Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 486-489
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Polenmeeting


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 379 vom 16. August 1855]

<486> London, 13. August. Die wiederholten ärgerlichen Ausfälle der Regierungsblätter auf das große Polenmeeting, das vergangenen Mittwoch in St. Martins Hall abgehalten wurde, machen einige Randglossen nötig. Die Initiative des Meetings ging offenbar vom Ministerium selbst aus. Vorgeschoben war die "Literarische Gesellschaft der Freunde Polens", eine Gesellschaft, gebildet aus Anhängern Czartoryskis einerseits und der polenfreundlichen englischen Aristokratie andererseits. Seit ihrem Entstehen war diese Gesellschaft ein blindes Werkzeug in der Hand Palmerstons, der sie vermittelst des kürzlich verstorbenen Lord Dudley Stuart handhabte und kontrollierte. Die Polenadressen und Deputationen, die sie jährlich Palmerston zusandte, waren eins der großen Mittel, seinen "antirussischen" Ruf am Leben zu erhalten. Die Anhänger Czartoryskis zogen ihrerseits aus dieser Verbindung wichtige Vorteile: Als die einzig respektablen, sozusagen "offiziellen" Repräsentanten der polnischen Auswanderung zu figurieren, die demokratische Partei der Emigration niederzuhalten und über die bedeutenden materiellen Hilfsmittel der Gesellschaft als Werbegelder für ihre eigne Partei zu verfügen. Heftig und langwährend ist der Zwist zwischen der Literarischen Gesellschaft und der "Zentralisation" der demokratischen Polengesellschaft. Im Jahre 1839 hielt letztere ein großes öffentliches Meeting zu London, worin sie die Intrigen der "Literarischen" Gesellschaft enthüllte, daß die historische Vergangenheit der Czartoryskis entrollte (dies geschah von Ostrowski, Verfasser einer englisch geschriebenen Geschichte Polens) und ihren Gegensatz zu den diplomatisch-aristokratischen "Wiederherstellern" Polens laut kundgab. Von diesem Augenblicke war die usurpierte Stellung der "Literarischen" Gesellschaft erschüttert. Im Vorbeigehen sei noch bemerkt, daß die Ereignisse der Jahre 1846 und 1848/1849 ein drittes <487> Element der Polenemigration hinzufügten, eine sozialistische Fraktion, die indes mit der demokratischen gemeinschaftlich der Czartoryski-Partei entgegenwirkt.

Der Zweck des von der Regierung veranlaßten Meetings war ein dreifacher: Bildung einer Polenlegion, um sich in der Krim eines Teils des "polnischen Auslandes" zu entledigen; Wiederauffrischung von Palmerstons Popularität; endlich Überlieferung jeder etwaigen Polenbewegung in seine und Bonapartes Hände. Die Regierungsblätter behaupten, eine tiefgelegte Konspiration, von russischen Agenten ausgehend, habe den Zweck des Meetings vereitelt. Nichts lächerlicher als diese Behauptung. Die Mehrzahl der Audienz in St. Martins Hall bestand aus Londoner Chartisten. Das regierungsfeindliche Amendement (1) wurde von einem Urquhartisten gestellt und von einem Urquhartisten unterstützt - von Collett und Hart. Die im Saale verteilten Druckzettel des Inhalts:

"Das Meeting sei von englischen Aristokraten berufen, die nur das alte britische Regierungssystem zu halten strebten usw.", "Polen verdamme jede Allianz mit den jetzigen Machthabern Europas, wolle von keiner der bestehenden Regierungen hergestellt sein, nicht zum Werkzeug diplomatischer Intrigen herabsinken usw."

Diese Druckzettel waren unterzeichnet vom Präsidenten und Sekretär des "polnisch-demokratischen Komitees". Bedenkt man nun, daß zu London Chartisten, Urquhartisten und die eigentlich "demokratisch"-polnische Emigration, alle drei zueinander in nicht weniger als freundschaftlichen Beziehungen stehen, so fällt jeder Verdacht einer "Verschwörung" weg. Die lärmenden Unterbrechungen des Meetings wurden ausschließlich hervorgerufen durch des Vorsitzenden, Lord Harringtons, unparlamentarische Weigerung, Colletts Amendement zu verlesen und zur Abstimmung vorzuschlagen. Sie wurden vermehrt durch den Einfall des Obersten Szulszewski, des Sekretärs der "Literarischen Gesellschaft der Polenfreunde", nach einem Konstabler zu rufen, um Collett verhaften zu lassen. Der Tumult erreichte <488> natürlich seine Höhe, als Lord Harrington, Sir Robert Peel und ihre Freunde von der Plattform flohen und den Platz räumten. Sobald George Thompson an Harringtons Stelle zum Präsidenten ernannt, stellte sich die Ruhe augenblicklich wieder her.

Die Exemplare der regierenden Klasse Englands, die auf diesem Polenmeeting hervorragten, waren keineswegs darauf berechnet, sonderlichen Respekt für das Patriziat einzuflößen. Graf Harrington ist vielleicht ein sehr guter Mann, aber er ist zweifelsohne ein sehr schlechter Redner. Es war unmöglich, einer peinlicheren Schaustellung beizuwohnen. Nur mit der höchsten Mühe vermochte seine Lordschaft zwei zusammenhängende Worte herauszustammeln. Bis zu diesem Augenblick hat er nicht eine einzige Sentenz seiner Rede beendigt. Das ist unterdes für ihn geschehen - durch die Stenographen. Seine Lordschaft ist Militär und zweifelsohne tapfer, aber von seiner Führung des Polenmeetings zu schließen, zu allem mehr geschaffen als zum Führer. Als Redner ist Lord Ebrington, der Geburtshelfer der Sonntagsbill, dem Grafen Harrington nur wenig überlegen. Seine Physiognomie verrät Starrsinn, seine Schädelform ist die eines Mauerbrechers. Er hat ein unstreitiges Verdienst. Er kann nicht durch Argumente geschlagen werden. Napoleon erklärte einmal, die Engländer wüßten nicht, wann sie geschlagen seien. In dieser Hinsicht ist Ebrington ein Musterengländer.

Nach den Lords kamen die Baronets. Lord Ebrington brachte die Regierungsmotion zur Wiederherstellung Polens vor; Sir Robert Peel folgte ihm und sprach als sein Sekundant. In vieler Rücksicht kein größerer Kontrast denkbar als der zwischen dem "Mitglied für Tamworth" (Peel) und dem "Mitglied für Marylebone" (Ebrington). Der erstere ist ein loser und natürlicher Humbug, der letztere ein verkünstelter und puritanischer Hasenfuß. Der eine amüsiert, der andere ekelt an. Sir Robert Peel macht den Eindruck eines in den Adelstand erhobenen Weinreisenden, Lord Ebrington eines zum Protestantismus bekehrten Inquisitors. Tony Lumpkins und Beau <Stutzer> Brummell in eine Person zusammengerollt würden ungefähr eine Ungereimtheit ergeben, wie sie sich in der Person, Tracht und Manier Peels zur Schau stellt. Es ist ein außerordentliches Gemisch von Clown und Dandy. Palmerston ist sehr parteilich für die Tamworth-Sonderbarkeit. Er findet sie nutzbar. Wenn er wissen will, nach welcher Seite der Volkswind bläst, hißt er Sir Robert Peel als Wetterfahne auf. Als er zu wissen verlangte, ob die öffentliche Meinung Englands die Ausweisung Victor Hugos usw. sanktionieren werde, ließ er Sir Robert Peel sprechen, die Flüchtlinge denunzierend und Bonaparte <489> apologisierend. So wieder in bezug auf Polen. Er vernutzt ihn als "Fühlhorn". Für diese nicht überwürdevolle Rolle ist Peel außerordentlich geeignet. Er ist, was die Engländer "a chartered libertine" nennen, ein patentierter Wildfang, ein privilegierter Sonderling, für dessen Ein- und Ausfälle, Kreuz- und Querzüge, Worte und Taten kein Ministerium verantwortlich gehalten wird und keine Partei. Sir Robert kam zum Polenmeeting gepolstert und, wie es heißt, geschminkt in der artistischen Manier. Er schien geschnürt, trug eine hochrote Rose im Knopfloch, war parfümiert wie eine Putzmacherin und schwenkte in seiner Rechten einen ungeheuren Regenschirm, womit er den Takt zu seiner Rede schlug. Durch einen höchst ironischen Zufall folgte den Lords und Baronets direkt auf dem Fuß nach Herr Tite, Ex-Vizepräsident der Administrativreform-Assoziation. Seit er durch den Einfluß dieser Assoziation zum Solon von Bath ernannt worden, hat er bekanntlich seine parlamentarische Laufbahn damit eröffnet, gegen Scullys Antrag für ein Stück Administrativreform und für Palmerstons türkische Anleihen zu stimmen, während er bei der Abstimmung über Roebucks Antrag mit großer Mäßigung sich des Abstimmens enthielt. Die Lords und Baronets schienen kichernd auf ihn hinzuweisen: Seht da unsern Ersatzmann! Es ist unnötig, Herrn Tite näher zu schildern. Shakespeare tat es, als er den unsterblichen Shallow erfand, den Falstaff vergleicht mit einem der Männlein, die man beim Nachtisch aus Käserinden schnitzelt.

Im Gegensatz zu all diesen Herren machte Hart, ein unbekannter junger Plebejer, gleich mit den ersten Worten den Eindruck, daß er ein Mann sei, berufen Massen hinzureißen und zu beherrschen. Man begreift jetzt den Verdruß der Regierung über das Polenmeeting. Es war eine Niederlage nicht nur für Palmerston, sondern noch mehr für die Klasse, die er vertritt.


Fußnoten

(1) Colletts vom Meeting adoptiertes Amendement lautete wörtlich: "Daß dies Meeting, herzlich die Wiederherstellung der polnischen Nationalität wünschend, nicht vergessen kann, daß die Zerstörung dieser Nationalität hauptsächlich dem perfiden Betragen Palmerstons von 1830-1846 geschuldet ist; daß, solange Palmerston ein Diener der Krone bleibt, jeder Vorschlag für die Herstellung Polens bloß Falle und Betrug sein kann. Daß die Wahrheit dieser Behauptung auch dadurch bewiesen, daß er den Krieg so führt, um Rußland möglichst wenig zu beschädigen, während die von ihm vorgeschlagenen Friedensbedingungen die Integrität und Unabhängigkeit der Türkei völlig vernichten wurden." <=