Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 544-547
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx/Friedrich Engels

Die Berichte der Generale Simpson, Pélissier und Niel -
[Mitteilungen aus Frankreich]


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 457 vom 1. Oktober 1855]

<544> London, 27. September. Die Berichte der Generale Simpson, Pélissier und Niel, namentlich aber auch die Briefe der englischen Zeitungskorrespondenten in der Krim, bilden ein weitschichtiges Material, dessen kritische Sichtung Zeit erheischt. Wir können daher erst in unserer nächsten Korrespondenz auf die Ereignisse des 7. und 8. September näher eingehen. Soviel sei indes bemerkt, daß die englische Presse und mit Recht beinahe einstimmig in ihrem Verdammungsurteil über General Simpson und die unter ihm dirigierenden höhern englischen Befehlshaber ist. Das in der russischen Armee kursierende Witzwort: "L'armée anglaise est une armée des lions, commandée des ânes" (Die englische Armee ist eine Armee von Löwen, angeführt von Eseln) hat sich bei dem Sturm auf den Redan völlig bewährt. Ein Londoner Blatt verlangt ein neues Sewastopol-Komitee, vergessend, daß die elende Führung der englischen Armee das unvermeidliche Produkt der Herrschaft einer überlebten Oligarchie ist. Von vornherein waren alle Anstalten verfehlt. Die englischen Trancheen waren noch so weit (250 Yards) von dem Graben des Redan entfernt, daß die Truppen ungedeckt mehr als eine Viertelstunde unter dem feindlichen Geschütz zu durchlaufen hatten und außer Atem ankamen. Französische Ingenieurs hatten im voraus auf diesen Mißstand aufmerksam gemacht; es wurde ihnen aber von englischer Seite geantwortet:

"Wenn wir ein paar Yards weiter vorrücken, kommen wir an einen Winkel, der uns dem enfilierenden Feuer der Flagstaff-Bastion und großem Verlust aussetzen wird."

Einmal war diese Chance des Verlustes unstreitig kleiner als die beim Aussetzen der Truppen während des Sturms. Dann aber konnte dem Enfilierfeuer begegnet werden teils durch Traversen und Krümmungen der Trancheen, teils durch Errichtung von Contre-Batterien. Alle französischen <545> Remonstrationen scheiterten indes an dem dickhäutigen Starrsinn Simpsons. Während ferner die Trancheen der Franzosen weit, geräumig und fähig waren, nicht nur enorme Streitkraft aufzunehmen, sondern auch sie zu maskieren, waren die englischen Trancheen schmal und so aufgeführt, daß jeder etwas korpulente Großbrite sogleich die Aufmerksamkeit des russischen Stabes auf sich zog. Die weite Entfernung, die die englischen Truppen zu durchlaufen hatten, brachte es dann mit sich, daß sie, am Angriffsobjekt angelangt, statt direkt auf den Feind loszugehn, sich erst zu decken suchten und auf ein Musketenfeuer einließen, das den Russen Zeit gab, sich zu ralliieren. Wie elend alle Anstalten getroffen waren, zeigt sich auch darin, daß, nachdem sich die englischen Truppen des Walls bemächtigt, nicht daran gedacht wurde, die auf demselben befindlichen russischen Kanonen zu vernageln. Weder waren ihnen dazu Arbeiter mit den nötigen Instrumenten zugesellt noch auch Artilleristen, die die Sache ohne weitere Instrumente fertiggebracht haben würden. Die Krone aber verdienen General Simpsons taktische Anordnungen vor und während des Sturms. (Während des Sturms, wie wir in einem [Berichte eines] Korrespondenten der "Daily News" ersehn, saß Simpson, an einem Schnupfen leidend, in eine weite Kapuze gehüllt, auf einem Faulsessel in der Greenhill-Batterie.) Er hatte eine Sturmmannschaft von 200 Mann, eine Deckungsmannschaft von 320 Mann und eine gesamte operierende Mannschaft von nicht mehr als 1.000 Mann gegen den furchtbaren Redan detachiert, an dem sich die Angriffe der Engländer während 6 Monaten gebrochen hatten. Nachdem die Engländer den hervorspringenden Winkel des Redan durchbrochen hatten, waren sie dem mörderischen Feuer der in ein Reduit verwandelten Redoute und der auf den Flanken hinter ihr liegenden Kasematten ausgesetzt. Wären sie in hinreichender Anzahl vorhanden gewesen, so konnten sie die Redoute umgehen, was dem Kampfe rasch ein Ende gemacht haben würde. Aber Verstärkungen kamen nicht heran, obgleich Oberst Windham dreimal dringend nach ihnen sandte und zuletzt in eigener Person sie suchen gehen mußte. So blieben die Truppen während 3 tödlicher Stunden auf dem Parapet, drangen zweimal ins Innere, [um] nutzlos im Detail abgeschlachtet zu werden, und mußten sich schließlich in großer Unordnung zurückziehen. Die Truppenschwäche, womit Simpson, der über mehr als zwanzigfach hinreichende Massen zu verfügen hatte, ursprünglich den Sturm unternahm, das Zurückhalten der nötigen Reserven während der Aktion, das nutzlose und mutwillige Aufopfern der tapferen Stürmer - alles dies bildet einen der größten Skandale, die in der modernen Kriegsgeschichte bekannt sind. Unter dem ersten Napoleon wäre Simpson unfehlbar vor ein Kriegsgericht gestellt worden.

<546> Es ist auf dem Kontinent und mit Recht gegen das Unwesen der Patrimonialgerichtsbarkeit polemisiert worden. Die unbezahlte englische Magistratur ist indes nichts anderes als eine modernisierte, konstitutionell angestrichene Patrimonialgerichtsbarkeit. Man lese folgenden wörtlichen Auszug aus einem englischen Provinzialblatte:

"Vergangenen Dienstag wurde Nathaniel Williams, ein ältlicher Landarbeiter, vor eine Magistratsbank von Worcester gestellt und zu 5 Shilling Strafe nebst 13 Shilling Kosten verurteilt, weil er ein kleines, ihm selbst zugehöriges Quantum Weizen am Sonntag, dem 26. August, gemäht hatte. Er plädierte, daß die Arbeit notwendig gewesen, daß der Weizen verdorben wäre, hätte er ihn länger stehenlassen, daß er während der Woche vom frühen Morgen bis in die späte Nacht bei seinem Pachtherrn beschäftigt war. Half alles nicht. Die Magistrate, reichlich mit Reverends (Ehrwürden) gespickt, blieben unerbittlich."

Wie hier der Pfarrer in seiner eignen Sache richtet, so tut es der Fabrikherr, der Squire und die anderen privilegierten Stände, die die unbezahlte Magistratur bilden.

Aus dem Privatbriefe eines sich in Paris aufhaltenden Engländers (ein Whig) entnehmen wir folgendes:

"Der heutige (d.d. 24. September) kriegerische Artikel des 'Constitutionnel' scheint die Pariser Bourgeoisie sehr zu entmutigen; und in 3 verschiedenen Quartieren, alle jedoch von großer kommerzieller Bedeutung, hörte ich dieselben Bemerkungen, fast in denselben Worten. Da seht ihr's! Während fast eines Jahres erzählte man uns, wenn Sewastopol einmal genommen sei, würde es möglich werden, die Friedensverhandlungen zu eröffnen. Jetzt, wo Sewastopol genommen ist, erzählt man uns, dies sei ein rein militärischer Faktor, und daß vor dem Falle der gesamten Krim nicht an Frieden zu denken. So wird es vorangehen, und der Himmel weiß, wenn der Frieden kommen wird. Alles dies wurde in höchster Niedergeschlagenheit vorgebracht. Um gerecht zu sein, muß man zugeben, daß, abgesehen von der Frage des Nationalruhms, der gegenwärtige Krieg Frankreich ungelegen ist aus vielen Gründen. Die Herbstberichte zeigen sich jede Woche schlechter, als die Woche vorher vermutet ward. Brot z.B. kostet in diesem Augenblick zu Rouen 26 Sous für das vierpfündige Laib, was soviel ist als 3 Frs. oder 60 Sous für Paris. In Bordeaux war der Munizipalrat bereits gezwungen, eine große Summe Unterstützungsgelder zu bewilligen für den Fall, daß das vierpfündige Laib auf 1 Fr. steigen sollte, was in der Gironde als Hungerpreis betrachtet wird. Dieser Zustand zeigt sich nach und nach über der ganzen Oberfläche des Landes. Der innere Zustand Frankreichs ist daher außerordentlich bedenklich, die Parteigänger der Revolution sind in erschrecklicher Zahl über das Land zerstreut, und wenn der Notstand zu unerträglich wird, mögen sie Tausende um ihre Fahnen sammeln, Die neue Organisation der Departemental- und Munizipalräte war ein ungeheurer Mißgriff: Das System wirkt fatal. In vielen Departementen existiert in diesem Augenblick <547> kein Departementalrat und die von der Regierung ernannten Maires sind jetzt beständig gezwungen, ihren Munizipalrat aufzulösen. Fast jeden Tag kann man die offizielle Ankündigung lesen daß der Maire dieser Stadt den Munizipalrat oder der Präfekt R. R. den Generalrat aufgelöst hat. Die Gründe werden nicht veröffentlicht; aber die Tatsache, obgleich keine öffentlichen Kommentare darüber erlaubt sind, agitiert nichtsdestoweniger das Departement, worin sie stattfindet. Dies würde auf vielen Punkten die Gegenwart älterer und mehr geprüfter Soldaten wünschenswert machen."