Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 242-246.

Karl Marx

Die indische Frage

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5091 vom 14. August 1857]

<242> London, 28. Juli 1857

Die dreistündige Rede, die Herr Disraeli gestern abend im "Toten Haus" gehalten hat, wird eher gewinnen als verlieren, wenn man sie liest, anstatt sie anzuhören. Seit einiger Zeit entwickelt Herr Disraeli eine schrecklich feierliche Redeweise, eine gesuchte Bedächtigkeit des Vortrages und eine leidenschaftslose Art der Förmlichkeit, die wirklich qualvoll für seine gemarterte Zuhörerschaft ist, so sehr sie auch zu seinen eigentümlichen Vorstellungen von der Würde, die einem künftigen Minister geziemt, passen mag. Früher einmal gelang es ihm, sogar Gemeinplätzen die pointierte Form von Epigrammen zu geben. Jetzt bringt er es zuwege, selbst Epigramme in der konventionellen Langweiligkeit der Respektabilität zu begraben. Ein Redner wie Herr Disraeli, der es besser versteht, mit dem Dolch zuzustoßen, als das Schwert zu schwingen, hätte am wenigsten Voltaires Warnung vergessen sollen: "Tous les genres sont bons excepté le genre ennuyeux." <"Jedes Genre ist gut, außer dem Langweiligen.">

Außer diesen technischen Eigentümlichkeiten, die Herrn Disraelis augenblickliche Beredsamkeit charakterisieren, hat er, seitdem Palmerston an die Macht kam, sehr darauf geachtet, in seinen parlamentarischen Schaustellungen alles zu vermeiden, was von aktuellem Interesse sein könnte. Seine Reden haben nicht die Absicht, seine Anträge durchzubringen, sondern seine Anträge sollen seine Reden vorbereiten. Man könnte sie selbstverleugnerische Anträge nennen, da sie so abgefaßt sind, daß sie weder den Gegner verletzen, wenn sie angenommen, noch dem Antragsteller schaden, wenn sie abgelehnt werden. In Wirklichkeit sind sie nicht einmal darauf angelegt, angenommen oder abgelehnt zu werden, sondern einfach darauf, fallengelassen zu werden. <243> Sie gehören weder zu den Säuren noch zu den Basen, sondern kommen neutral zur Welt. Die Rede gibt nicht den Impuls zu einer Tat, sondern die Vortäuschung einer Tat bietet die Gelegenheit zu einer Rede. Dies mag tatsächlich die klassische und endgültige Form parlamentarischer Beredsamkeit sein; doch auf keinen Fall darf dann diese endgültige Form der parlamentarischen Beredsamkeit jemand darüber im Zweifel lassen, daß sie das Schicksal aller endgültigen Formen des Parlamentarismus zu teilen hat - nämlich in die Kategorie des Unfugs eingereiht zu werden. Die Handlung ist, wie Aristoteles gesagt hat, das herrschende Gesetz des Dramas. Das gilt auch von der politischen Rhetorik. Disraelis Rede über den Aufstand in Indien könnte in den Abhandlungen der Gesellschaft zur Verbreitung nützlicher Kenntnisse veröffentlicht werden, oder sie könnte vor einer mechanics' institution gehalten oder der Berliner Akademie als preiswürdiges Essay angeboten werden. Diese sonderbare Gleichgültigkeit seiner Rede in bezug auf Ort und Zeit und den Anlaß, aus dem sie gehalten wurde, beweist weitgehend, daß sie weder zu Ort und Zeit noch zum Anlaß paßte. Es würde sich als ein gewaltiger Mißgriff erweisen, wenn man ein Kapitel vom Niedergang des römischen Weltreiches, das sich sehr gut bei Montesquieu oder Gibbon lesen läßt, einem römischen Senator in den Mund legte, dessen besonderes Anliegen es war, gerade diesen Niedergang aufzuhalten. Es ist richtig, daß man sich in unseren modernen Parlamenten einen unabhängigen Redner in einer Rolle vorstellen könnte, die nicht der Würde noch des Interesses entbehrt, und der, während er nicht imstande ist, den wirklichen Gang der Ereignisse zu beeinflussen, sich selbst damit zufriedengibt, eine Haltung ironischer Neutralität einzunehmen. So eine Rolle hatte mehr oder weniger erfolgreich der verstorbene Herr Carnier-Pagès seligen Angedenkens - nicht der Garnier-Pagès der provisorischen Regierung - in Louis-Philippes Deputiertenkammer gespielt; doch Herr Disraeli, der erklärte Führer einer veralteten Partei, würde sogar einen Erfolg auf dieser Grundlage für ein außerordentliches Versagen halten. Die Meuterei der indischen Armee bot sicher eine großartige Gelegenheit für ein rednerisches Schauspiel. Aber was war denn, abgesehen von seiner ermüdenden Art der Behandlung des Gegenstandes, der Hauptpunkt des Antrages, den er zum Vorwand für seine Rede machte? Es war überhaupt kein Antrag. Er gab vor, begierig zu sein, zwei offizielle Dokumente kennenzulernen, wobei er von dem einen nicht ganz sicher war, ob es existierte, und von dem anderen genau wußte, daß es nicht unmittelbar mit dem vorliegenden Gegenstand zu tun hatte. Folglich fehlte seiner Rede und seinem Antrag jeder Kontrastpunkt außer dem, daß der Antrag eine Rede ohne Gegenstand ankündigte und daß der Gegenstand <244> sich einer Rede nicht würdig erwies. Doch Herrn Disradis Rede sollte als die in hohem Maße vollendete Meinung des hervorragendsten englischen Staatsmannes außerhalb der Regierung die Aufmerksamkeit des Auslandes auf sich lenken. Ich werde mich damit begnügen, eine kurze Analyse seiner "Betrachtungen zum Niedergang des englisch-indischen Reiches" mit seinen ipsissima verba <eigenen Worten> wiederzugeben.

"Zeigt der Aufruhr in Indien eine Truppenmeuterei an, oder ist er ein nationaler Aufstand? Ist das Verhalten der Truppen die Folge eines plötzlichen Impulses oder das Resultat einer organisierten Verschwörung?"

Um diese Fragen drehe sich alles, versichert Herr Disraeli. Bis zu den letzten zehn Jahren, stellte er fest, war die britische Herrschaft in Indien auf dem alten Prinzip divide et impera <teile und herrsche> begründet, aber es wurde unter Berücksichtigung der verschiedenen Nationalitäten, aus denen Indien besteht, unter Vermeidung der Einmischung in ihre Religion und unter Bewahrung ihres Grundbesitzes durchgeführt. Die Sepoy-Armee diente als Sicherheitsventil, um die aufrührerischen Geister des Landes zu absorbieren. Aber seit einigen Jahren werde in der Beherrschung Indiens ein neues Prinzip angewandt - das Prinzip, den Nationalcharakter zu zerstören. Das Prinzip sei vermittels der gewaltsamen Beseitigung der eingeborenen Fürsten, der Störung der Erbrechtsverhältnisse und der Einmischung in die Religion des Volkes verwirklicht worden. Die finanziellen Schwierigkeiten der Ostindischen Kompanie hatten 1848 den Punkt erreicht, wo es notwendig wurde, ihre Einnahmen auf diese oder jene Weise zu erhöhen. Dann ließ man ein Memorandum des Rates zirkulieren, in dem fast ohne Umschweife das Prinzip aufgestellt wurde, daß die einzige Methode, um höhere Einkünfte zu erlangen, die Vergrößerung des britischen Territoriums auf Kosten der eingeborenen Fürsten wäre. Dementsprechend wurde beim Tode des Radschas von Satara dessen adoptierter Erbe von der Ostindischen Kompanie nicht anerkannt, sondern das Fürstentum ihrem eigenen Herrschaftsgebiete einverleibt. Von diesem Augenblick an wurde das System der Annexion stets angewandt, wenn ein eingeborener Fürst ohne Leibeserben starb. Das Prinzip der Adoption - geradezu der Eckpfeiler der indischen Gesellschaft - wurde von der Regierung systematisch ignoriert. So wurden von 1848 bis 1854 die Fürstentümer von über einem Dutzend unabhängiger Fürsten gewaltsam dem britischen Empire angegliedert. 1854 bemächtigte mm sich gewaltsam des Fürstentums Berar, das 80.000 Quadratmeilen Land, eine <245> Bevölkerung von 4.000.000 bis 5.000.000 und ungeheure Schätze besaß. Herr Disraeli beendet die Aufzählung gewaltsamer Annexionen mit der Annexion von Audh, die die ostindische Regierung nicht nur mit den Hindus, sondern auch mit den Mohammedanern in Konflikt brachte. Herr Disraeli fährt dann fort und zeigt, wie in den letzten zehn Jahren die Erbrechtsverhältnisse in Indien durch das neue Regierungssystem gestört wurden.

"Das Prinzip des Adoptionsgesetzes", sagt er, "ist nicht das Vorrecht der Fürsten und Fürstentümer in Indien, es betrifft jeden in Hindustan, der Grundeigentum hat und sich zur Hindu-Religion bekennt."

Ich zitiere eine Stelle:

"Der große Lehnsmann oder Dschagirdar, der für seine Ländereien zu staatlichem Dienst gegenüber seinem Herrn verpflichtet ist, und der Inamdar, der sein Land ohne jede Bodensteuer besitzt und, wenn nicht genau, so doch in einem volkstümlichen Sinne unserem Freeholder entspricht - diese beiden Klassen - Klassen, die in Indien die zahlreichsten sind - finden, falls ihre Leibeserben ausbleiben, immer in diesem Prinzip das Mittel, Nachfolger für ihre Güter zu erhalten. Diese Klassen waren alle von der Annexion Sataras betroffen, sie waren betroffen von der Annexion der Länder der zehn niedrigeren, aber unabhängigen Fürsten, die ich bereits erwähnt habe, und sie waren nicht nur betroffen, sie waren bis zum Innersten erschrocken, als die Annexion des Fürstentums Berar vor sich ging. Wer war noch sicher? Welcher Lehnsmann, welcher Freeholder, der keinen Leibeserben hatte, war in ganz Indien noch sicher?" ("Hört, hört.") "Das waren keine müßigen Befürchtungen; es wurde weitgehend danach gehandelt und verfahren. Man begann zum ersten Mal in Indien, die Belehnungen mit Dschagirs und Inams rückgängig zu machen. Es hat zweifellos schon früher unkluge Versuche gegeben, die Besitzrechte zu untersuchen, doch niemand hätte es sich jemals träumen lassen, das Adoptionsgesetz aufzuheben; deshalb war keine Macht und keine Regierung je imstande gewesen, die Belehnungen mit Dschagirs und Inams rückgängig zu machen, deren Besitzer keine Leibeserben hinterlassen hatten. Hier gab es eine neue Einkommensquelle; doch während alle diese Dinge die Gemüter jener Klassen der Hindus bewegten, unternahm die Regierung einen weiteren Schritt, die Erbrechtsverhältnisse zu stören, worauf ich jetzt die Aufmerksamkeit des Hauses lenken muß. Aus den Zeugenaussagen vor der Kommission von 1853 ist dem Haus zweifellos bekannt, daß es in Indien große Landstriche gibt, die von der Bodensteuer befreit sind. In Indien von der Bodensteuer befreit zu sein ist weit mehr, als wenn man in unserem Land von der Bodensteuer befreit ist, denn, um es allgemein und verständlich zu sagen, die Bodensteuer in Indien ist die einzige Art der Besteuerung durch den Staat ...

Der Ursprung dieser Belehnungen ist schwer zu ergründen, aber sie reichen zweifellos sehr weit zurück. Es gibt da verschiedene Arten. Außer den privaten Freigütern, die sehr ausgedehnt sind, gibt es große Lehnsgüter, die von der Bodensteuer befreit sind und mit denen Moscheen und Tempel belehnt wurden ..."

<246> Unter dem Vorwand, die Ansprüche auf Steuerbefreiung seien betrügerisch, machte sich der britische Generalgouverneur selbst daran, die Besitzrechte des indischen Grundeigentums zu untersuchen. Unter dem 1848 eingeführten neuen System

"wurde dieser Plan zur Untersuchung der Besitzrechte sofort als Beweis für eine mächtige Regierung, eine starke Exekutive und als höchst fruchtbare Quelle für Staatseinkünfte begrüßt. Deshalb wurden Kommissionen ernannt, um die Besitzrechte auf Grundeigentum in der Präsidentschaft Bengalen und im angrenzenden Gebiet zu erforschen. Sie wurden auch in der Präsidentschaft Bombay ernannt, und genaue Untersuchungen mußten in den neugeschaffenen Provinzen vorgenommen werden, damit die Arbeit dieser Kommissionen nach Abschluß der Untersuchungen mit der erforderlichen Wirksamkeit erfolgen konnte. Es besteht nun kein Zweifel, daß die Tätigkeit dieser Kommissionen zur Untersuchung des steuerfreien Grundeigentums in Indien in den letzten neun Jahren mit ungeheurer Geschwindigkeit fortgeschritten ist und daß gewaltige Ergebnisse erzielt worden sind."

Herr Disraeli schätzt, daß die Zurücknahme der Lehen von ihren Eigentümern jährlich nicht weniger als 500.000 Pfd.St. in der Präsidentschaft Bengalen, 370.000 Pfd.St. in der Präsidentschaft Bombay, 200.000 Pfd.St. im Pandschab usw. beträgt. Nicht zufrieden mit dieser einen Methode, sich den Besitz der Eingeborenen anzueignen, stellte die britische Regierung die Pensionszahlungen an die eingeborenen Würdenträger ein, zu denen sie vertraglich verpflichtet war.

"Dies", sagt Herr Disrseli, "ist eine Konfiskation mit neuen Mitteln, aber in einem äußerst breiten, erschreckenden und empörenden Ausmaß."

Herr Disraeli behandelt dann die Einmischung in die Religion der Eingeborenen, ein Punkt, bei dem wir nicht zu verweilen brauchen. Aus all dem Vorerwähnten kommt er zu dem Schluß, daß der augenblickliche Aufruhr in Indien keine Truppenmeuterei ist, sondern ein nationaler Aufstand, in dem die Sepoys nur die handelnden Werkzeuge sind. Er endet seinen Redeschwall, indem er der Regierung den Rat gibt, ihre Aufmerksamkeit der Verbesserung der inneren Lage in Indien zuzuwenden, anstatt ihre augenblickliche aggressive Politik fortzusetzen.