Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 493-497
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx/Friedrich Engels

Der englisch-französische Krieg gegen Rußland 


I

["Neue Oder-Zeitung" Nr. 385 vom 20. August 1855]

<493> London, 17. August. Der englisch-französische Krieg gegen Rußland wird unstreitig stets in der Kriegsgeschichte als "der unbegreifliche Krieg" figurieren. Großrederei verbunden mit winzigster Aktion, enorme Vorbereitungen und bedeutungslose Resultate, Vorsicht, streifend an Ängstlichkeit, gefolgt von Tollkühnheit, wie sie aus Unwissenheit entspringt, mehr als Mittelmäßigkeit in den Generalen gepaart mit mehr als Tapferkeit in den Truppen, gleichsam absichtliche Niederlagen auf dem Fuß von Siegen, die durch Mißverständnisse gewonnen, Armeen ruiniert durch Nachlässigkeit und wieder gerettet durch sonderbarsten Zufall - ein großes Ensemble von Widersprüchen und Inkonsequenzen. Und dies zeichnet die Russen beinahe ebensosehr wie ihre Feinde. Wenn die Engländer eine Musterarmee zerstört haben durch Mißverwaltung von Zivilbeamten und träge Unfähigkeit der Offiziere; wenn die Franzosen sich in nutzlose Gefahren begeben und enorme Verluste zu ertragen haben, nur weil Louis-Napoleon den Krieg von Paris aus zu leiten affektierte, so haben die Russen ähnliche Verluste erlitten infolge von Mißverwaltung und törichter, aber peremtorischer Befehle von Petersburg. Das militärische Talent des Kaisers Nikolaus ist seit dem Türkenkriege 1828/29 selbst von seinen servilsten Lobrednern sorglichst "verschwiegen" worden. Wenn die Russen Todtleben aufzuweisen haben, der kein Russe ist, so haben sie andererseits Gortschakow und [andere] ... ows, die in keiner Hinsicht den S[ain]t-Arnauds und Raglans an Unfähigkeit nachstehn.

Man sollte denken, daß mindestens jetzt, wo so viele Köpfe beschäftigt sind, plausible Pläne für Angriff und Verteidigung zu entwerfen, mit solchen täglich anwachsenden Massen von Truppen und Material, irgendeine überwältigende Idee zur Geburt kommen müsse. Aber nichts der Art. Der Krieg kriecht voran, aber seine größere Dauer hilft nur den Raum ausdehnen, <494> worauf er geführt wird. Je mehr neue Kriegstheater eröffnet werden, desto weniger geschieht auf jedem derselben. Wir haben nun ihrer sechs: das Weiße Meer, die Ostsee, die Donau, die Krim, den Kaukasus und Armenien. Was auf diesem erstaunlichen Flächenraum geschieht, läßt sich auf dem Raum einer Spalte sagen.

Vom Weißen Meer sprechen die Anglo-Franzosen weislich gar nicht. Sie haben hier nur zwei mögliche militärische Zwecke: den Küsten- und sonstigen Handel der Russen in diesen Gewässern zu verhindern und womöglich Archangelsk zu nehmen. Das erstere ist versucht worden, aber nur teilweise; die alliierten Schwadronen, sowohl vergangenes Jahr als dieses, kamen stets zu spät an und segelten dann zu früh ab. Der zweite Gegenstand - die Wegnahme von Archangelsk - ist nie in Angriff genommen worden. Statt diese ihre eigentliche Aufgabe zu verfolgen, hat sich die Blockadeschwadron zerstreut mit liederlichen Attacken auf russische und lappische Dörfer und der Zerstörung der kleinen Habe dürftiger Fischer. Dies schmähliche Verfahren wird von englischen Korrespondenten entschuldigt mit der verdrießlichen Gereiztheit einer Schwadron, die sich unfähig fühle, etwas Ernsthaftes zu tun! Welche Verteidigung!

An der Donau geschieht nichts. Das Delta dieses Flusses wird nicht einmal gesäubert von den Räubern, die es unsicher machen. Österreich hält den Schlüssel zum Tore, der von dieser Seite nach Rußland führt, und es scheint entschlossen, ihn festzuhalten.

Im Kaukasus ist alles still. Die furchtbaren Zirkassier, gleich allen wilden und unabhängigen Bergbewohnern, scheinen vollständig befriedigt mit dem Rückzug der russischen mobilen Kolonne von ihren Tälern und kein Verlangen zu haben, in die Ebene herabzusteigen, außer für Plünderungszüge. Sie wissen nur auf ihrem eigenen Grund und Boden zu kämpfen, und zudem scheint die Aussicht auf Annexation an die Türkei sie keineswegs zu begeistern.

In Asien erscheint die Türkei, wie sie wesentlich ist - ihre Armee spiegelt hier ganz den verfallenden Zustand des Reichs ab. Es war nötig, den fränkischen Giaur zu Hilfe zu rufen; aber die Franken konnten hier nichts tun, außer Feldwerke aufwerfen. Alle ihre Versuche, die Truppen zu zivilisierter Kriegsart zu zwingen, scheiterten durchaus. Die Russen haben Kars eingeschlossen und scheinen vorbereitet, es regelmäßig anzugreifen. Er ist schwer, eine Chance des Entsatzes für die Stadt zu entdecken, es sei denn, daß Omer Pascha mit 20.000 Mann bei Batum lande und den Russen in die Flanke falle. Unbegreiflich bleibt es und keineswegs schmeichelhaft für die Russen, daß sie so zögernd und vorsichtig einem so schlecht disziplinierten Feind gegenüber agiert haben, während 20.000-30.000 gute Truppen zu ihrer <495> eigenen Verfügung standen. Welche Erfolge immer sie auf diesem Kriegstheater davontragen, Resultat kann höchstens die Einnahme von Kars und Erzerum sein, denn ein Marsch auf Konstantinopel durch Kleinasien ist ganz außer Frage. Der Krieg in Asien hat daher einstweilen ein mehr lokales Interesse, und da es kaum möglich, bei der Ungenauigkeit der existierenden Karten, von der Ferne ein richtiges taktisches oder strategisches Urteil zu fällen, gehen wir nicht näher darauf ein. Bleiben die zwei Hauptkriegstheater, die Krim und die Ostsee.

II

["Neue Oder-Zeitung" Nr. 387 vom 21. August 1855]

London, 18. August. In der Krim schleppt die Belagerung sich schlaftrunken weiter. Während des ganzen Monats Juli haben die Franzosen und Engländer an ihren neuen Avancen gegen den Redan und Malachow gearbeitet, und obgleich wir fortwährend vernahmen, daß sie "ganz dicht" an die Russen herangerückt, lernen wir jetzt, daß am 4. August der Kopf der Sappe dem russischen Hauptgraben nicht näher war als 115 Metres, und vielleicht nicht einmal so nahe. Es ist sicher genugtuend, Heißsporn Pélissier zum Bekenntnis getrieben zu sehen, daß sein "System der Stürme" fehlgeschlagen, und daß reguläre Belagerungswerke seinen Kolonnen die Bahn brechen müssen. Nichtsdestoweniger bleibt es eine eigentümliche Kriegsart, 200.000 Mann ruhig in ihren Zelten liegen und in Erwartung auf Vollendung der Trancheen einstweilen an Cholera und Fieber sterben zu lassen. Wenn die Tschornaja nicht überschreitbar ist, in Anbetracht der jenseits liegenden uneinnehmharen russischen Position - wie die Pariser Blätter behaupten -, könnte eine Expedition nach Eupatoria zur See und ein Versuch, die Russen auf dieser Seite ins freie Feld zu zwingen und ihre reale Stärke und den Stand ihrer Hilfsmittel auszufinden, immerhin einiges Ersprießliches bewirken. Wie es jetzt steht, sind die türkischen, sardinischen und zur Hälfte die französischen und englischen Armeen reduziert auf die Rolle passiver Zuschauer. Ein großer Teil davon könnte daher zu Diversionen verwandt werden. Die einzigen Diversionen aber, von denen wir erfahren, werden in Astley's Amphitheater, in Surrey Gardens und Cremorne Gardens aufgeführt, wo die Russen jeden Abend, unter dem Beifallssturm der patriotischen Cockneys <ein Spottname der Londoner>, entsetzliche Schlappen erleben.

<496> Die Russen müssen in diesem Augenblicke ihre sämtlichen Verstärkungen erhalten und, für die nächstkommende Zeit, das Maximum ihrer Stärke erreicht haben. Die Engländer entsenden einige Regimenter mehr, die Franzosen haben 10.000-15.000 Mann expediert, mehr folgen nach, und alles zusammen sollen 50.000-60.000 Mann frische Truppen den alliierten Streitkräften in der Krim zugefügt werden. Außerdem hat die französische Regierung eine große Zahl von Flußdampfschiffen registriert oder angekauft (verschieden angegeben von 50 zu 100), die alle zu einer Expedition im Schwarzen Meere verwandt werden sollen. Ob sie für das Asowsche Meer bestimmt sind oder für die Einfahrt in Dnepr und Bug, wo Otschakow, Kinburn, Cherson und Nikolajew die Angriffsgegenstände bieten würden, bleibt zu sehn. Wir haben früher darauf vorbereitet, daß es gegen Mitte August zu blutigen Schlägereien kommen werde, da um diese Zeit die Russen nach Empfang der Verstärkungen wieder die Initiative ergreifen würden. <Siehe vorl. Band, S. 373/374> Sie haben in der Tat, unter General Liprandi, einen Ausfall auf die an der Tschornaja stehenden Franzosen und Sardinier gemacht und sind mit großem Verlust zurückgeschlagen worden. Der Verlust der Alliierten ist nicht angegeben und muß daher sehr bedeutend gewesen sein. Es bedarf mehr als telegraphischer Nachrichten, um näher auf diese Affäre einzugehn.

In der Ostsee endlich ist "ein großer Schlag geführt worden". A great blow has been struck! Sieh die englische Presse. Bombardement von Sweaborg! Zerstörung von Sweaborg! Alle Erd- und andere Werke liegen in Trümmern! In der Tat, Sweaborg hat aufgehört zu existieren! Glorreicher Triumph der Alliierten! Die Flotte befindet sich in einem unbeschreiblichen Zustand von Enthusiasmus! Und nun betrachte man die Tatsache selbst. Die alliierten Flotten, 6 Linienschiffe, 4 oder 5 große Fregatten (blockships) und ungefähr 30 Mörserschiffe und Kanonenboote segelten am 7. August von Reval nach Sweaborg. Am 8. nahmen sie ihre Positionen ein. Die niedrigergehenden Geschwader passierten die Sandbänke und Felsen westlich von der Festung, wo größere Schiffe nicht passieren können, und stellten sich, wie es scheint, in weiter Schußferne von den Inseln auf, worauf Sweaborg liegt. Die großen Schiffe blieben außerhalb und, soweit wir urteilen können, außer dem Schußrayon der Festungswerke. Dann eröffneten die Kanonenboote und Mörserschiffe ihr Feuer. Direktes Feuer scheint nicht versucht worden zu sein, sondern bloß Bombenwerfen in der höchsten Richtung, die die Kanonen zuließen. 45 Stunden währte das Bombardement. Ein gewisser Schaden ward angerichtet, den es jedoch unmöglich ist zu schätzen ohne detaillierte Berichte <497> von beiden Seiten. Das Arsenal und verschiedene Pulvermagazine (offenbar kleinere) wurden zerstört. Die "Stadt" Sweaborg (soviel wir wissen nur ein paar Häuser, bewohnt von Leuten, die an der Flotte oder den Festungswerken beschäftigt) ward niedergebrannt. Der den Befestigungen selbst zugefügte Schaden kann nur unbedeutend sein, denn die Flotten, wie beide Admirale erklären, zählten keinen einzigen Toten, nur einige wenige Verwundete und gar keinen Verlust in ihrem Material. Bester Beweis, daß sie sich auf der sichern Seite hielten, und da dies der Fall, konnten sie zwar bombardieren, aber nicht durch direktes Feuer wirken, wodurch allein Festungswerke zerstört werden können. Dundas, bei weitem anständiger und gehaltener in seiner Depesche als der französische Admiral (wenigstens nach ihrem Wortlaut im "Moniteur", der vielleicht zu Paris koloriert worden) gesteht, daß der zugefügte Schaden sich von den 7 Inseln, die Sweaborg bilden, auf die 3 beschränkt, die westlich vom Haupteingangskanal zur Bucht von Helsingfors gelegen sind. Kein Angriff auf den Haupteingang scheint auch nur versucht worden zu sein. Die großen Schiffe scheinen untätig zugeschaut zu haben, und die entscheidende Tat in einer solchen Attacke, das Landen von Truppen zur Besitzergreifung und Zerstörung der Werke, kam gar nicht in Frage. So fällt der angerichtete Schaden ausschließlich auf Vorräte und Magazine, d.h. auf leicht wiederersetzbare Dinge. Wenn die Russen Zeit und Mittel anspannen, kann Sweaborg sich in 3 Wochen in so gutem Zustand befinden wie je zuvor. Militärisch zu sprechen, hat es gar nicht gelitten, und die ganze Geschichte beläuft sich auf einen Akt, dessen materielle Resultate kaum seine Produktionskosten wert sind und der nur unternommen wurde, teils weil die baltische Flotte irgend etwas getan haben muß, bevor sie heimkehrt, teils weil Palmerston die Parlamentssession mit einem Feuerwerk schließen wollte. Leider ereignete es sich für diesen Zweck 24 Stunden zu spät. Das ist die glorreiche Zerstörung Sweaborgs durch die alliierten Flotten. Wir kommen auf diesen Gegenstand zurück, sobald detaillierte Berichte vorliegen.