogs von Unregelmäßigkeiten und Ungesetzlichkeiten schuldig gewesen ist, deren ihn der Oberkommissar angeklagt hat, und die einem Teil der britischen Verwaltung Schande gebracht und eine große Zahl britischer Untertanen grobem Unrecht, willkürlicher Verhaftung und grausamer Folter ausgesetzt haben."

Lord Dalhousie schlägt vor, "ein großes öffentliches Exempel zu statuieren", und ist folglich der Meinung, daß

"Herr Brereton zur Zeit nicht gut mit der Würde eines Vizekommissars betraut bleiben kann, sondern von diesem Rang zu dem eines ersten Assistenten degradiert werden sollte".

Diese Auszüge aus dem Blaubuch kann man mit der Bittschrift der Einwohner von Taluk in Kanara an der Malabar-Küste abschließen, die nach der Feststellung, daß sie mehrere Bittschriften ergebnislos an die Regierung überreicht hätten, ihre frühere und jetzige Lage in folgender Weise gegenüberstellen:

"Während wir feuchte und trockene Ländereien, Hügelzüge, flache Gebiete und Wälder bewirtschafteten, die leichten Abgaben zahlten, die uns auferlegt waren, und hierbei unter der Regierung der 'Rani' <'Fürstin'> Ruhe und Glück genossen, erhoben Bahadur und Tippu, die damaligen Circarbeamten <Hofbeamten>, eine zusätzliche Abgabe, doch wir bezahlten sie nie. Wir waren keinen Ausplünderungen, Unterdrückungen oder Mißhandlungen beim Einziehen der Steuer ausgesetzt. Nach der Übergabe dieses Landes an die Ehrenwerte Kompanie ersann man alle möglichen Pläne, um Geld aus uns herauszupressen. Mit diesem verwerflichen Ziel vor Augen, erfand man Maßnahmen und entwarf Verordnungen und veranlaßte die Collectors und Zivilrichter, sie zu verwirklichen. Doch die damaligen Collectors und ihre untergeordneten eingeborenen Beamten beachteten eine Zeitlang gebührend unsere Beschwerden und handelten im Einklang mit unseren Wünschen. Im Gegensatz dazu mißachten die jetzigen Collectors und die ihnen unterstellten Beamten, gierig, auf irgendeine Weise Beförderung zu erreichen, das Wohlergehen und die Interessen der Bevölkerung im allgemeinen, stellen sich unseren Nöten gegenüber taub und unterwerfen uns jeder Art Repressalien."

Wir haben hier nur ein kurzes und in milden Tönen gehaltenes Kapitel aus der wirklichen Geschichte der britischen Herrschaft in Indien gebracht. <273> Angesichts solcher Tatsachen mögen unbefangene und nachdenkliche Menschen vielleicht zu der Frage veranlaßt werden, ob ein Volk nicht zu dem Versuch berechtigt ist, die fremden Eroberer, die ihre Untertanen derart mißhandelt haben, hinauszujagen. Und wenn die Engländer diese Dinge kaltblütig tun konnten, ist es da überraschend, daß die aufständischen Hindus in der grimmigen Erregung des Aufstandes und des Kampfes sich der Verbrechen und Grausamkeiten, die gegen sie vorgebracht werden, schuldig gemacht haben?