Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 636-640
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961
Geschrieben am 15. April 1856.
Aus dem Englischen.
["New-York Daily Tribune" Nr. 4694 vom 5. Mai 1856, Leitartikel]
<636> Die unerhörte Agiotage die Frankreich in eine Spielhölle verwandelte und das napoleonische Kaiserreich mit der Börse identifizierte, hat keineswegs an den Grenzen Galliens haltgemacht. Ungehemmt durch politische Grenzen, hat diese Seuche die Pyrenäen, die Alpen und den Rhein überschritten und, so erstaunlich es sein mag, sich des soliden Deutschlands bemächtigt, wo die Spekulation auf dem Gebiete der Idee Platz machen mußte der Spekulation mit Wertpapieren, das Summum bonum <höchstes Gut> - dem beni <Prämie>, der mysteriöse Jargon der Dialektik - dem nicht minder mysteriösen Jargon der Börse und das Streben nach der Einheit - der Leidenschaft für die Dividenden. Rheinpreußen wurde, infolge seiner Nachbarschaft zu Frankreich und dank der Entwicklung seiner Industrie und seines Handels, zuerst von dieser Krankheit befallen. Die kölnischen Bankiers schlossen nicht nur ein förmliches Bündnis mit den Pariser Großgaunern, indem sie zusammen mit ihnen die "Indépendance Belge" als gemeinsames Organ kauften, und zogen durch die Gründung einer internationalen Bank in Luxemburg nicht nur ganz Südwestdeutschland in den Strudel des Crédit mobilier, sondern hatten auch im Bereich Rheinpreußens und des Herzogtums Westphalen solche Erfolge, daß zur Stunde alle Schichten der Gesellschaft, ausgenommen die der arbeitenden Klassen und der Kleinbauern, von dem Goldrausch erfaßt sind, so daß sogar das Kapital der Kleinbourgeoisie, von seinen gewöhnlichen Kanälen abgelenkt, tolle Abenteuer sucht und jeder Krämer sich in einen Alchimisten verwandelt. Daß auch das übrige Preußen der Ansteckung nicht entgangen ist, geht aus folgendem Auszug aus der "Preußischen Correspondenz", einem Regierungsblatt, hervor:
"Die jüngsten Beobachtungen auf dem Geldmarkt erlauben den Schluß, daß eine der furchtbaren Handelskrisen, die regelmäßig wiederkehren, von neuem im Anzuge ist. Die fieberhafte Bewegung einer maßlosen Spekulation hat sich, vom Ausland herkommend, im letzten Jahre in Deutschland ausgebreitet, und nicht nur die Berliner Börse und die preußischen Kapitalisten wurden in diesen Strudel hineingerissen, sondern auch ganze Gesellschaftsklassen, die bei allen früheren Gelegenheiten eine direkte Teilnahme am Glücksspiel der Börse vermieden hatten."Es war diese Furcht vor einer unmittelbar bevorstehenden Finanzkrise, auf die sich die Ablehnung der preußischen Regierung gründete, die Errichtung eines "Crédit mobilier" zu erlauben, hinter dessen blendendem Anstrich man gaunerische Absichten vermutete. Aber was unter einer Form nicht erlaubt ist, kann unter einer anderen gestattet werden, und was in Berlin nicht zugelassen ist, kann in Leipzig oder in Hannover geduldet werden. Die letzte Phase des Spekulationswahnsinns setzte am Ende des Krieges ein, und unabhängig von dem kommerziellen Antrieb, der von jedem Friedensschluß untrennbar ist - wie man dies 1802 und 1815 erlebt hatte -, weist sie dieses Mal das besondere Merkmal auf, daß Preußen formell den Wunsch ausgedrückt hat, dem westlichen Kapital und der Spekulation seine Märkte zu öffnen. Wir werden also bald von der großen Irkutsker Hauptlinie mit Zweiglinien nach Peking und von anderen nicht minder ungeheuren Plänen sprechen hören, wobei es nicht darum geht, was tatsächlich ausgeführt werden soll, sondern welch neues Material dem Spekulationageist als Nahrung geboten werden mag. Es bedurfte nur noch des Friedens, um den von der preußischen Regierung befürchteten großen Krach zu beschleunigen.
Diese für Preußen ungewohnte Teilnahme an der europäischen Spekulationsbewegung wäre ohne den großen Aufschwung seiner Industrie in den letzten Jahren nicht möglich gewesen. Das allein in den Eisenbahnen angelegte Kapital ist von 1840-1854/55 von 19 Millionen auf 154 Millionen preußischer Taler angewachsen. Andere Eisenbahnlinien, deren Kosten auf 54 Millionen geschätzt werden, sind im Bau; überdies hat die Regierung die Anlage von neuen Linien im Werte von 57 Millionen bewilligt. Seit 1849 sind 87 Aktiengesellschaften mit einem Kapital von 83 Millionen entstanden. Von 1854 bis 1856 wurden neun Versicherungsgesellschaften mit einem Kapital von 22 Millionen registriert. In diesen letzten zwei Jahren haben ferner sechs Aktiengesellschaften mit einem Kapital von 10,5 Millionen Spinnereien errichtet. Aus dem Baumwollbericht ist zu ersehen, in welchem Verhältnis sich die Menge der in den verschiedenen europäischen Häfen eingetroffenen Baumwolle von 1853 bis 1856 verändert hat. Nach dem Bericht betrug der Export von Baumwolle in Ballen in den ersten sieben Monaten des Jahres
1853 |
1854 |
1855 |
1856 |
|
nach England |
1.100.000 |
840.000 |
963.000 |
1.131.000 |
nach Frankreich |
255.000 |
229.000 |
249.000 |
354.000 |
nach anderen europäischen Häfen |
204.000 |
179.000 |
167.000 |
346.000 |
Hieraus folgt, daß der Kontinent, der 1853 etwa nur ein Drittel der nach England exportierten Baumwolle erhielt, 1856 fünf Achtel davon bekommen hat. Dazu kommt noch die Baumwolle, die von England nach dem Kontinent weitergesandt wurde. Der große Export nach Frankreich ist nur scheinbar, denn ein beträchtlicher Teil geht von Le Havre nach der Schweiz, Baden, Frankfurt und Antwerpen. Die Entwicklung der kontinentalen Industrie, die von den angeführten Zahlen bekundet wird, bedeutet daher vor allem das Anwachsen der deutschen und hauptsächlich der preußischen Industrie. Der von der industriellen Bourgeoisie in den letzten Jahren akkumulierte Reichtum wird beinahe übertroffen von den Profiten, die die Grundeigentümer während der Kriegsperiode, in den Jahren der Mißernte und der hohen Preise erhalten haben. Der Preis für Pferde, für Hornvieh, für lebendes Inventar im allgemeinen, vom Getreidepreis ganz zu schweigen, hat sich in Deutschland selbst auf einem so hohen Niveau gehalten, daß die großen Landeigentümer kaum noch des Einflusses der ausländischen Märkte bedürfen, um im Gold zu schwimmen. Es ist der Reichtum - das vordem von diesen beiden Klassen noch niemals erlebte rapide Zunehmen des Reichtums -, der die Basis schuf für die heute in Preußen wütende spekulative Seuche.
Wenn diese Seifenblase platzt, wird der preußische Staat einer harten Prüfung ausgesetzt sein. Die verschiedenen Konterrevolutionen, die er seit 1849 durchgemacht hat, hatten das Ergebnis, die Regierung in die Abhängigkeit von der wenig zahlreichen Klasse der adligen Grundeigentümer zu bringen, der gegenüber sich der König, der alles getan hat, um ihre Vormachtstellung zu errichten, gegenwärtig in derselben Situation befindet wie einst Ludwig XVIII. gegenüber der Chambre introuvable. Friedrich Wilhelm war niemals geneigt, sich mit der verdorrten bürokratischen Regierungsmaschinerie abzufinden, die ihm sein Vater hinterlassen hatte. Sein ganzes Leben hindurch hat er davon geträumt, das Gebäude des preußischen Staates durch irgendeine romantisch-gotische Dekoration zu verschönern. Aber die kurze Erfahrung, die er mit seinem Herrenhaus <Herrenhaus: in der "N.-Y. D. T." deutsch> gemacht hatte, mußte ihn jedoch überzeugen, daß in Wirklichkeit die Grundeigentümer oder die Krautjunker <Krautjunker: in der "N.-Y. D. T." deutsch>, wie sie in Preußen genannt werden, weit davon entfernt sind, ihr <639> Glück darin zu sehen, der Bürokratie als mittelalterliche Verzierung zu dienen, und alles tun, was in ihrer Macht steht, um die Bürokratie zu degradieren und sie in einen einfachen Exekutor ihrer Klasseninteressen zu verwandeln. Daher der Konflikt zwischen den Junkern <Junkern: in der "N.-Y. D. T." deutsch> und der Regierung, zwischen dem König und dem Prinzen von Preußen. Um der Regierung zu zeigen, wie ernst sie es meinen, haben die Junker soeben - eine im konstitutionellen Preußen unerhörte Sache die Bewilligung einer weiteren zusätzlichen Steuer, die während des Krieges eingeführt worden war, abgelehnt. Kaltblütig und entschieden verkündeten sie den Grundsatz, daß sie in ihren kleinen Besitzungen ebenso König seien wie der König selbst im ganzen Lande. Sie bestehen darauf, daß die Verfassung wohl für alle anderen Klassen ein Blendwerk bleibe, für sie selbst aber eine Realität sein müsse. Indem sie sich selbst jeglicher Kontrolle der Bürokratie entziehen, wollen sie, daß diese Bürokratie mit verdoppelter Kraft auf die unteren Klassen drückt.
Die Bourgeoisie, die die Revolution von 1848 verriet, hat jetzt die Gewißheit, in derselben Stunde, da sie ihren sozialen Triumph durch eine unbegrenzte Akkumulation des Kapitals erreicht, sich politisch vernichtet zu sehen. Mehr noch, die Krautjunker ergötzen sich daran, jeden Tag neue Gelegenheiten zu finden, um sie zu demütigen, und beobachten ihr gegenüber nicht einmal die elementaren Regeln der Etikette. Wenn die bürgerlichen Redner im Abgeordnetenhaus sich erheben, um zu sprechen, verlassen die Junker en masse ihre Bänke, und wenn man sie ersucht, die Meinungen, die nicht die ihren sind, wenigstens anzuhören, lachen sie den Herren von der Linken ins Gesicht. Wenn sich diese über die bei den Wahlen bereiteten Hindernisse beschweren, bedeutet man ihnen, daß es einfach Pflicht der Regierung sei, die Massen vor Verführung zu bewahren. Halten sie der Zügellosigkeit der aristokratischen Presse den Zwang entgegen, der der liberalen auferlegt wird, erinnert man sie daran, daß die Freiheit in einem christlichen Staate nicht darin besteht, zu tun, was einem gefällt, sondern das, was Gott und der Obrigkeit gefällt. Einmal gibt man ihnen zu verstehen, daß die "Ehre" ein Monopol der Aristokratie sei, den anderen Tag werden sie durch eine praktische Illustration der längst verworfenen Theorien der Haller, Bonald und de Maistre tief gekränkt. Stolz auf seine philosophische Erleuchtung, hat der preußische Bürger den Verdruß, die hervorragendsten Wissenschaftler von den Universitäten gejagt und die Erziehung einer Bande von Dunkelmännern anvertraut zu sehen; geistliche Gerichte mischen sich in seine Familienangelegenheiten, und am Sonntag muß er sich von der Polizei in die <640> Kirche führen lassen. Nicht zufrieden damit, sich selbst soweit als möglich von den Steuern zu befreien, haben die Junker die Bourgeoisie in Zünfte und Innungen gesperrt, ihre munizipalen Einrichtungen verfälscht, die Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit ihrer Richter aufgehoben, die Gleichberechtigung der verschiedenen religiösen Sekten annulliert usw. Wenn bisweilen der Zorn, der sie erstickt, über ihre Furcht obsiegt, und wenn sie von Zeit zu Zeit genug Mut aufbringen, um von ihren Sitzen in der Kammer die Junker mit einer nahenden Revolution zu schrecken, antwortet man ihnen höhnisch, daß die Revolution mit der Bourgeoisie eine ebenso große Rechnung zu begleichen habe wie mit dem Adel.
In der Tat ist es nicht wahrscheinlich, daß die Großbourgeoisie von neuem, wie 1848, an der Spitze einer Revolution in Preußen stehen wird. Die Bauern in Ostpreußen haben nicht nur alles verloren, was ihnen die Revolution an Befreiung gebracht hatte, sondern stehen nach wie vor sowohl in administrativer wie auch in rechtlicher Beziehung unter dem direkten Joch des Adels. In Rheinpreußen, wo das Kapital durch die industriellen Unternehmungen angezogen wurde, haben sie sich mit der gleichen Schnelligkeit immer tiefer in die Knechtschaft der Hypotheken verstrickt, mit der die Zinsen auf Darlehen stiegen. Während man in Österreich wenigstens versucht hat, die Bauern zu beschwichtigen, blieb in Preußen nichts ungeschehen, was sie zur Verzweiflung bringen konnte. Was aber die arbeitende Klasse anbelangt, so hat die Regierung sie daran gehindert, an den Profiten ihrer Unternehmer teilzunehmen, indem sie sie wegen Teilnahme an Streiks bestrafte und sie systematisch von der Teilnahme am politischen Leben fernhält. Eine uneinige Dynastie, eine in feindliche Lager gespaltene Regierung, eine Bürokratie, die mit der Aristokratie in Streit liegt, die Aristokratie im Zwist mit der Bourgeoisie, eine allgemeine Handelskrise, und die enterbten Klassen, die vom Geist der Rebellion gegen alle oberen Schichten der Gesellschaft erfüllt sind das ist zur Stunde das Bild Preußens.