Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 153-155.

Karl Marx

[Rußlands Handel mit China]

Geschrieben um den 18. März 1857.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4981 vom 7. April 1857, Leitartikel]

<153> In Hinsicht auf den Handel und Verkehr mit China, deren Ausweitung Lord Palmerston und Louis-Napoleon gewaltsam in Angriff genommen haben, hat augenscheinlich die Position, die Rußland einnimmt, nicht wenig Neid erweckt. Gewiß, es ist sehr wohl möglich, daß Rußland, ohne auch nur eine Kopeke zu verausgaben oder militärische Machtmittel zu gebrauchen, zu guter Letzt, und zwar infolge des gegenwärtigen Konfliktes mit China, mehr erreichen wird, als jede der beiden kriegführenden Nationen.

Die Beziehungen Rußlands zum chinesischen Kaiserreich sind überhaupt von besonderer Art. Während den Engländern und uns selbst <den Amerikanern> - denn an den gegenwärtigen Feindseligkeiten sind die Franzosen eigentlich nur nebenbei beteiligt, da sie tatsächlich keinen Händel mit China treiben - das Privileg des unmittelbaren Verkehrs nicht einmal mit dem Kaiserlichen Statthalter von Kanton zugestanden wird, genießen die Russen den Vorzug, eine Botschaft in Peking zu unterhalten. Allerdings soll dieser Vorteil nur dadurch erkauft sein, daß Rußland sich darein gefügt habe, am Himmlischen Hofe unter die tributpflichtigen Vasallenstaaten des Chinesischen Reiches gerechnet zu werden. Immerhin wird es dadurch der russischen Diplomatie möglich, sich wie in Europa auch in China einen festen Einfluß zu sichern, der keineswegs auf rein diplomatische Tätigkeit beschränkt ist.

Die Russen sind vom Seehandel mit China ausgeschlossen und daher an den früheren oder gegenwärtigen Streitigkeiten über diesen Gegenstand weder beteiligt noch in sie verwickelt; auch entgehen sie jener Abneigung, die die Chinesen seit undenklichen Zeiten allen Ausländern entgegen- <154> gebracht haben, die sich ihren Küsten nähern und die sie - nicht ganz ohne Grund - mit den verwegenen Piraten verwechseln, von denen anscheinend seit je die Küsten Chinas unsicher gemacht worden sind. Doch werden die Russen für diesen Ausschluß vom Seehandel dadurch entschädigt, daß sie sich eines Inland- und Überlandhandels erfreuen, der speziell ihnen vorbehalten ist, und wobei es unwahrscheinlich ist, daß irgendwer auf diesem Gebiet konkurrieren könnte. Dieser Handel, der 1768 unter der Regierung Katharinas II. vertraglich geregelt worden ist, hat seinen hauptsächlichen, wenn nicht gar einzigen Umschlagplatz in Kiachta, das an der Grenze zwischen Südsibirien und der Chinesischen Tatarei, an einem Zufluß des Baikal-Sees, etwa hundert Meilen südlich von Irkutsk liegt. Dieser Handel, der sich auf einer Art Jahrmarkt abspielt, wird von zwölf Agenten besorgt - sechs Russen und sechs Chinesen -, die in Kiachta zusammenkommen und die Maße festsetzen - der Händel erfolgt ausschließlich durch Tausch -, nach denen die von jeder Seite angebotenen Waren ausgetauscht werden sollen. Die wichtigsten Handelsartikel sind auf chinesischer Seite Tee und auf russischer Seite Baumwoll- und Wollstoffe. In den letzten Jahren hat dieser Handel anscheinend erheblich zugenommen. Vor zehn bis zwölf Jahren wurden den Russen in Kiachta im Durchschnitt nicht mehr als vierzigtausend Kisten Tee verkauft; 1852 waren es jedoch einhundertundfünfundsiebzigtausend Kisten, wobei der größere Teil von jener vorzüglichen Qualität war, die dem kontinentalen Verbraucher als Karawanentee wohlbekannt ist, im Gegensatz zu der schlechteren Sorte, die auf dem Seewege eingeführt wird. Weiter verkauften die Chinesen geringere Mengen Zucker, Baumwolle, Rohseide und Seidenwaren, aber alles in sehr beschränktem Umfang. Die Russen bezahlten zu ungefähr entsprechenden Mengen in Baumwoll- und Wollwaren, zusätzlich kleiner Mengen Juchtenleder, Metallwaren, Pelze und sogar Opium. Der Gesamtwert der gekauften und verkauften Waren - die in den veröffentlichten Berichten anscheinend zu äußerst billigen Preisen eingesetzt sind - erreichte die hohe Summe von über fünfzehn Millionen Dollar. Infolge der inneren Unruhen in China und der Tatsache, daß die Straße aus den Teeprovinzen von Banden plündernder Rebellen besetzt war, sank 1853 die nach Kiachta beförderte Teemenge auf fünfzigtausend Kisten, und der Gesamtwert des Handelsgeschäfts betrug in diesem Jahr nicht mehr als etwa sechs Millionen Dollar. In den beiden folgenden Jahren jedoch belebte sich dieser Handel wieder, und 1855 wurden nicht weniger als einhundertundzwölftausend Kisten Tee zum Jahrmarkt nach Kiachta gebracht.

Durch diesen größer werdenden Handel ist Kiachta, das im russischen Grenzgebiet liegt, von einem bloßen Fort und Marktflecken zu einer an- <155> sehnlichen Stadt angewachsen. Es ist zur Hauptstadt dieses Teils der Grenzregion erklärt worden und soll dadurch ausgezeichnet werden, daß es einen Militärkommandanten und einen Zivilgouverneur bekommt. Gleichzeitig ist kürzlich eine direkte und regelmäßige Postverbindung zur Übermittlung offizieller Depeschen zwischen Kiachta und dem etwa neunhundert Meilen davon entfernten Peking hergestellt worden.

Klar ist, daß Europa seinen gesamten Bedarf an Tee auf diesem Wege decken könnte, falls die gegenwärtigen Feindseligkeiten zum Erliegen des Seehandels führen sollten. Man gibt sogar zu verstehen, Rußland könne selbst bei unbehindertem Seehandel, sobald sein Eisenbahnnetz ausgebaut sei, zu einem mächtigen Konkurrenten der seefahrenden Nationen in der Versorgung der europäischen Märkte mit Tee werden. Diese Eisenbahnlinien werden eine direkte Verbindung zwischen den Häfen von Kronstadt und Libau und der alten Stadt Nishni-Nowgorod im Innern Rußlands herstellen, dem Wohnsitz der Kaufleute, die den Handel mit Kiachta betreiben. Die Versorgung Europas mit Tee auf diesem Überlandwege ist jedenfalls wahrscheinlicher, als wenn unsere projektierte Pazifikbahn zu diesem Zweck verwendet wird. Auch Seide, der andere Hauptausfuhrartikel Chinas, nimmt, verglichen mit ihrem Wert, so wenig Platz ein, daß ihr Transport zu Lande keineswegs unmöglich ist, während der China-Handel den russischen Fertigwaren einen Markt eröffnet, wie sie ihn sonst nirgends finden können.

Wir können jedoch beobachten, daß die Bemühungen Rußlands keineswegs auf die Erweiterung dieses Inlandhandels beschränkt sind. Schon vor einigen Jahren nahm es die Ufer des Amur in Besitz, das Ursprungsland des jetzt in China herrschenden Geschlechts. Seine Bemühungen in dieser Richtung erfuhren während des letzten Krieges eine gewisse Einschränkung und Unterbrechung, werden jedoch zweifellos wieder aufgenommen und energisch weitergeführt werden. Rußland ist im Besitz der Kurilen und der benachbarten Küsten von Kamtschatka. Es unterhält bereits eine Flotte in jenen Gewässern und wird zweifellos jede sich bietende Gelegenheit benutzen, ebenfalls am Seehandel mit China teilzuhaben. Dies ist jedoch von geringer Bedeutung für Rußland, verglichen mit der Ausdehnung jenes Überlandhandels, dessen Monopol es besitzt.