Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 71-73.

Karl Marx

[Der Englisch-Persische Krieg]

Geschrieben am 30. Oktober 1856.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4904 vom 7. Januar 1857, Leitartikel]

<71> Die Kriegserklärung Englands oder vielmehr der Ostindischen Kompanie an Persien ist die Wiederholung einer jener listigen und rücksichtslosen Tricks der englischen Diplomatie in Asien, durch die England seine Besitzungen auf diesem Kontinent erweitert hat. Sobald die Kompanie einen habgierigen Blick auf die Besitzungen eines beliebigen unabhängigen Herrschers oder auf ein Gebiet wirft, dessen politische und kommerzielle Hilfsquellen oder dessen Gold und Edelsteine begehrt werden, wird das Opfer beschuldigt, irgendeinen angenommenen oder wirklichen Vertrag verletzt, ein imaginäres Versprechen gebrochen, eine Einschränkungsbestimmung überschritten oder irgendeinen nicht greifbaren Frevel begangen zu haben, und dann wird der Krieg erklärt, und das ewige Unrecht, die stete Gewalt, versinnbildlicht in der Fabel vom Wolf und dem Lamm, wird wieder blutigrot in die englische Geschichte eingetragen.

England hat viele Jahre hindurch nach einer Position im Persischen Golf und vor allem nach dem Besitz der Insel Charak getrachtet, die im nördlichen Teil jenes Gewässers gelegen ist. Der berühmte Sir John Malcolm, mehrmals Gesandter in Persien, ließ sich über den Wert jener Insel für England aus und stellte fest, daß sie zu einer der blühendsten Niederlassungen Asiens gemacht werden könnte, da sie in der Nähe von Buschir, Bender Rig, Bassorah, Grien Barberia und El Katif liege. Demzufolge sind die Insel und Buschir schon in Englands Besitz. Sir John bewertete sie als Mittelpunkt für den Handel der Türkei, Arabiens und Persiens. Das Klima ist ausgezeichnet, und sie hat alle Voraussetzungen, um ein blühender Fleck zu werden. Der Gesandte unterbreitete vor mehr als fünfunddreißig Jahren dem damaligen Generalgouverneur, Lord Minto, seine Beobachtungen, und beide versuchten, den Plan auszuführen. Sir John erhielt in der Tat das Kommando über eine <72> Expedition zur Einnahme der Insel und war schon aufgebrochen, als er Befehl erhielt, nach Kalkutta zurückzukehren, und Sir Harford Jones wurde in diplomatischer Mission nach Persien geschickt. Während der ersten Belagerung Herats durch Persien 1837/1838 nahm England unter dem gleichen Vorwand wie jetzt - d.h. zur Verteidigung der Afghanen, mit denen es ständig in tödlichem Streit liegt - Charak in Besitz, wurde aber durch Umstände, durch die Einmischung Rußlands, gezwungen, seine Beute aufzugeben. Der kürzlich wiederholte und erfolgreiche Angriff Persiens auf Herat bot England eine Gelegenheit, den Schah des Vertrauensbruchs zu beschuldigen und die Insel als Eröffnung der Feindseligkeiten zu nehmen.

So hat England ein halbes Jahrhundert ständig, aber selten mit Erfolg, danach gestrebt, sein Übergewicht im Kabinett der persischen Schahs herzustellen. Diese sind offenbar ihren schmeichelnden Feinden gewachsen und entziehen sich solch verräterischer Umarmung. Abgesehen davon, daß die Perser die englische Handlungsweise in Indien vor Augen haben, denken sie sehr wahrscheinlich an die Warnung, die Feth Ali Schah 1805 erhalten hatte:

"Mißtraue dem Rat einer Nation habgieriger Kaufleute, die in Indien mit dem Leben und den Kronen der Herrscher Geschäfte machen."

Set a thief to catch a thief. <Setz einen Dieb an, um einen Dieb zu fangen.> In Teheran, der Hauptstadt Persiens, ist der englische Einfluß sehr gering, denn ungeachtet der dortigen russischen Intrigen, nimmt Frankreich einen prominenten Platz ein, und Persien mag von den drei Flibustiern die britischen am meisten fürchten. Augenblicklich ist eine Gesandtschaft von Persien aus auf dem Weg nach Paris oder hat es schon erreicht, und dort wird höchstwahrscheinlich die persische Komplikation Gegenstand diplomatischer Dispute sein. Frankreich steht in der Tat der Besetzung der Insel im Persischen Golf nicht gleichgültig gegenüber. Das Problem wird durch die Tatsache verschärft, daß Frankreich irgendeine schon begrabene Urkunde wieder ausgegraben hat, wonach ihm Charak schon zweimal von den persischen Schahs zugesprochen worden ist - einmal, weit zurückliegend, 1708 unter Ludwig XIV. und dann 1808 -, bei beiden Gelegenheiten unter bestimmten Bedingungen, das ist wahr, aber in Formulierungen, die genügen, um irgendwelche Rechte bzw. Ansprüche des jetzigen Imitators jener Herrscher, die genügend anti-englisch eingestellt waren, zu begründen.

In einer kürzlichen Antwort an das "Journal des Débats" tritt die Londoner "Times" im Namen Englands jeden Anspruch auf die Führung in euro- <73> päischen Angelegenheiten an Frankreich ab, reserviert aber für die englische Nation die unbestrittene Führung der Angelegenheiten Asiens und Amerikas, in die sich keine andere europäische Macht einmischen soll. Es bleibt jedoch zweifelhaft, oh Louis Bonaparte diese Teilung der Welt akzeptieren wird. Jedenfalls hat die französische Diplomatie in Teheran während der letzten Mißverständnisse England nicht von Herzen unterstützt, und die französische Presse, die die gallischen Ansprüche auf Charak wieder ausgräbt und erörtert, scheint anzuzeigen, daß England es nicht leicht haben wird, Persien anzugreifen und zu zerstückeln.