Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 490-492
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961
["Neue Oder-Zeitung" Nr. 383 vom 18. August 1855]
<490> London, 15. August. Bratiano richtete neulich einen Brief an die "Daily News", worin er die Leiden der Bewohner der Donaufürstentümer unter dem Druck der österreichischen Okkupationsarmee schildert, auf die zweideutige Haltung der französischen und englischen Konsuls anspielt, und dann die Frage stellte:
"Handelt Österreich in der Rolle eines Alliierten oder auch nur eines Neutralen, wenn es eine Armee von 80.000 Mann in den Fürstentümern unterhält, vermittelst deren es, wie in offiziellen Depeschen bewiesen, den Einmarsch der Türken in Bessarabien und die Bildung einer rumänischen Armee verhindert, die tätigen Anteil an dem Krieg genommen haben würde, während es von Galizien 200.000 Mann zurückzieht und so Rußland befähigt, eine gleiche Anzahl nach der Krim zu senden?"
Österreichs zweideutige Stellung begann von dem Augenblick, wo es, weder neutral, noch alliiert, sich zum Vermittler aufwarf. Daß England es zum Teil in diese Rolle hineindrängte, scheint folgender Auszug aus einer an das Wiener Kabinett gerichteten Depesche Lord Clarendons, datiert vom 14. Juni 1853, zu beweisen:
"Wenn die russische Armee die Fürstentümer überschritte und andere Provinzen der Türkei invadiert würden, stände wahrscheinlich eine allgemeine Erhebung der christlichen Bevölkerung bevor, nicht zugunsten Rußlands, noch zur Unterstützung des Sultans, sondern für ihre eigene Unabhängigkeit; es ist überflüssig, hinzuzufügen, daß eine solche Revolte sich bald über die österreichischen Donauprovinzen erstrecken würde; aber es ist Sache der österreichischen Regierung, die Wirkung zu beurteilen, die solche Ereignisse in Ungarn und Italien hervorrufen möchten, und die Ermutigung, so gegeben den europäischen Unruhstiftern, die Österreich zu fürchten Grund hat, und die eben jetzt den Moment für die Verwirklichung ihrer Pläne nahe zu glauben scheinen. Es sind diese Rücksichten, die die Regierung ihrer Majestät wünschen lassen, sich mit <491> Österreich für einen Zweck zu vereinen, der so wesentlich für die besten Interessen der Gesellschaft ist, und mit ihm irgendeine Methode zu entdecken,. wodurch die gerechten Ansprüche Rußlands mit den souveränen Rechten des Sultans versöhnt werden können."
Eine andere Frage in bezug auf die österreichische Politik bleibt am Schlusse der Parlamentssitzung ebenso unbeantwortet wie am Beginn derselben. Welche Stellung nahm Österreich zur Krimexpedition ein? Am 23. Juli dieses Jahres fragte Disraeli den Lord John Russell, auf welche Autorität hin er erklärt habe, daß "eine der Hauptursachen der Krimexpedition Österreichs Weigerung war, den Pruth zu überschreiten".
Lord John Russell konnte sich nicht erinnern - d.h. er sagte, "seine Autorität sei eine unbestimmte Erinnerung, eine Erinnerung im allgemeinen". Disraeli richtete dann dieselbe Frage an Palmerston, der
"keine derartige Fragen beantworten wollte, die bruchstückweis aus einer langen Reihe von Verhandlungen zwischen Ihrer Majestät Regierung und der Regierung eines der Souveräne, der zu einem gewissen Grade ein Alliierter Ihrer Majestät sei, herausgerissen wären."
Palmerston, mit dieser scheinbar ausweichenden Antwort, bestätigte offenbar Russells Behauptung nur indirekt, Delikatesse für den "Alliierten einem gewissen Grade" vorschützend. Begeben wir uns jetzt aus dem Hause der Gemeinen in das Haus der Lords. Am 26. Juni dieses Jahres hielt Lord Lyndhurst seine Philippika gegen Österreich:
"Im Beginn des Juni" (1854) "hätte Österreich sich entschlossen, Rußland zur Räumung der Fürstentümer aufzufordern. Die Aufforderung sei in sehr starken Ausdrücken erfolgt, die eine Art von Drohung einschlossen, zur Waffengewalt zu greifen, wenn der Forderung kein Genüge geschehe."
Nach einigen historischen Bemerkungen fährt Lyndhurst fort:
"Nun wohl, setzte Österreich unmittelbar irgendeinen Angriff auf Rußland ins Werk? Versuchte es, in die Fürstentümer einzurücken? Weit entfernt. Es enthielt sich jeder Handlung mehre Wochen lang, und erst nachdem die Belagerung von Silistria aufgehoben und die russische Armee im Rückzug begriffen war, nachdem Rußland selbst erklärt hatte, es werde innerhalb einer bestimmten Zeit die Fürstentümer räumen und sich hinter den Pruth zurückziehen - erst dann erinnerte sich Österreich wieder seiner Verpflichtung."
In Antwort auf diese Rede erklärte Lord Clarendon:
"Als Österreich seine sukzessiven Verpflichtungen gegen England und Frankreich übernahm und seine ausgedehnten und kostspieligen Kriegsvorbereitungen traf, als es <492> ferner dringend vorschlug, daß Militärkommissare von Frankreich und England in das Hauptquartier des Generals Heß gesandt würden, beabsichtigte und erwartete es zweifelsohne Krieg. Aber es erwartete ebenfalls, daß, lange bevor die Jahreszeit für den Beginn von Kriegsoperationen eingetroffen, die alliierte Armee entscheidende Siege in der Krim erfochten haben, daß sie frei und fähig sein würde, andere Operationen im Bunde mit seinen eigenen Streitkräften zu unternehmen. Das war unglücklicherweise nicht der Fall, und hätte Österreich auf unsere Einladung den Krieg erklärt, so würde es ihn aller Wahrscheinlichkeit nach allein zu führen gehabt haben."
Noch befremdlicher ist die spätere Erklärung Ellenboroughs im Hause der Lords, die bis zu diesem Augenblicke von keinem Minister bestritten worden ist.
"Bevor die Kriegsexpedition absegelte, machte Österreich den Vorschlag, sich mit den alliierten Mächten über künftige Kriegsoperationen zu beraten. Die Alliierten jedoch, nach vorgefaßten Meinungen handelnd, entsandten die Expedition, und nun erklärte Österreich sofort, es könne isoliert die Russen nicht angreifen und die Krimexpedition zwinge es, eine andere Verfahrungsart einzuschlagen. In einer späteren Periode, gerade beim Beginn der Wiener Konferenz, als es von der höchsten Wichtigkeit war, daß Österreich mit uns handeln sollte - zu dieser Zeit, stets noch ausschließlich beschäftigt mit dem Erfolg neuer Operationen in der Krim, entzogt ihr aus der unmittelbaren Nachbarschaft Österreichs 50.000 gute türkische Truppen und beraubtet es so des einzigen Beistandes, worauf es im Falle einer Kriegsexpedition gegen Rußland rechnen konnte. Es ist daher klar, meine Lords, wie auch aus den neulichen Erklärungen des Grafen Clarendon folgt, daß es eure übelberatene Krimexpedition war, die Österreichs Politik lähmte und es in seine jetzige schwierige Position drängte. Ehe die Expedition nach der Krim segelte, warnte ich die Regierung. Ich warnte sie wegen der Wirkung, die diese Expedition auf Österreichs Politik hervorbringen müsse."
Hier denn haben wir direkten Widerspruch zwischen der Erklärung Clarendons, des Ministers des Auswärtigen, zwischen der Erklärung Clarendons und der Erklärung Lord John Russells und der Erklärung Lord Ellenboroughs. Russell sagt: Die Krimexpedition segelte ab, weil Österreich verweigerte, den Pruth zu überschreiten, d.h. Partei gegen Rußland, die Waffen in der Hand, zu ergreifen. Nein, sagt Clarendon. Österreich konnte nicht Partei gegen Rußland ergreifen, weil die Krimexpedition nicht nach Wunsch ausfiel. Endlich Lord Ellenborough: Die Krimexpedition wurde gegen den Willen Österreichs unternommen und zwang es, vom Kriege mit Rußland abzustehen. Diese Widersprüche - wie man sie immer deuten mag - beweisen jedenfalls, daß die Zweideutigkeit nicht bloß auf österreichischer Seite stand.