Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 594-599
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Das Frankreich Bonapartes des Kleinen

Geschrieben um den 1. April 1856.
Aus dem Englischen.


["The People's Paper" Nr. 205 vom 5. April 1856]

<594> Das Frankreich Bonapartes des Kleinen, das bei der Geburt eines Sohnes der Montijo Gelage hält und die Schätze einer Nation für ein lächerliches Schaugepränge verschwendet, "ganz flimmernd, ganz in Gold, gleich Heidengöttern", dieses Frankreich steht in einem schrecklichen Gegensatz zu dem Frankreich, das in Cayenne gepeinigt wird, in Lambessa leidet, in Belle-Île dahinsiecht und in den Bagnos vermodert, zu dem Frankreich, das auf der Krim zugrunde geht, und zu dem Frankreich in Frankreich, das sich am Rande des Bankrotts befindet.

In dem Brief des Bürgers Tassilier, der wörtlich aus dem Original übersetzt, findet der Leser die wahre und herzergreifende Geschichte der nach Cayenne deportierten französischen Bürger. Die Presse der echt britischen Unterwürfigkeit posaunt der schläfrigen Welt mit übertriebenem Wortgepränge die große Neuigkeit in die Ohren von der grenzenlosen Hochherzigkeit und fast übermenschlichen Gnade des Wursthelden des Lagers von Satory, der eine allgemeine Amnestie erläßt und die ersten Schreie seines eigensinnigen Säuglings dämpft durch das Freudengeschrei tausender Franzosen, die ihre Freiheit erhalten und ihren Familien zurückgegeben werden.

Doch wenden wir uns von der käuflichen Begeisterung der Schmeichler ab und schenken wir der unbestechlichen Sprache der Tatsachen Gehör. Boustrapa ist willens, die Männer, die er vier Jahre lang gequält hat, unter der Bedingung von ihren Ketten zu befreien, wenn sie damit einverstanden sind, sich mit unauslöschlicher Schande zu bedecken und durch die Furcae Caudina des Lower Empire zu gehen. Wenn sie dem Kaiserreich ihre <595> loyale Unterwerfung erklären, d.h. den Coup d'état sanktionieren und der Republik entsagen - wenn sie ihre Seelen verkaufen, ist Boustrapa bereit, ihnen ihr Leben zu verkaufen.

"Schon bei der feierlichen Ausrufung des Kaiserreichs", sagt der "Moniteur", "wurde dieses großzügige Angebot gemacht." So gibt der "Moniteur" selbst zu, daß die allgemeine Amnestie, jetzt zu einer wunderbaren Neuigkeit aufgeblasen, nur eine Wiederholung der alten Posse ist, die sich vor vier Jahren abgespielt hat. Dieses Genie der Verworfenheit schmeichelt sich damit, daß seine Opfer nun auf sein eigenes Niveau hinabgedrückt und genügend gebändigt sind, um jetzt, 1856, das als eine Gnade anzunehmen, was sie 1852 entrüstet als Schimpf zurückgewiesen haben.

Der "Moniteur" verhüllt seinen "großmütigen Appell" zur Niederträchtigkeit mit schlau berechneten Lügen und Fälschungen. Er behauptet, daß von den nach den Ereignissen des Juni 1848 zur Deportation nach Algier verurteilten 11.000 Personen durch die Milde des Präsidenten nur 306 Personen in Afrika geblieben sind. Mit dem gleichen "Moniteur" in unserer Hand stellen wir nun fest, daß von den 11.000 im Juni 1848 gemachten Gefangenen im November 1848, zur Zeit, als in der Assemblée Constituante <Konstituierenden Versammlung> die Ausführung des Deportationsdekrets zur Diskussion stand, nur 1.700 übriggeblieben waren; daß von ihnen 1.500 nach Belle-Île und am 8. März 1849 unter der Regierung O[dilon] Barrots 700 von diesen 1.500 Personen nach Bona in Afrika geschickt worden waren. Also hat die Gnade Boustrapas diese letzte Zahl 700 auf 306 reduziert und nicht, wie es der lügnerische "Moniteur" meldet, die riesige Zahl von 11.000 Personen, und diese winzige Gnade selbst war nur ein Kunststückchen, das gegen die Assemblée ausgespielt wurde. Wir sind jedoch dem "Moniteur" zu Dank verpflichtet, daß er Frankreich an die abscheulichen Schändlichkeiten erinnert, die von Cavaignac und der bourgeoisen Republik begangen wurden.

Was die Deportierten und Verbannten des Dezember anbelangt, so schätzt der gleiche "Moniteur" ihre Anzahl auf 11.201 Personen und behauptet, daß diese nun auf 1.058 reduziert sei. Nun forderte zwar der Coup d'état mehr als 11.000 Opfer allein in den Departements Basses-Alpes, Hérault, Var und Nièvre, und augenblicklich sind noch mindestens 12.000 Opfer zur Verbannung oder zur Deportation verdammt. Es ist allgemein bekannt, daß durch den Coup d'état mehr als 50.000 Personen in Mitleidenschaft gezogen wurden. Man sollte weiterhin bemerken, daß der "großmütige Appell" des "Moniteur" sich ausschließlich an die nach Algier und nach anderen ausländischen <596> Besitzungen deportierten Personen wendet und daß in ihm nicht im entferntesten die Verurteilten aus Angers oder die wegen Teilnahme an Geheimgesellschaften Eingekerkerten erwähnt werden; er betrifft auch nicht jene, die von den umherziehenden Kriegsgerichten 1851 in das Bagno geworfen wurden, nicht die Gefangenen von Belle-Île und nicht die Studenten, die für das Auspfeifen der bezahlten Apologeten Boustrapas eingesperrt wurden etc. Zum Ausgleich dafür verkündet der "Moniteur" eine volle und bedingungslose Amnestie für Wilddiebe, Schmuggler, Fälscher, Diebe, Deserteure, Sträflinge und id genus omne <ihnen ähnliche>. Es stimmt völlig mit dem Charakter des Lower Empire und den Gewohnheiten des Brummagem-Bonaparte überein, daß die Geburt eines Sohnes zu einem Feiertag für das ganze mit dem Vater verwandte Gesindel werden mußte.

Gehen wir jetzt über von den Opfern des Coup d'état zu seinen Werkzeugen, von den Männern, die ihm Widerstand leisteten, zu den Sklaven, die ihn ausführten, von den Soldaten der Freiheit zu der Armee in der Krim. Wenn es ein bedeutendes historisches Symptom ist, daß Bonaparte inmitten der frischen Täuschungen einer neugebackenen Dynastie und des höchsten Triumphes über seine Zulassung in das gesalbte Milieu der ranzigen Legitimität dennoch der Anerkennung durch seine unglücklichen Opfer bedarf und deshalb scheinheilig um ihr Bekenntnis zum Kaiserreich wirbt, so ist ein nicht weniger bemerkenswertes Beispiel für die Ironie der Geschichte die Tatsache, daß zur gleichen Zeit, da das Haupt und die Mitglieder der Gesellschaft des 10. Dezember den Erfolg des Coup d'état in Paris mit pomphafter Verschwendung feiern, die Armee, welche Frankreich dieses entehrende Regime aufgezwungen hat, ihr Verbrechen in der Krim mit Entbehrung, Hunger, Agonie und Tod in seinen schrecklichsten und qualvollsten Formen büßt.

In der ersten Periode der orientalischen Kampagne von November 1854 bis März 1855 wurde der Emporkömmling des Dezember als eine zweite Vorsehung in den Himmel gehoben und in allen Tonarten die treffliche militärische Führung des Kaiserreichs aller Herrlichkeiten besungen im Gegensatz zu den skandalösen Leiden, welche die englische Armee durchzumachen hatte infolge des vorbedachten Verrats in der Heimat und der natürlichen Folgen eines veralteten Systems. Wie bei jeder anderen Handlung des Lower Empire war jedoch das, was man für Wirklichkeit hielt, nur eine theatralische Phantasmagorie, berechnet auf einen unmittelbaren Theatereffekt. Zwei Jahre lang hatte sich Bonaparte ausschließlich mit der Vorbereitung des Krieges befaßt. <597> Er hatte alle Kraft des gewaltigen zentralisierten Frankreichs angespannt, um den ersten Erfolg seiner Armee zu sichern.<1> Indes, es ist nicht erstaunlich, daß es sogar diesem erbärmlichen Abenteurer von Straßburg und Boulogne nicht gelungen ist, während der ersten beiden Jahre seiner Mißherrschaft die treffliche Organisation der französischen Armee, eine Hinterlassenschaft der ersten Revolution, zu zerstören. Es ist ein Wunder, daß er dieses Ziel in den ersten zwei Jahren des jetzigen Krieges erreicht hat. Nachdem er mehr Geld und Gut auf seine eigene Batrachomyomachia verschwendet hatte als Napoleon der Große in den fünfzehn Jahren seiner Iliade, entdeckt er zu Beginn des dritten Jahres, daß die Ressourcen Frankreichs erschöpft sind, seine militärische Verwaltung zusammengebrochen und seine Armee infolge von Not und Entbehrungen dahinschwindet. Der Krebs, der an der französischen Armee zehrt, ist das organische Prinzip des Lower Empire, nämlich Diebstahl und Unterschlagung; und nur zweier Jahre bedurfte es, um seine Wirkung sichtbar werden zu lassen.

Der erbärmliche Zustand der französischen Armee wurde lange Zeit nicht nur in der französischen, sondern auch in der englischen Presse sorgfältig verheimlicht. Heute pfeifen es die Spatzen von allen Dächern. Dieser Zustand der Armee ist eine Tatsache, die nicht mehr bestritten wird, nachdem sogar Bonapartes Moniteur sich selbst Lügen gestraft hat. Für den gegenwärtigen Zweck genügt es, aus dem letzten Brief des Sewastopoler Korrespondenten der "Times" zu zitieren:

"Die französische Armee, so zahlreich sie sie auch auf dem Papier darstellen mögen, schrumpft jedoch gar sehr zusammen. Skorbut und Fieber verheeren ihre Reihen. Ich bezifferte kürzlich ihren täglichen Verlust auf 170 Mann ... Nun geben die Franzosen zu, daß die tägliche Sterblichkeit in ihrer Armee 120 Mann und an manchen Tagen sogar weitaus mehr beträgt. Der rechte Flügel der Armee im Baidartal leidet am meisten ... Wenn das milde Wetter einsetzt, ist eine bedeutende Zunahme an Krankheiten zu erwarten ... Die Krankenlisten der Franzosen werden schrecklich sein ... Die französische Armee schmilzt jetzt mindestens ebenso schnell zusammen, wie sie während des schlimmsten Teils der Belagerung durch Kugeln und Granaten zusammengeschmolzen ist."

Die ungenügende Unterkunft, der Mangel an Bekleidung und die Knappheit der Nahrungsmittel werden als die Hauptursachen ihrer Prüfungen angegeben. Der Korrespondent, der die Strenge des Wetters beschreibt, bei <598> dem "in den Baracken das Wasser 3 Zoll tief in den Wasserbehältern gefriert", und die Häufigkeit der Schneestürme, die "nur wenige Baracken übrigließen, in die der Schnee nicht in großen Mengen eindrang", stellt die Frage, was mußte dann die französische Armee in Zelten ertragen haben? - nicht in sorgfältig ausgestatteten Baracken und nicht in sorgfältig mit Gräben umgebenen Doppelzelten, sondern in einfachen und ungeschützten Zelten. Er schließt mit der Erklärung, daß "es einfach unerträglich sei, französischen Krankentransporten zu begegnen", und daß Marschall Pélissier mehr Anstrengungen darauf verwendet, sie vor der englischen Armee zu verbergen, als darauf, ihre Leiden zu lindern.

Wir fügen ein anderes Zitat aus dem "Morning Advertiser" hinzu, der gleichen Zeitung, die mit der "Morning Post" das schändliche Vorrecht teilte, Bonapartes Machtantritt im Jahre 1851 zu begrüßen, und das seitdem den Lord Palmerston als den wahren englischen Minister verherrlicht:

"Es gibt 3.000 Kranke im französischen Lager an der Tschornaja, die Feldlazarette sind überfüllt und das medizinische Personal durch Krankheit und Erschöpfung dezimiert, das Kommissariat ist in völliger Auflösung begriffen und außerstande, die Truppen zu verpflegen, die Männer erbetteln sich tatsächlich Zwieback von den Soldaten der Vorposten; Skorbut, hervorgerufen durch Mangel an Gemüse, und Typhus, hervorgerufen durch Fleischmangel, wüten mit unbezwingbarer Schärfe; und der Kontrast zwischen den beiden Armeen ist eine Quelle offener Unzufriedenheit für die französischen Soldaten. Die Transportmittel reichen nicht aus, um die Kranken nach Konstantinopel zu bringen - die Hospitäler beherbergen dort mehr als 12.000 Patienten -, die Epidemie ist eine wahre Katastrophe, und die Sterblichkeit ist entsetzlich; die Truppenschiffe, die vom Osten in Marseille eintreffen, sind mit den Opfern des Fiebers beladen, und die Schiffe mit den Typhuskranken sind für die Quarantäne zu Friaul bestimmt."

Was soll mit der dahinschwindenden Armee geschehen?<2> Soll sie besänftigt werden durch das Vortragen des arabischen Märchens von der "Nativität" des Königs von Algier oder durch die Beschreibung der bestickten und goldbetreßten Uniformen der verzärtelten Garden des vorsichtigen Helden? Man sollte sich dessen erinnern, daß französische Soldaten nicht geneigt sind, Unrecht zu ertragen wie die englischen Soldaten. Ein Beweis dafür, falls einer nötig ist, sind die verschiedenen Versuche in der französischen Armee, General Pélissier zu erschießen, eine Tatsache, über welche die "Gazetta di Milano", Radetzkys "Moniteur", berichtet. Man darf sich <599> auch nicht vorstellen, daß die Armee der Linie in Frankreich ein gleichgültiger Zuschauer der Krimtragödie bleiben wird. Die Razzien der Pariser Polizei beginnen sich auf die Kasernen auszudehnen. Die Zuaven, nach Paris gerufen, um durch ihren Anblick die öffentliche Begeisterung anzufeuern, wurden schon aus der Hauptstadt entfernt, da sie Argwohn erregten. Zwei weitere Regimenter, die von der Krim zurückgekehrt waren, sind auch in die Provinz verwiesen worden. Der Antagonismus zwischen der Garde und der Linie verschärft sich von Tag zu Tag mehr, denn Bonaparte ist im gegenwärtigen Moment dabei, neue Garderegimenter in genügender Anzahl zu schaffen, um dieses privilegierte Korps in die Lage zu setzen, den Garnisondienst in Paris ohne die Linienregimenter zu leisten. Bonaparte, der die Armee bestochen und damit den Antagonismus zwischen ihr und dem Lande hervorgerufen hat, versucht nun eine Armee innerhalb der Armee zu bestechen - ein Experiment, das ziemlich gefährlich ist.

Eine ausführliche Darlegung des Zustandes der Finanzen - wir möchten sie nicht die Ferse dieses ungewöhnlichen Achilles nennen, da diese Ferse ziemlich groß ist - erfordert einen besonderen Artikel. Im Moment mag es genügen, festzustellen, daß - da die Wertpapiere seit einiger Zeit gefallen sind - mit dem angekündigten Friedensabschluß und auch mit der Geburt eines neuen Bonaparte natürlich ein Ansteigen derselben erwartet wurde. Seine Realisierung wurde nicht ganz dem Zufall überlassen. Nicht nur die Regierung gab Befehl, die zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel freigiebig zum Ankauf staatlicher Wertpapiere zu benutzen, sondern auch der Crédit mobilier und ähnliche schnell emporgeschossene bonapartistische Kreditanstalten waren zwei aufeinanderfolgende Tage stark damit beschäftigt, Aktien anzukaufen. Allen diesen Manövern zum Trotz fielen die Wertpapiere bei der Nachricht von der "Nativität" anstatt zu steigen, und sie fallen immer noch. Bonaparte verbot jetzt in heller Wut den Verkauf anderer als von der Regierung quotierter Wertpapiere an der Börse und ließ die wichtigsten Börsenspekulanten von der Präfektur der Polizei vorladen.

Als die Statue der Pallas Athene im Parthenon herunterstürzte, war dieses Ereignis, wie man sagt, ein böses Omen für die Republik Athen. Das Schwanken der Büste Bonapartes auf ihrem Piedestal in der Synagoge, wo der Marktwert der Regierungen festgesetzt und die Geschichte der Völker diskontiert wird, prophezeit den Untergang des Kaiserreichs des Wechselwuchers.


Textvarianten

<1> In der "New-York Daily Tribune" Nr. 4676 vom 14. April 1856 wird dieser Satz folgendermaßen fortgesetzt: " ... die die Hauptstütze seiner usurpierten Macht ist und die noch nicht ihrem Zweck entsprochen hat." <=

<2> In der "New-York Daily" Tribune wird an Stelle dieses Satzes folgender Text gegeben: "Was soll mit diesen unzufriedenen Legionen geschehen, die infolge der Jämmerlichkeit des Kommissariats, der skandalösen Nachlässigkeit und des offen organisierten Diebstahls sterben?" <=