Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 525-528
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Friedrich Engels

Zur Einnahme von Sewastopol


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 429 vom 14. September 1855]

<525> London, 11. September. Die Kanonen des James' Parks und des Towers kündigten London gestern abend 9 Uhr den Fall der Südseite von Sewastopol an. In den Lyceum-, Haymarket-, Adelphi-Theatern hatten die Schauspieldirektoren endlich die Genugtuung, die Hurras, die "God save the Queen" und die "Partant pour la Syrie" auf offizielle Depeschen statt wie bisher auf falsche Vorwände hin herauszufordern.

Der Krimfeldzug hat endlich seinen Wendepunkt erreicht. Seit ungefähr einer Woche gaben die russischen Telegraphen zu, daß das alliierte Feuer den Linien von Sewastopol beträchtlichen Schaden zugefügt habe und daß der Schaden "soviel als möglich", also nicht völlig, ausgeglichen sei. Wir erfuhren dann gestern, daß Sonnabend, den 8. September, um Nachmittag die Alliierten 4 Bastionen gestürmt hätten, vor einem derselben geschlagen wurden, zwei wegnahmen, eins davon wieder räumen mußten, schließlich aber das vierte und wichtigste behaupteten, den Malachowturm (Kornilow-Bastion), dessen Verlust die Russen zur Zerstörung und Räumung der Südseite zwang.<1>

Die Ankunft beträchtlicher Verstärkungen nach der Schlacht an der Tschornaja sicherte die alliierten Generale gegen jede etwaige Unternehmung der russischen Armee bei Inkerman; denn selbst im Falle der Rest der 4. und 6. russischen Divisionen nebst den zwei Grenadierdivisionen zu jener Armee geschlagen würden, fanden die Alliierten sich nun in der Position, erfolgreich jeder Anzahl von Truppen zu widerstehn, die die Russen über die Tschornaja werfen konnten und [be]hielten zugleich hinreichend starke Streitkräfte übrig, <526> um die Belagerung weiterzuführen und selbst einen Sturm zu unternehmen. Man muß zugestehn, daß die französische Regierung diesmal außerordentlich rasch in Versendung der Truppen war, die den bereits auf dem Marsche befindlichen Verstärkungen von Polen und Wolhynien das Gleichgewicht halten sollten. Die Zahl der seit Anfang Juli nach dem Osten verschifften französischen Truppen muß mindestens auf 50.000 angeschlagen werden. Unter diesen Umständen und der entsprechenden Wirkung der vorgeschobenen englischen und französischen Mörserbatterien wurden die Trancheen bis zum Graben hin avanciert unter dem Schutze eines kräftigen Feuers. Wieweit sie avancierten und ob das Glacis secundum artem <nach allen Regeln der Kunst> gekrönt war, wissen wir noch nicht. Das Feuer nahm mehr und mehr den Charakter eines regelmäßigen Bombardements an; Vertikalfeuer wurden erfolgreich angewandt, um den Platz für größere Truppenkörper unhaltbar zu machen, und schließlich ward Sturm befohlen.

Auf dem Mamelon hatten die Russen vergangenen Frühling eine Anzahl von feuer- und bombenfesten Gebäudeabschnitten konstruiert mit der Hilfe von traverses und blindes <Traveren und Blenden>. Diese Vorrichtungen gewährten ihnen vorzügliche Schützung gegen das feindliche Feuer, aber bei der Stürmung zeigte sich, daß kein Platz zur Konzentration einer hinreichenden Zahl von Truppen zur Verteidigung des Werkes übriggeblieben war. Abschnitt nach Abschnitt, nur durch wenige Mann verteidigt, fiel in die Hände der Franzosen und bildete dann für sie eine sofortige Logierung. Derselbe Fehler scheint bei Ausführung der Verteidigungswerke des Malachow begangen worden zu sein. Die Sache war überchargiert, und sobald die Franzosen einmal sich des kommandierenden Punktes des Hügels bemächtigt hatten, boten ihnen die russischen Werke selbst Schutz gegen das russische Feuer. Da der Redan (Bastion Nr. 3) und der Redan der Schiffskielbucht (Bastion Nr. 1 der Russen) auf einem mehr ebenen Grunde liegen, ließen sie nicht die terrassenförmigen und komplizierten Verteidigungswerke zu, die auf dem Malachow anbringbar waren. Hier scheint daher eine einfache coupure <Einschnitt> in der Bastion gemacht gewesen zu sein, die den hervorspringenden Winkel abschnitt und ihr Inneres einem überwältigenden Feuer aussetzte. Die Truppen zu seiner Verteidigung konnten daher mehr im Hintergrund konzentriert und das Innere des Werkes durch Ausfälle von der coupure aus geschützt werden. Infolge dieser allgemein in solchen Fällen getroffenen Anordnung konnten die englischen Linien und die französischen Kolonnen, die zum Sturm dieser Positionen kommandiert waren, zwar leicht über den fast ganz verlassenen äußeren Wall <527> vordringen, wurden aber, einmal gegenüber der coupure, erdrückt von dem Kugelregen und gezwungen, den Sturm aufzugeben.

Gleich nach Wegnahme des Malachow machte General de Sallas, auf der französischen linken Attacke, einen Versuch, sich in der Zentralbastion (Nr. 5 zwischen den Flagstaff- und Quarantäne-Bastions) zu etablieren. Er ward zurückgeschlagen. Wir wissen nicht, ob dieser Sturm auf seine Privatverantwortlichkeit hin unternommen war oder ob er einen Teil des Originalplans bildete. Wir wissen ebensowenig, ob die französischen Trancheen weit genug nach der Bastion vorgeschoben waren, um diesen waghalsigen Versuch zu rechtfertigen.

Die Einnahme des Malachow-Hügels bildete sofort den Wendepunkt der Belagerung.<2> Der Malachow kommandiert vollständig die Karabelnaja und den östlichen Abhang des Hügels, worauf die Stadt Sewastopol erbaut ist. Er nimmt in den Rücken die Seeforts auf der südlichen Seite des Hafens und macht den ganzen innern Hafen und den größeren Teil des äußeren Hafens unhaltbar für die russischen Kriegsschiffe. Durch den Fall des Malachow war die Kontinuität der Verteidigungslinien von Sewastopol gerade an dem Punkte unterbrochen, von dem die Sicherheit des Ganzen abhing. Der Besitz des Malachow bedeutete daher den Besitz der Karabelnaja, die Zerstörung der Stadt durch Bombardement, das In-die-Flanke- und In-den-Rücken-Nehmen der Flagstaff-Bastion, und das Verschwinden der letzten Chancen für die Behauptung Sewastopols. Bis dahin war Sewastopol ein für eine große Armee befestigtes Lager, wie alle bedeutenden modernen Festungen es sind. Mit der Wegnahme des Malachow war es herabgesunken auf den Rang eines bloßen Brückenkopfes für die russische Garnison auf der Nordseite und dazu eines Brückenkopfes ohne Brücke.<3> Einige russische Schiffe im Hafen waren bereits von den Bomben der alliierten Batterien in Brand gesteckt worden. Der Malachow, einmal armiert mit französischen Kanonen, würde es den übrigbleibenden russischen Schiffen unmöglich gemacht haben, einen sichern Ankergrund zu finden, außer dicht am Fuße der Forts Nikolaus und Alexander, wo nur für sehr wenige Raum ist. Daher das russische Versenken und <528> Verbrennen von Linienschiffen und Kriegsdampfern. Die vollständige Besitznahme der Karabelnajaseite wird den Alliierten den Beginn von Feldoperationen gebieten. Obgleich sie nicht fähig sein werden, viele Batterien und zahlreiche Truppen in diesem Stadtteil zu etablieren, wegen des Feuers von der nördlichen Seite, haben sie es jedenfalls erreicht, den russischen Anteil an Sewastopol auf weniger als 1/2 seines Umfangs vor dem 8. September zu reduzieren und zu einer Festung, die nur eine beschränkte Anzahl von Verteidigern bergen kann. Nicht nur ist die Offensivkraft der Garnison durchaus gebrochen, sondern auch ihre Defensivkraft bedeutend geschwächt. Eine viel geringere Anzahl von Leuten wird hinreichen, die Belagerung fortzuführen, und die so freigesetzten Truppen, mit den nun unterwegs oder im Lager von Maslak befindlichen Kräften, werden für eine Expedition nach Eupatoria verwendbar. Je mehr man die wechselseitige Position der Alliierten und Russen an der Tschornaja studiert, überzeugt man sich, daß jetzt kein Teil den andern vertreiben kann ohne große Zahlensuperiorität und außerordentliche Opfer. Es greift daher mehr und mehr im alliierten Heerlager die Meinung um sich, daß 60.000-70.000 Mann nach Eupatoria verschifft werden müssen, um von dort gegen die russischen Kommunikationslinien bei Simferopol zu marschieren. Die Russen würden dadurch zu einer Schlacht im offenen Felde gezwungen werden, deren Erfolg unter den gegenwärtigen Umständen den Alliierten gesichert scheint. Es kommt aber alles darauf an, daß sie den jetzigen Augenblick mit Raschheit und Energie benutzen.<4>


Textvarianten

<1> An Stelle dieses Satzes heißt es in der "New-York Daily Tribune" Nr. 4506 vom 28. September 1855: "Der Verlust dieses Punktes zwang die Russen, am 9. mit ihren Truppen von der Südseite zur Nordseite zu marschieren und so die Stadt Sewastopol aufzugeben, nachdem sie ihre Magazine gesprengt, die Gebäude in die Luft gejagt, die Verteidigungswerke durch Minensprengungen zerstört und den ganzen Platz, um General Pélissiers Worte zu gebrauchen, in einen riesigen flammenden Ofen verwandelt hatten. Sie verbrannten auch ihre Dampfschiffe, versenkten ihre letzten Kriegsschiffe und zerstörten schließlich die Brücke in der Nähe des Forts Paul." <=

<2> In der "New-York Daily Tribune" folgt hier der Satz: "Nach all den vorhergehenden Ereignissen dieser bemerkenswerten Belagerung war zu erwarten, daß die Franzosen nicht die leiseste Gefahr liefen, aus ihren neuen Positionen vertrieben zu werden, wenn sie sich ihrer Aufgaben richtig bewußt waren." <=

<3> In der "New-York Daily Tribune" folgt hier der Text: "Es war daher klug, die Stadt aufzugeben. Zwar haben wir viel über neue Werke gehört, die auf der rückwärtigen Seite des Abhangs des Malachows errichtet wurden mit dem Ziel, die Verteidigung der Karabelnaja nach dem Verlust dieser Befestigung aufrechtzuerhalten. Aber sie schienen nicht von solchem Wert gewesen zu sein, um den Fürsten Gortschakow zu veranlassen. die Verteidigung fortzusetzen. Wir werden jedoch sehr bald wissen, was sie in Wirklichkeit darstellen." <=

<4> An Stelle der beiden letzten Sätze bringt die "New-York Daily Tribune" folgenden Text: "Angenommen, die Russen hätten 200.000 Mann auf der Krim (die sie natürlich nicht haben), so würden 80.000 Mann zur Verteidigung der Forts der Nordseite gebraucht werden, 60.000 für die Position an der Tschornaja und 60.000, um der alliierten Armee bei Eupatoria begegnen zu können. Bei der gegenwärtigen Moral der alliierten Truppen ist es gewiß, daß sie mit gleicher Anzahl und bei gleich günstigen Positionen die Russen schlagen werden. Da sie auch durch das Beziehen einer Position an der russischen Kommunikationslinie diese zwingen können, eine Schlacht zu liefern, scheint kein Risiko bei einem solchen Unternehmen zu bestehen. Im Gegenteil, es ist wahrscheinlich, daß die Russen dieser Expeditionsarmee nur höchstens 60.000 Mann entgegenstellen könnten. Je eher jedoch ein solches Manöver unternommen wird, desto besser für die Alliierten, und wenn sie energisch handeln, so können sie große Ergebnisse erwarten. Sie besitzen jetzt sowohl moralische als auch zahlenmäßige Überlegenheit, und wir zweifeln nicht, daß sie daraus Nutzen ziehen werden, ehe ein neuer Winter auf dem Plateau ihre Zahl reduziert und ihre Moral geschwächt hat.

Tatsächlich besagen die letzten Nachrichten, daß schon am 13. 25.000 Mann nach Eupatoria abgesegelt sind, und wir werden zweifellos hören, daß eine noch größere Streitmacht folgen wird.

Wir haben von diesen bedeutenden Ereignissen bisher nur die mageren Informationen des Telegraphen. Wenn uns vollständigere Einzelheiten erreichen, werden wir wieder zu diesem Thema zurückkehren." (Die beiden letzten Absätze wurden von der Redaktion der "Tribune" hinzugefügt.) <=