Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 238-241.

Karl Marx

Der Aufstand in Indien

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5082 vom 4. August 1857]

<238> London, 17. Juli 1857

Am 8. Juni war gerade ein Monat vergangen, seit Delhi in die Hände der revoltierenden Sepoys fiel und durch sie ein Mogul zum Herrscher proklamiert wurde. Auch nur der Gedanke, daß die Meuterer die alte Hauptstadt Indiens gegen die britischen Truppen halten könnten, wäre unsinnig. Delhi ist nur durch einen Wall und einen einfachen Graben befestigt, während die Höhen, die es umgeben und beherrschen, bereits im Besitz der Engländer sind, die die Übergabe der Stadt in sehr kurzer Zeit erzwingen können, sogar ohne die Mauern zu beschießen, indem sie kurzerhand die Wasserversorgung abschneiden. Überdies ist ein bunt durcheinandergewürfelter Haufen meuternder Soldaten, die ihre eigenen Offiziere umgebracht, die Fesseln der Disziplin zerrissen haben und denen es nicht gelungen ist, einen Mann zu finden, dem sie den Oberbefehl übertragen könnten, gewiß eine Truppe, die wohl kaum imstande ist, einen ernsthaften und anhaltenden Widerstand zu organisieren. Wie um die Verwirrung noch verwirrter zu machen, schwellen die bunt nebeinandergewürfelten Reihen der Verteidiger von Delhi täglich durch frisch ankommende neue Kontingente von Meuterern aus allen Teilen der bengalischen Präsidentschaft an, die sich, wie nach einem vorher verabredeten Plan, in die todgeweihte Stadt werfen. Die beiden Ausfälle, die die Meuterer am 30. und 31 .Mai wagten und bei denen sie jedesmal unter schweren Verlusten zurückgeschlagen wurden, scheinen mehr aus Verzweiflung als aus einem Gefühl von Selbstvertrauen oder Stärke unternommen worden zu sein. Das einzige, worüber man sich wundern muß, ist die Schwerfälligkeit der britischen Operationen, die jedoch bis zu einem gewissen Grade durch die Unbilden der Jahreszeit und den Mangel an Transportmitteln erklärt werden können. Französische Meldungen berichten, daß außer General <239> Anson, dem Oberbefehlshaber, schon etwa 4.000 europäische Soldaten der mörderischen Hitze zum Opfer gefallen sind, und selbst die englischen Zeitungen geben zu, daß die Soldaten in den Gefechten vor Delhi mehr unter der Sonne als unter den feindlichen Kugeln zu leiden hatten. Infolge der spärlichen Transportmittel brauchten die britischen Hauptstreitkräfte, die in Ambala stationiert waren, etwa siebenundzwanzig Tage für ihren Marsch nach Delhi, so daß sie im Durchschnitt etwa eineinhalb Stunden täglich marschierten. Eine weitere Verzögerung verursachte der Umstand, daß es in Ambala keine schwere Artillerie gab, woraus sich die Notwendigkeit ergab, einen Belagerungstrain vom nächsten Arsenal, das sich erst in Phillaur am anderen Ufer des Satledsch befand, herüberzuschaffen.

Überdies kann die Nachricht vom Fall Delhis täglich erwartet werden. Doch was dann? Wenn die Tatsache, daß die Rebellen einen Monat lang das althergebrachte Zentrum des indischen Reiches unangefochten im Besitz hatten, vielleicht als das stärkste Ferment wirkte, wodurch die bengalische Armee völlig auseinanderbrach, sich Meuterei und Fahnenflucht von Kalkutta bis zum Pandschab im Norden und Radschputana im Osten ausbreiteten und die britische Autorität von einem Ende Indiens bis zum anderen erschüttert wurde, so könnte man keinen größeren Fehler begehen, als anzunehmen, daß der Fall Delhis, wenn er auch Bestürzung in den Reihen der Sepoys hervorrufen mag, genügen sollte, um die Rebellion zu ersticken, ihren Fortschritt aufzuhalten oder die britische Herrschaft wiederherzustellen. Aus der ganzen bengalischen Eingeborenenarmee, die etwa 80.000 Mann zählte - darunter etwa 28.000 Radschputen, 23.000 Brahmanen, 13.000 Mohammedaner, 5.000 Hindus niederer Kasten, und der Rest Europäer -, sind 30.000 infolge von Meuterei, Fahnenflucht oder Entlassung aus dem Dienst verschwunden. Was den Rest dieser Armee betrifft, so haben mehrere Regimenter öffentlich erklärt, daß sie treu bleiben und die britische Obrigkeit unterstützen werden, außer in der Sache, die die eingeborenen Truppen jetzt verfechten: sie werden die Behörden nicht gegen die meuternden Eingeborenenregimenter unterstützen, sondern werden im Gegenteil ihren "bhaies" (Brüdern) helfen. Daß es so ist, hat sich in fast jedem Standort gezeigt, von Kalkutta angefangen. Eine Weile blieben die Eingeborenenregimenter passiv; doch sobald sie sich stark genug fühlten, meuterten sie. Ein Indienkorrespondent der Londoner "Times" läßt keinen Zweifel an der "Loyalität" der Regimenter, die sich noch nicht offen entschieden haben, und der einheimischen Bevölkerung, die noch nicht gemeinsame Sache mit den Rebellen gemacht hat.

"Wenn man liest", schreibt er, "daß alles ruhig ist, muß man es so verstehen, daß die eingeborenen Truppen noch nicht zur offenen Meuterei übergegangen sind, daß <240> der unzufriedene Teil der Einwohner noch nicht offen rebelliert, daß sie entweder zu schwach sind oder sich zu schwach fühlen, oder daß sie auf einen günstigeren Zeitpunkt warten. Wo man von der 'Loyalitätserklärung' in irgendeinem der bengalischen Eingeborenenregimenter, Kavallerie oder Infanterie, liest, muß man es so verstehen, daß nur die Hälfte der erwähnten Regimenter, die uns so gewogen sein sollen, wirklich treu ist; die andere Hälfte spielt nur Theater, um die Europäer um so leichter überrumpeln zu können, wenn der geeignete Moment gekommen ist, oder um ihren Argwohn zu zerstreuen und dann eher den meuternden Kameraden helfen zu können."

Im Pandschab ist die offene Rebellion nur durch Auflösung der Eingeborenentruppen verhindert worden. In Audh kann man von den Engländern nur sagen, daß sie Lakhnau, die Residenz, halten, während überall sonst die Eingeborenenregimenter revoltierten, mit der Munition entkamen, alle Bungalows niederbrannten und sich mit den Einwohnern vereinigten, die zu den Waffen griffen. Die wirkliche Lage der englischen Armee kommt am besten darin zum Ausdruck, daß man es für notwendig erachtet hat, sowohl im Pandschab wie im Radschputana fliegende Korps zusammenzustellen. Das bedeutet, daß sich die Engländer weder auf ihre Sepoy-Truppen noch auf die Eingeborenen verlassen können, um die Verbindung zwischen ihren zerstreuten Kräften aufrechtzuerhalten. Wie die Franzosen während des Spanienkrieges haben sie nur den von ihren eigenen Truppen gehaltenen Geländeabschnitt in der Hand und die nächste Umgebung, die von diesem Abschnitt beherrscht wird; was die Aufrechterhaltung der Verbindung zwischen den zertrennten Gliedern ihrer Armee anbetrifft, so sind sie auf fliegende Korps angewiesen, deren Verwendung schon an sich höchst unsicher ist und naturgemäß im gleichen Maße an Wirksamkeit verliert, wie sie sich über ein größeres Gebiet erstreckt. Die augenblickliche Unzulänglichkeit der britischen Streitkräfte ist ferner dadurch erwiesen, daß sie gezwungen waren, den Abtransport der Truppenkassen aus unruhigen Standorten von den Sepoys selbst vornehmen zu lassen, die ohne Ausnahme auf dem Marsch rebellierten und mit den ihnen anvertrauten Schätzen flüchteten. Da die aus England abtransportierten Truppen, selbst im besten Falle, nicht vor November eintreffen werden, und da es noch gefährlicher wäre, europäische Truppen aus den Präsidentschaften Madras und Bombay abzuziehen - beim 10. Sepoy-Regiment von Madras hat es schon Anzeichen von Unzufriedenheit gegeben -, muß jeder Gedanke an die Einkassierung der üblichen Steuern in der ganzen Präsidentschaft Bengalen aufgegeben und zugelassen werden, daß der Zersetzungsprozeß weiter fortschreitet. Selbst wenn wir annehmen, die Birmanen werden sich nicht die Gunst der Umstände zunutze machen, der Maharadscha von Gwalior wird weiterhin die Engländer unterstützen und der Herrscher <241> von Nepal, der die beste indische Armee befehligt, sich ruhig verhalten, das abtrünnige Peschawar wird sich nicht mit den unruhigen Bergstämmen vereinigen und der Schah von Persien nicht so töricht sein, Herat zu räumen, so muß doch die ganze Präsidentschaft Bengalen zurückerobert und die gesamte englisch-indische Armee neu aufgestellt werden. Sämtliche Kosten dieses gewaltigen Unternehmens wird das britische Volk zu tragen haben. Was die Meinung betrifft, die Lord Granville im Oberhaus geäußert hat, die Ostindische Kompanie sei imstande, mit Indienanleihen die notwendigen Mittel aufzubringen, so kann man ihre Richtigkeit nach den Wirkungen beurteilen, die die unruhige Lage in den Nordwestprovinzen auf dem Geldmarkt in Bombay hervorgerufen hat. Plötzliche Panik ergriff die einheimischen Kapitalisten, sehr große Summen wurden von den Banken abgehoben, Staatspapiere erwiesen sich als fast unverkäuflich, und es setzte eine Geldhortung großen Ausmaßes nicht nur in Bombay ein, sondern auch in den umliegenden Gebieten.