Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Berlin/DDR 1961. Band 12, S. 15-19.
Aus dem Englischen.
["The People's Paper" Nr. 211 vom 17. Mai 1856]
<15> Die Geschichte des Hauses Savoyen kann man in drei Perioden einteilen - die erste, in welcher es aufsteigt und sich ausdehnt, wobei es eine zweideutige Position zwischen den Guelfen und Ghibellinen, zwischen den Italienischen Republiken und dem Deutschen Reich bezieht; die zweite, in der es gedeiht, indem es in den Kriegen zwischen Frankreich und Österreich die Seiten wechselt, und die letzte Etappe, in der es bemüht ist, den weltumspannenden Kampf zwischen Revolution und Konterrevolution zu seinen eigenen Gunsten zu nutzen, wie es früher den Antagonismus der Völker und Dynastien ausgenutzt hat. In allen drei Perioden ist Zweideutigkeit die konstante Achse, um die sich seine Politik dreht, und die Ergebnisse, unbedeutend an Ausmaß und doppelsinnig im Charakter, erscheinen als natürliche Frucht dieser Politik.
Am Ende der ersten Periode, gleichzeitig mit der Herausbildung der großen europäischen Monarchien, beobachten wir, wie sich das Haus Savoyen zu einer kleinen Monarchie entwickelt. Am Ende der zweiten Periode geruhte der Wiener Kongreß, ihm die Genuesische Republik zu überlassen, während Österreich Venedig und die Lombardei verschluckte und die Heilige Allianz alle zweitrangigen Mächte knebelte, gleich welcher Konfession. Im Laufe der dritten Periode endlich darf Piemont auf dem Pariser Kongreß erscheinen, es verfaßt ein Memorandum gegen Österreich und Neapel, erteilt dem Papst weise Ratschläge, läßt sich von einem Orlow auf die Schultern klopfen, wird in seinen konstitutionellen Bestrebungen durch den coup d'état ermutigt und in seinen Träumen von einer Vormachtstellung in Italien von demselben Palmerston aufgestachelt, der 1848 und 1849 Piemont so erfolgreich verriet.
<16> Es ist ein recht widersinniger Gedanke seitens der sardinischen Vertreter, daß der Konstitutionalismus, dessen Agonie sie gegenwärtig in Großbritannien mit eigenen Augen betrachten können und von dessen Bankrott die Revolutionen von 1848/49 das europäische Festland widerhallen ließen - indem sie bewiesen, daß er gegen die Bajonette der Kronen und die Barrikaden der Völker gleichermaßen machtlos ist -, daß dieser Konstitutionalismus jetzt im Begriff sei, nicht allein seine restitutio in integrum <vollständiger Wiederherstellung> auf der piemontesischen Bühne zu feiern, sondern sogar eine überwältigende Macht zu werden. Solch ein Gedanke konnte nur von den großen Männern eines kleinen Staates hervorgebracht werden. Für jeden unparteiischen Beobachter ist es eine unzweifelhafte Tatsache, daß neben Frankreich, als der großen Monarchie, Piemont eine kleine Monarchie bleiben muß; daß angesichts des kaiserlichen Despotismus in Frankreich Piemont bestenfalls nur geduldeterweise existiert; und daß mit der Bildung einer echten Republik in Frankreich die piemontesische Monarchie verschwinden und sich in einer italienischen Republik auflösen wird. Namentlich die Bedingungen, von denen das Bestehen der sardinischen Monarchie abhängt, hindern sie an der Erreichung ihrer ehrgeizigen Ziele. Die Rolle des Befreiers von Italien kann sie nur in einer Zeit spielen, wenn die Revolution in Europa ausbleibt und die Konterrevolution in Frankreich die unumschränkte Macht besitzt. Unter solchen Bedingungen kann sie daran denken, als der einzige italienische Staat mit fortschrittlichen Tendenzen, mit einheimischen Herrschern und einer nationalen Armee die Führung in Italien zu übernehmen. Aber gerade diese Bedingungen setzen sie dem zweiseitigen Druck des kaiserlichen Frankreichs auf der einen und des kaiserlichen Österreichs auf der anderen Seite aus. Im Falle ernster Reibungen zwischen diesen benachbarten Kaiserreichen müßte die sardinische Monarchie zum Satelliten des einen und zum Schlachtfeld beider werden. Im Falle einer entente cordiale zwischen ihnen müßte sie sich mit einer asthmatischen Existenz, mit einer bloßen Galgenfrist zufriedengeben. Sich auf die revolutionäre Partei in Italien zu stützen, wäre für das Haus Savoyen der reinste Selbstmord - haben doch die Ereignisse der Jahre 1848/49 die letzten Illusionen über seine revolutionäre Mission zerstört. Die Hoffnungen des Hauses Savoyen sind also mit dem Status quo in Europa verbunden; aber der Status quo in Europa verwehrt ihm die Ausbreitung auf der Apenninenhalbinsel und weist ihm die bescheidene Rolle eines italienischen Belgien zu.
Bei ihrem Versuch, auf dem Pariser Kongreß das Spiel von 1847 wieder- <17> aufzunehmen, konnten die piemontesischen Bevollmächtigten deshalb nur einen recht jämmerlichen Anblick bieten. Jeder ihrer Züge auf dem Schachbrett der Diplomatie bedeutete Schach für sie selbst.
Während sie heftig gegen die österreichische Besetzung Mittelitaliens protestierten, waren sie gezwungen, die französische Besetzung Roms nur ganz vorsichtig zu berühren; während sie über die Theokratie des Papstes murrten, mußten sie sich vor den scheinheiligen Grimassen des erstgeborenen Sohnes der Kirche <Napoleon III.> beugen. An Clarendon, der 1848 Irland so gütige Gnade erwiesen hatte, mußten sie appellieren, damit er dem König von Neapel <Ferdinand II.> einige Lehren der Menschlichkeit erteile, und den Kerkermeister von Cayenne, Lambessa und Belle-Île mußten sie anflehen, die Tore der Gefängnisse von Mailand, Neapel und Rom zu öffnen. Während sie sich als Vorkampfer der Freiheit in Italien ausgaben, unterwarfen sie sich sklavisch dem Anschlag Walewskis auf die Pressefreiheit in Belgien und betonten ausdrücklich, daß
"es schwer sei, zwischen zwei Nationen gute Beziehungen aufrechtzuerhalten, wenn es bei einer dieser Nationen Zeitungen mit übertriebenen doktrinären Ansichten gibt und die gegen benachbarte Regierungen Krieg führen".
Sich auf deren törichtes Festhalten an bonapartistischen Doktrinen stützend, wandte sich Österreich sogleich an Piemonts Bevollmächtigte mit der gebieterischen Forderung, den Krieg, den die piemontesische Presse gegen Österreich führe, zu beenden und die Verantwortlichen zu bestrafen.
Im gleichen Augenblick, da sie vorgehen, die internationale Politik der Völker der internationalen Politik der Staaten <1> entgegenzustellen, beglückwünschen sie sich andererseits zu dem Vertrag, der jene Freundschaftsbande erneuert, die seit Jahrhunderten zwischen dem Haus Savoyen und der Familie Romanow bestanden haben. Dazu angespornt, mit ihrer Beredsamkeit vor den Bevollmächtigten des alten Europa zu prunken, müssen sie es sich gefallen lassen, von Österreich verächtlich als zweitrangige Macht behandelt zu werden, die außerstande ist, bei der Erörterung erstrangiger Fragen mitzureden. Während sie sich der überaus großen Genugtuung erfreuen, ein Memorandum aufstellen zu dürfen, erlaubt man Österreich, entlang der gesamten sardinischen Grenze, vom Po bis zu den Gipfeln der Apenninen, seine Truppen aufzustellen, Parma zu besetzen, trotz des Wiener Vertrages Piacenza zu befestigen und an der Küste des Adriatischen Meeres, von Ferrara und Bologna bis nach Ancona, seine Streitkräfte aufmarschieren <18> zu lassen. Sieben Tage nach diesen Beschwerden, die dem Kongreß unterbreitet worden waren, am 15. April, wurde zwischen Frankreich und England einerseits und Österreich andererseits ein Sondervertrag unterzeichnet, der klar ersichtlich den Schaden nachwies, den das Memorandum Österreich zugefügt hatte.
Dies also war auf dem Pariser Kongreß die Lage der würdigen Vertreter jenes Viktor Emanuel, der nach der Abdankung seines Vaters und der Niederlage in der Schlacht bei Novara, vor den Augen einer aufs höchste erbitterten Armee Radetzky, den grimmigsten Feind Karl Alberts, umarmt hatte. Piemont muß jetzt - wenn es nicht absichtlich blind ist - erkennen, daß es mit dem Frieden genauso betrogen wird, wie es mit dem Krieg betrogen wurde. Bonaparte kann sich seiner bedienen, um Italiens Gewässer zu trüben, in der Absicht, Kronen aus dem Schlamm zu fischen. Rußland kann dem kleinen Sardinien auf die Schulter klopfen mit dem Ziel, Österreich im Süden zu alarmieren, um es im Norden zu schwächen. Palmerston kann aus Gründen, die ihm selber am besten bekannt sein dürften, die Komödie von 1847 wiederholen, ohne sich auch nur die Mühe zu nehmen, das alte Lied nach einer neuen Weise zu spielen. Bei all dem ist Piemont nichts anderes als ein Werkzeug fremder Mächte. In bezug auf die Reden im britischen Parlament erklärte Herr Brofferio vor der sardinischen Abgeordnetenkammer, deren Mitglied er ist, daß diese Reden "niemals delphische, sondern stets nur trophonische Orakel gewesen waren". Er irrt sich hierbei nur insofern, als er Echo mit Orakel verwechselt.
Das piemontesische Intermezzo ist an und für sich von keinerlei Interesse, außer jenem, zu sehen, wie das Haus Savoyen in seiner erblichen Politik des Lavierens und in seinen wiederholten Versuchen, die italienische Frage zur Stütze seiner eigenen dynastischen Intrigen zu machen, erneut Schiffbruch erlitt. Doch gibt es da noch einen wichtigeren Gesichtspunkt, der von der englischen und französischen Presse absichtlich übersehen wird, auf den aber die sardinischen Bevollmächtigten in ihrem berüchtigten Memorandum besonders <2> anspielen. Die feindselige Haltung Österreichs, gerechtfertigt durch die Politik der sardinischen Bevollmächtigten in Paris, "nötigt Sardinien, bewaffnet zu bleiben und Maßnahmen <3> zu treffen, die seine Finanzen, die bereits durch die Ereignisse der Jahre 1848 und 1849 sowie durch den Krieg, an dem es teilgenommen hat, zerrüttet sind, außerordentlich belasten." Damit nicht genug.
"Die Unruhe unter dem Volk", heißt es in dem sardinischen Memorandum, "schien sich in letzter Zeit besänftigt zu haben. Die Italiener, die einen ihrer nationalen Fürsten mit den großen Westmächten verbündet sahen ..., hegten die Hoffnung, daß kein Friede unterzeichnet werden würde, ehe ihre Leiden gelindert sind. Diese Hoffnung machte sie ruhig und resigniert; wenn sie jedoch die negativen Ergebnisse des Pariser Kongresses erfahren, wenn sie vernehmen, daß Österreich trotz der Gefälligkeiten und der wohlwollenden Vermittlung Englands und Frankreichs selbst eine Erörterung der Frage abgelehnt hat ..., dann wird ohne jeden Zweifel die Erbitterung, die augenblicklich schlummert, noch wütender denn je wiedererwachen. Überzeugt, daß sie von der Diplomatie nichts mehr zu erhoffen haben, werden sich die Italiener mit südlicher Heftigkeit erneut in die Arme der umstürzlerischen und revolutionären Partei werfen <Hervorhebungen nach der "N.-Y. D. T."> und Italien wiederum in einen Brennpunkt von Verschwörungen und Aufruhr verwandeln, die wohl durch verdoppelte Strenge erstickt werden können, aber durch die geringfügigste Unruhe in Europa zu einem erneuten Ausbruch von äußerster Heftigkeit entfacht werden. Das Erwachen revolutionärer Leidenschaften in allen Ländern, die Piemont umgeben, durch Ursachen, die geeignet sind, unter dem Volk Sympathie zu wecken, setzt die sardinische Regierung außerordentlich schwerwiegenden Gefahren aus."So ist es. Während des Krieges hatte die reiche Bourgeoisie der Lombardei sozusagen den Atem angehalten in der vergeblichen Hoffnung, bei Kriegsschluß durch diplomatische Aktionen und unter der Schirmherrschaft des Hauses Savoyen nationale Emanzipation und bürgerliche Freiheit zu erringen ohne die Notwendigkeit, das rote Meer der Revolution durchwaten und ohne der Bauernschaft und dem Proletariat jene Konzessionen einräumen zu müssen, von denen die Bourgeoisie nach den Erfahrungen der Jahre 1848/49 wußte, daß sie von jeder Volksbewegung untrennbar geworden sind. Doch nun sind ihre epikureischen Hoffnungen dahin. Das einzige greifbare Ergebnis des Krieges - zumindest das einzige, das die Aufmerksamkeit der Italiener erregt - sind die materiellen und politischen Vorteile, die Österreich eingeheimst hat: eine weitere Festigung jener verhaßten Macht, die durch die Beihilfe des sogenannten unabhängigen italienischen Staates gesichert worden ist. Wieder hatten die piemontesischen Konstitutionalisten das Spiel in der Hand; wieder haben sie es verloren; und wieder stehen sie da, des Versagens in ihrer so laut verkündeten Mission als führende Kraft Italiens überführt. Ihre eigene Armee wird sie zur Verantwortung ziehen. Die Bourgeoisie ist erneut gezwungen, sich auf die Volksmassen zu stützen und nationale Befreiung mit sozialer Erneuerung gleichzusetzen. Der piemontesische Alpdruck ist abgeschüttelt, der diplomatische Bann gebrochen, und das vulkanische Herz des revolutionären Italiens beginnt wieder zu schlagen
Textvarianten
<1> In der "New-York Daily Tribune" Nr. 4717 vom 31. Mai 1856: Dynastien <=
<2> In der "New-York Daily Tribune": besorgt <=
<3> In der "New-York Daily Tribune": Verteidigungsmaßnahmen <=