Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 383-401
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Lord John Russel

Geschrieben vom 25. Juli bis 12. August 1855.


I

["Neue Oder-Zeitung" Nr. 347 vom 28. Juli 1855]

<383> London, 25. Juli. Es ist ein altes Whig-Axiom, das Lord John Russell zu zitieren liebte, daß "Parteien den Schnecken gleichen, bei denen es der Schwanz ist, der den Kopf bewegt". Schwerlich ahnte ihm, daß der Schweif, um sich zu retten, das Haupt abschlagen werde. Wenn nicht das Haupt des "letzten der Whig-Kabinetts", war er unstreitig das Haupt der Whig-Partei. Burke sagte einmal:

"Die Zahl der Güter, Landsitze, Schlösser, Waldungen usw., die dem englischen Volke von den Russells abgepreßt worden, sei völlig unglaublich" (quite incredible).

Unglaublicher würde der Ruf sein, den Lord John Russell genießt, und die hervorragende Rolle, die er seit länger als einem Vierteljahrhundert zu spielen gewagt, böte nicht die "Zahl der Güter", die seine Familie usurpiert hat, den Schlüssel zum Rätsel.

Während seines ganzen Lebens schien Lord John nur nach Stellen zu jagen und an den erjagten Stellen so verstockt festzuhalten, um jeden Anspruchs auf Macht verlustig zu gehen. So 1836-1841, wenn ihm die Stelle des Führers der Gemeinen zugefallen war. So 1846 bis 1852, als er sich Premierminister nannte. Der Schein von Gewalt, der ihn als Leiter einer staatsschatzstürmerischen Opposition umgab, verschwand jedesmal mit dem Tage, wo er zur Macht kam. Sobald er aus einem Out <Oppositionellen> ein In <Regierungsmitglied> wurde, war es aus mit ihm. Bei keinem anderen englischen Staatsmanne ward je in demselben Grade die Macht zur Ohnmacht. Aber kein anderer wußte auch je so seine Ohnmacht zur Macht zu erheben.

<384> Außer vom Einfluß der herzoglich Bedfordschen Familie, deren jüngerer Sohn Lord John, war die Scheingewalt, über die er periodisch verfügte, unterstützt von dem Mangel aller Eigenschaften, die im allgemeinen einen Menschen befähigen, über andere Menschen zu herrschen. Seine diminutive Ansicht von allen Dingen teilte sich wie durch Ansteckung andern mit und trug mehr dazu bei, das Urteil seiner Hörer zu verwirren, als die genialste Verdrehung vermocht hätte. Sein wahres Talent besteht in der Fähigkeit, alles, was er berührt, auf seine eigenen zwergartigen Dimensionen zu reduzieren, die Außenwelt auf einen infinitesimal kleinen Maßstab zusammenzuziehen und in einen vulgären Mikrokosmos von seiner eigenen Erfindung zu verwandeln. Sein Instinkt, das Großartige zu verkleinern, wird nur übertroffen von seiner Kunst, das Kleinliche groß aussehn zu machen

Lord John Russells ganzes Leben war ein Leben auf falsche Vorwände - falsche Vorwände von Parlamentsreform, falsche Vorwände von Religionsfreiheit, falsche Vorwände von Freihandel. So aufrichtig war sein Glauben in das Genüge falscher Vorwände, daß er es für durchaus tunlich hielt, nicht nur britischer Staatsmann auf falsche Vorwände zu werden, sondern auch Dichter, Denker und Geschichtschreiber auf falsche Vorwände. Nur so ist es möglich, Rechenschaft abzulegen von der Existenz solcher Lappalien wie seine Tragödie "Don Carlos, oder die Verfolgung" oder sein "Versuch einer Geschichte der englischen Regierung und Konstitution von der Herrschaft Heinrichs VII. bis zur Jetztzeit" oder seine "Memoiren über die Angelegenheiten Europas seit dem Frieden von Utrecht". Der egoistischen Enge seines Gemüts bietet jeder Gegenstand nichts als eine Tabula rasa worauf es ihm freisteht, seinen eigenen Namen zu schreiben. Seine Meinungen hingen nie von der Realität der Tatsachen ab, sondern für ihn hängen die Tatsachen selbst von der Ordnung ab, worin er sie in Redensarten rangiert. Als Redner hat er nicht einen erwähnenswerten Einfall hinterlassen, nicht eine tiefe Maxime, keine solide Beobachtung, keine gewaltige Beschreibung, keinen schönen Gedanken, keine lebendige Anspielung, kein humoristisches Gemälde, keine wahre Empfindung. Die "zahmste Mittelmäßigkeit", wie Roebuck in seiner Geschichte des Reformministeriums gesteht, überraschte seine Zuhörer, selbst als er den größten Akt seines öffentlichen Lebens beging, als er seine sogenannte Reformbill ins Haus der Gemeinen brachte. Er besitzt eine eigentümliche Manier, seinen trocknen, schleppenden, monotonen, auktionärartigen Vortrag zu verbinden mit schülerhaften Illustrationen aus der Historie und mit einem gewissen feierlichen Kauderwelsch über "die <385> Schönheiten der Konstitution", die "allgemeinen Freiheiten des Landes", die "Zivilisation" und den "Fortschritt". In wirkliche Wärme fällt er nur, wenn nicht persönlich gereizt oder von seinen Gegnern aus der geheuchelten Haltung von Arroganz und Selbstgenüge in alle Symptome leidenschaftlicher Schwäche hineingestachelt. Man ist in England allgemein übereingekommen, seine zahllosen Fehlsprünge aus einer gewissen instinktiven Raschheit zu erklären. In der Tat ist auch diese Raschheit nur falscher Vorwand. Sie reduziert sich auf die unvermeidliche Reibung von Ausflüchten und Notmitteln, die nur für die gegenwärtige Stunde berechnet sind, mit der ungünstigen Konstellation der folgenden Stunde. Russell ist nicht instinktiv, sondern berechnend; aber klein, wie der Mann, ist seine Berechnung - stets nur Behelf für die nächste Stunde. Daher beständige Schwankungen und Winkelzüge, rasche Avancen, schmähliche Retiraden, herausfordernde Worte, weislich wieder verschluckt, stolze Pfänder schäbig ausgelöst und, wenn sonst nichts helfen will, Tränen und Schluchzen, um die Welt zu erweichen. Daher kann sein ganzes Leben betrachtet werden entweder als ein systematischer sham <Schwindel> oder als ein ununterbrochener Schnitzer.

Es mag wunderbar erscheinen, daß irgendein öffentlicher Charakter solche Armeen von totgebornen Maßregeln, erschlagenen Projekten und abortierten Schemas überlebt hat. Aber wie der Polyp durch Amputation gedeiht, so Lord John Russell durch Abortion. Die Mehrzahl seiner Pläne wurde nur vorgebracht zu dem Behuf, den Mißmut seiner Alliierten, der sog. Radikalen, zu besänftigen, während ein Einverständnis mit seinen Gegnern, den Konservativen, ihm das "Burken" <"Unterdrücken"> dieser Pläne sicherte. Seit den Tagen des reformierten Parlaments, wer könnte eine einzige seiner "weiten und liberalen Maßregeln", seiner "großen Reform-Abschlagzahlungen" nennen, von deren Schicksal er das Schicksal seines Kabinetts abhängig gemacht hätte? Umgekehrt. Was mehr als alles andere beitrug, sein Ministerium zu halten und zu verlängern, war das Vorschlagen von Maßregeln zur Befriedigung der Liberalen und ihre Zurücknahme zur Befriedigung der Konservativen. Es gibt Perioden in seinem Leben, wo Peel ihn absichtlich am Ruder hielt, um nicht gezwungen zu sein, Dinge zu tun, von denen er wußte, daß Russell nur schwatzen werde. In solchen Epochen geheimen Einverständnisses mit dem offiziellen Gegner entwickelte Russell Frechheit gegen seine offiziellen Verbündeten. Er ward tapfer - auf falsche Vorwände.

Wir werden auf seine Leistungen von 1830 bis jetzt einen Rückblick werfen. Das verdient dieses Genie der Alltäglichkeit.

II

["Neue Oder-Zeitung" Nr. 359 vom 4. August 1855]

<386> London, 1. August.

"Wenn ich ein Maler wäre", sagte Cobbett, "dort würde ich die englische Konstitution hinstellen, unter dem Bild einer alten Eiche, verfault an der Wurzel, ihre Wurzel tot, ihr Stamm hohl, wackelnd an der Grundlage, hin- und hergeworfen von jedem Windstoß, und hier würde ich Lord John Russell hinsetzen, in der Person eines Zaunkönigs, bemüht, alles in Ordnung zu bringen, indem er nach einem Rest von Insektchen auf der halbverrnoderten Rinde eines der niedrigsten Zweige pickt. Einige vermuten sogar, daß er an den Knospen nagt, unter dem Vorwand, die Rinde von schädlichen Insekten zu säubern."

So diminutiv waren Russells Reformversuche in seiner antediluvianischen Periode von 1813-1830, aber diminutiv, wie sie waren, waren sie nicht einmal aufrichtig. Er schwankte keinen Augenblick, sie zu verleugnen, auf den bloßen Geruch eines Ministerpostens.

Seit 1807 hatten die Whigs vergeblich nach Teilnahme an der steuerverzehrenden Funktion geschmachtet, als 1827 die Bildung von Cannings Kabinett, mit dem sie in bezug auf Gegenstände des Handels und der auswärtigen Politik zu sympathisieren vorschützten, ihnen die lang gesuchte Gelegenheit zu bieten schien. Russell hatte damals eine seiner Zaunkönig-Motionen für parlamentarische Reform auf der Tagesordnung stehen, als Canning seinen festen Entschluß erklärte, bis zum Ende seines Lebens jeder Parlamentsreform zu widerstehen. Auf stand Lord John, seine Motion zurückzuziehen.

"Parlamentsreform", sagte er, "sei eine Frage, worüber große Verschiedenheit der Ansicht unter denen herrsche, die sie verteidigten, und die Führer der Whigs seien stets unwillig gewesen, sie als Parteifrage anzuerkennen. Es sei nun das letztemal, daß er diese Frage vorbringe."

Er endete seine Rede mit der insolenten Erklärung: "Das Volk wünsche die Parlamentsreform nicht länger." Er, der stets renommiert hatte mit seiner geräuschvollen Opposition gegen Castlereaghs berüchtigte 6 Zwangsakte von 1819, enthielt sich nun aller Abstimmung über einen Antrag Humes für den Widerruf einer dieser Akte, die einen Mann lebenslänglicher Transportation aussetzte für jede Druckschrift, worin auch nur die Tendenz gefunden werde, eines der Häuser des Parlaments der Verachtung auszusetzen.

<387> So, am Schlusse der ersten Periode seines parlamentarischen Lebens, finden wir Lord John Russell seine mehr als zehnjährigen Reformbekenntnisse Lügen strafend und völlig übereinstimmend mit Horace Walpoles, dieses Prototyps der Whigs, Äußerung gegenüber Conway:

"Populäre Bills werden nie ernsthaft vorgeschlagen, sondern stets nur als Parteiinstrument, aber nicht als ein Pfand für die Verwirklichung solcher extravaganten Ideen!"

Es war also keinenfalls Russells Fehler, wenn er, statt die Reformmotion im Mai 1827 zum letzten Male vorzubringen, sie 4 Jahre später, am 1. März 1831, in der Gestalt der berühmten Reformbill zu wiederholen hatte. Diese Bill, worauf er noch immer seinen Anspruch auf die Bewunderung der Welt im allgemeinen und Englands im besondern gründet, hatte ihn keineswegs zum Verfasser. In ihren Hauptzügen, dem Aufbrechen des größern Teiles der Wahl-Boroughs <Wahlflecken>, der Zufügung der Grafschaftsmitglieder, dem Wahlrecht für Copyholders, Leaseholders und 24 der bedeutendsten englischen Handels- und Fabrikstädte, war sie eine Kopie der Bill, die Graf Grey (der Chef des Reformministeriums von 1830) 1797, wenn in der Opposition, dem Hause der Gemeinen vorgelegt, aber weislich vergessen hatte, als er sich 1806 im Kabinett befand. Es ist dieselbe Bill, oberflächlich modifiziert. Wellingtons Vertreibung aus dem Kabinett, weil er sich gegen Parlamentsreform erklärt, die französische Julirevolution, die drohenden großen politischen Unionen, von den Mittel- und Arbeiterklassen in Birmingham, Manchester, London usw. gebildet, der Bauernkrieg in den Ackerbaugrafschaften, der rote Hahn, der in den fruchtbarsten Distrikten Englands sein Feuer umhertrug - alle diese Umstände zwangen die Whigs, irgendeine Reformbill vorzuschlagen. Sie gaben nach, verdrießlich, zögernd, nach vergeblich wiederholten Versuchen, ihre Stellen durch ein Kompromiß mit den Tories zu sichern. Sie wurden daran verhindert zugleich durch die furchtbare Haltung des Volks und die starre Unversöhnlichkeit der Tories. Kaum war indes die Reformbill zum Gesetz erhoben und in Praxis getreten, als, um Brights Worte zu gebrauchen (vom 6. Juni 1849), das Volk "zu fühlen begann, daß es geprellt war".

Nie vielleicht hat eine mächtige und allem Anschein nach erfolgreiche Volksbewegung sich in winzigere Scheinresultate verlaufen. Nicht nur wurden die Arbeiterklassen von allem politischen Einfluß ausgeschlossen, die Mittelklassen selbst entdeckten bald, daß es nicht Redefigur war, wenn Lord Althorp, die Seele des Reformkabinetts, seinen Tory-Gegnern zurief:

<388> "Die Reformbill sei die aristokratischste Maßregel, die jemals der Nation geboten worden."

Die neue Landrepräsentation überwog weit den den Städten eingeräumten Zuwachs von Stimmen. Dies Stimmrecht, das den Pächtern <1> auf Kündigung gegeben wurde, machte die Grafschaften noch vollständiger zu Werkzeugen der Aristokratie. Die Unterschiebung von Hausbesitzern, deren Haus jährlich 10 Pfd.St. trägt für die Zahler von Schoß und Zoll, entzog einem großen Teil der städtischen Bevölkerung ihr Stimmrecht. Die Verleihung und Entziehung des Wahlrechts war im ganzen berechnet nicht auf Vermehrung des Einflusses der Mittelklassen, sondern auf Ausschließung des Tory- und Förderung des Whig-Einflusses. Durch eine Reihe der außerordentlichsten Winkelzüge, Pfiffe und Betrügereien wurde die Ungleichheit der Wahlbezirke erhalten, das ungeheure Mißverhältnis zwischen Zahl der Repräsentanten und Bevölkerung und Wichtigkeit der Wahlkörperschaften wiederhergestellt. Wenn ungefähr 56 faule Flecken, jeder mit einer Handvoll Einwohnern, aufgehoben, wurden ganze Grafschaften und volkreiche Städte in faule Flecken verwandelt. John Russell gesteht selbst in einem Briefe an seine Wähler von Stroud "über die Prinzipien der Reformbill" (1839), daß das "10-Pfund-Stimmrecht durch Regulationen aller Art gefesselt und die jährliche Registration der Wahlfähigen zu einer Quelle von Schikanen und Unkosten gemacht" ward. Wo Einschüchterung und traditioneller Einfluß nicht verewigt werden konnten, wurden sie ersetzt durch Bestechung, die, seit dem Durchgehn der Reformbill, der Eckstein der britischen Konstitution wurde. Dieses war die Reformbill, deren Trompete Russell war, ohne ihr Urheber zu sein. Die einzigen Klauseln, die erwiesenermaßen seiner Erfindung geschuldet werden, sind die Klausel, die von allen Freeholders, mit Ausnahme der Geistlichen, einjährigen Besitz ihres Grundstücks erheischt, und die andere Klausel, wodurch Tavistock, der "faule Flecken" der Familie Russell, seine Privilegien unversehrt erhält.

Russell war nur subalternes Mitglied des Reformministeriums (von 1830 bis November 1834), nämlich Zahlmeister der Armee ohne Stimme im Kabinett. Er war vielleicht der unbedeutendste unter seinen Kollegen, aber trotz alledem der jüngste Sohn des einflußreichen Herzogs von Bedford. Man kam daher überein, ihm die Ehre der Einführung der Reformbill in das Haus der Gemeinen zu überlassen. Ein Hindernis stand diesem Familienarrangement im Wege. Während der Reformbewegung vor 1830 hatte Russell stets <389> figuriert als "Henry Broughams little man" (Heinrich Broughams kleiner Mann). Russell konnte die Reformbill nicht zum Vortrag überlassen werden, solange Brougham neben ihm im Unterhause saß. Das Hindernis wurde beseitigt, indem man den eitlen Plebejer ins Haus der Lords auf den Wollsack warf. Da die bedeutendem Mitglieder des ursprünglichen Reformkabinetts bald ins Oberhaus traten (so Althorp 1834), ausstarben oder zu den Tories übergingen, fiel Russell nicht nur das Gesamterbe des Reformministeriums zu, sondern er galt bald für den Vater des Kindes, bei dem er zur Taufe gestanden hatte. Er gedieh auf den falschen Vorwand, der Verfasser einer Reformbill zu sein, die selbst eine Verfälschung und eine Eskamotage war. Sonst zeichnete er sich während der Jahre 1830-1834 nur durch die ärgerliche Bitterkeit aus, womit er jeder Untersuchung der Pensionsliste widerstand.

III

["Neue Oder-Zeitung" Nr. 363 vom 7. August 1855]

London, 3. August. Wir kehren zur Charakteristik Russells zurück. Wir werden länger bei ihm verweilen, einmal weil er der klassische Repräsentant des modernen Whiggismus, dann, weil seine Geschichte, wenigstens nach einer Seite hin, die Geschichte des reformierten Parlaments bis zur Jetztzeit einschließt.

In seiner Bevorwortung der Reformbill machte Russell in bezug auf das Ballot (Wahl durch Kugelung) und kurze Parlamente - die Whigs haben bekanntlich die einjährigen Parlamente Englands 1694 in dreijährige und 1717 in siebenjährige verwandelt - folgende Erklärung.

"Es unterliegt keinem Zweifel, daß das Ballot viel Empfehlungswertes für sich hat. Die zu seinen Gunsten vorgebrachten Gründe sind so scharfsinnig und schlagend wie irgendwelche, die ich je in bezug auf irgendeinen Streitpunkt vorbringen hörte. Indes muß das Haus sich hüten, zu einem übereilten Beschluß zu kommen ... Die Frage der kurzen Parlamente ist von der äußersten Wichtigkeit. Ich überlasse es einem andern Mitglied des Hauses, sie künftig vorzubringen, da ich meinen großen Vorwurf nicht mit Details überhäufen darf."

Am 6. Juni 1833 behauptete er,

"sich enthalten zu haben der Beantragung dieser zwei Maßregeln, um eine Kollision mit dem Hause der Lords zu vermeiden, obgleich Meinungen (!) tief in seiner Brust <390> wurzelnd. Er sei überzeugt, daß sie wesentlich für das Glück, den Wohlstand und die Wohlfahrt des Landes seien." (Man hat hier zugleich ein Beispiel von seiner Art Rhetorik.)

Infolge dieser "tiefgewurzelten Überzeugung" zeigte er sich während seiner ganzen ministeriellen Laufbahn als beständigen und unerbittlichen Feind des Ballots und kurzer Parlamente. Zur Zeit, wo diese Erklärungen gemacht wurden, dienten sie als doppelter Notbehelf. Sie beschwichtigten die mißtrauischen Demokraten des Unterhauses; sie verschüchterten die widerspenstigen Aristokraten des Oberhauses. Sobald sich indes Russell des neuen Hofes der Königin Victoria versichert hatte (siehe Broughams Antwort auf Russells Brief an die Wähler von Stroud, 1839) und sich nun einen unsterblichen Stelleneigentümer dünkte, trat er hervor mit seiner Erklärung vorn November 1837, worin er "die extreme Länge, wozu die Reformbill fortgegangen", damit rechtfertigte, daß sie die Möglichkeit jeden Weitergehens absperre.

"Der Zweck der Reformbill", sagte er, "war, das Übergewicht des Grundeigentums-Interesses zu vermehren, und sie war gemeint als die permanente Lösung einer großen konstitutionellen Frage."

Kurz, er trat hervor mit seiner Abschlußerklärung, die ihm den Titel "Finality-John" eintrug. Es war ihm indes nicht mehr Ernst mit der "Finality" <"Abschluß">, dem Stehenbleiben, als mit dem Weitergehen. Es ist wahr. Er widersetzte sich 1848 Humes Parlamentsreform-Antrag. Mit der vereinten Macht der Whigs, Tories und Peeliten schlug er Hume wieder, als dieser 1849 eine ähnliche Motion stellte, mit einer Majorität von 268 gegen 82. Kühn gemacht durch die konservative Reserve, forderte er trotzig heraus:

"Als wir die Reformbill entwarfen und vorschlugen, wünschten wir die Repräsentation dieses Hauses den andern Staatsgewalten anzupassen und es in Harmonie mit der Konstitution zu halten. Herr Bright und seine Meinungsgenossen sind so außer ordentlich enggeistig, ihre Urteilskraft und ihr Verstand sind in so enge Schranken gebannt, daß es förmlich unmöglich ist, ihnen die großen Prinzipien begreiflich zu machen, worauf unsere Vorfahren die Konstitution des Landes begründet haben, und die wir, ihre Nachfolger, in Demut bewundern und nachzuahmen suchen. Das Haus der Gemeinen, in den 17 Jahren, die seit der Reformbill verflossen, hat alle gerechten Erwartungen befriedigt. Das bestehende System, obgleich einigermaßen unregelmäßig, wirkt gut und gerade wegen seiner Regelwidrigkeit gut."

<391> Da Russell indes 1851 eine Niederlage erlitt bei Gelegenheit von Locke Kings Motion, das Wahlrecht in den Grafschaften auf Besitzer zu einem Jahresertrag von 10 Pfd.St. auszudehnen -, da er sich selbst gezwungen sah, für einige Tage zu resignieren, leuchtete seinem "weitgeistigen" Verstande plötzlich die Notwendigkeit einer neuen Reformbill ein. Er verpfändete sich dem Hause, sie einzubringen. Er verschwieg, worin seine "Maßregel" bestehen sollte, aber er stellte einen Wechsel auf sie aus, zahlbar in der nächsten Sitzung des Parlaments.

"Der Anspruch des gegenwärtigen Ministeriums auf die Stelle, die es einnimmt", erklärte damals die "Westminister Review" das Organ der mit Russell verbündeten sog. Radikalen, "war zum Stichwort des Hohnes und des Vorwurfs geworden, und schließlich, als sein Sturz und die Vernichtung seiner Partei unvermeidlich schien, rückte Lord John heraus mit dem Versprechen einer neuen Reformbill für 1852. Haltet euch am Posten, ruft er, bis zu jener Frist, und ich werde eure Sehnsucht durch eine breite und liberale Reformmaßregel befriedigen."

1852 schlug er in der Tat eine Reformbill vor, diesmal seiner eigensten Erfindung, aber von so wunderlich liliputanischen Umrissen, daß weder die Konservativen es der Mühe wert hielten, sie anzugreifen, noch die Liberalen, sie zu verteidigen. Jedenfalls bot der Reformabort dem kleinen Mann den Vorwand, als er endlich vom Ministerium scheiden mußte, seinem siegreichen Nachfolger, dem Grafen Derby, einen skythischen Pfeil im Fliehen zuzuschleudern. Er machte seinen Exit mit der pomphaften Drohung, daß er "auf der Ausdehnung des Wahlrechts bestehen werde". Die Ausdehnung des Wahlrechts war ihm nun zur "Herzenssache" geworden. Kaum aus dem Kabinett herausgeworfen, lud dieses Kind des Notbehelfs, jetzt von seinen eigenen Anhängern "Foul weather Jack" (Schlecht-Wetter-Hans) benamst, zu seiner Privatresidenz in Chesham Place die verschiedenen Fraktionen ein, aus deren Ehe das schwächliche Ungeheuer der Koalition entsprang. Er vergaß nicht, nach den "außerordentlich enggeistigen" Brights und Cobdens zu schicken, in feierlicher Versammlung vor ihnen seine eigene Weitgeistigkeit abzubitten, und ihnen einen neuen Wechsel auf einen "größern" Reformbetrag auszustellen. Als Mitglied des Koalitionskabinetts, 1854, belustigte er die Gemeinen mit einem abermaligen Reformprojekt, wovon er wußte, daß es bestimmt sei, eine andere Iphigenie, von ihm, einem anderen Agamemnon, zum Frommen eines andern Trojazuges geopfert zu werden. Er vollführte das Opfer in dem melodramatischen Stile Metastasios, die Augen gefüllt mit Tränen, die indes trockneten, sobald der "gehaltlose" Sitz, den er im Kabinett einnahm, durch eine armselige Intrige gegen Herrn Strutt, einen seiner <392> eigenen Parteigänger, vertauscht war mit der Kabinettspräsidentenschaft, Gehalt 2.000 Pfd.St.

Der zweite Reformplan sollte sein fallendes Kabinett stützen, der dritte das Tory-Kabinett fällen. Der zweite war eine Ausflucht, der dritte eine Schikane. Den zweiten richtete er so ein, daß niemand zugreifen wollte; den dritten brachte er vor in einem Augenblick, wo niemand zugreifen konnte. In beiden bewies er, daß, wenn ihn das Schicksal zum Minister, die Natur ihn zum Kesselflicker bestimmt hat, wie den Christopher Sly. Selbst von der ersten und allein verwirklichten Reformbill begriff er nur den oligarchischen Kniff, nicht den historischen Pfiff.

IV

["Neue Oder-Zeitung" Nr. 365 vom 8. August 1855]

London, 4. August. Mit dem Ausbruch des Anti-Jakobinerkrieges begann der Einfluß der Whigs in England in eine Periode der Ebbe zu treten, die tiefer und tiefer fiel. Sie wandten daher ihre Augen nach Irland, beschlossen, es in die Waagschale zu werfen, und schrieben auf ihr Parteibanner: Irische Emanzipation. Als sie 1806 für einen Augenblick zur Regierung kamen, legten sie in der Tat eine kleine irische Emanzipationsbill dem Hause der Gemeinen vor, brachten sie durch die zweite Lesung und zogen sie dann freiwillig wieder zurück, um dem bigotten Idiotismus Georgs III. zu schmeicheln. 1812 suchten sie sich dem Prinzregenten (später Georg IV.), wenn auch umsonst, als die einzig möglichen Werkzeuge der Aussöhnung mit Irland aufzudrängen. Vor und während der Reformagitation krochen sie vor und um O'Connell, und die "Hoffnungen Irlands" dienten ihnen als mächtige Kriegsmaschine. Dennoch, bei der ersten Versammlung des ersten reformierten Parlaments, bestand der erste Akt des Reformministeriums in einer Kriegserklärung gegen Irland, in der "brutalen und blutigen" Maßregel der "Zwangsbill", die Irland dem Standrecht unterwarf <2>. Die Whigs erfüllten ihre alten Versprechen "mit Feuer, Gefängnis, Transportation und selbst mit Tod". O'Connell wurde verfolgt und verurteilt wegen Aufstandes. Indessen hatten die Whigs die <393> Zwangsbill gegen Irland nur eingebracht und nur durchgebracht auf die ausdrückliche Verpflichtung hin, eine andere Bill, eine Bill über die englische Staatskirche in Irland vorzulegen. Diese Bill - hatten sie sich weiter verpflichtet - solle eine Klausel enthalten, die gewisse Überschüsse aus den Einkünften der Staatskirche in Irland zur Verfügung des Parlaments stelle. Das Parlament seinerseits solle über sie verfügen im Interesse Irlands. Die Wichtigkeit dieser Klausel bestand in der Anerkennung des Prinzips, daß das Parlament die Macht zur Expropriation der Staatskirche besitzt - ein Prinzip, wovon Lord John Russell um so sicherer überzeugt sein sollte, als das ganze ungeheure Vermögen seiner Familie aus ehemaligen Kirchengütern besteht. Die Whigs versprachen, mit jener Kirchenbill zu stehen oder zu fallen. Sobald aber die Zwangsbill votiert war, zogen sie unter dem Vorwande, eine Kollision mit dem Hause der Lords zu vermeiden, die obenerwähnte Klausel, die einzige, die ihrer Kirchenbill Wert gab, zurück. Sie überstimmten und schlugen ihren eigenen Vorschlag. Dies geschah 1834. Gegen Ende desselben Jahres jedoch schien ein elektrischer Stoß die irischen Sympathien der Whigs neu belebt zu haben. Sie hatten nämlich vor Sir Robert Peel im Herbst 1834 das Kabinett räumen müssen. Sie waren auf die Oppositionsbänke zurückgeschleudert. Und sofort finden wir unsern John Russell eifrig tätig am Aussöhnungswerk mit Irland. Er war Hauptagent in den Negotiationen zum Lichfield-House-Vertrag, der Januar 1835 abgeschlossen wurde. Die Whigs überlassen darin dem O'Connell die Patronage (Vergebung von Ämtern etc.) in Irland, während O'Connell ihnen die irischen Stimmen innerhalb und außerhalb des Parlaments sichert. Aber ein Vorwand war nötig zur Vertreibung der Tories aus Downing Street. Russell, mit charakteristischer "Unverschämtheit", wählte die Kircheneinkünfte Irlands als Schlachtfeld, und als Kampfparole dieselbe Klausel - unter dem Namen Appropriationsklausel berüchtigt geworden -, die er und seine Kollegen vom Reformministerium selbst kurz vorher zurückgezogen und aufgeopfert hatten. Peel wurde in der Tat geschlagen unter der Parole der "Appropriationsklausel". Das Melbourne-Kabinett ward gebildet, und Lord John Russell installierte sich als Minister des Innern und Führer des Hauses der Gemeinen. Jetzt pries er sich selbst, einerseits wegen seiner geistigen Festigkeit, weil er, obgleich nun im Amte, fortfahre, an seinen Meinungen über die Appropriationsklausel festzuhalten; andrerseits wegen seiner moralischen Mäßigung, weil er davon abstehe, auf diese Meinungen hin zu handeln. Niemals hat er sie aus Worten in Handlungen übersetzt. Als Premierminister, 1846, siegte seine moralische Mäßigung so weit über seine geistige Festigkeit, daß er auch die "Meinung" verleugnete. Er kenne, rief er aus, keine fataleren <394> Maßregeln als solche, die die Staatskirche in ihrer substantiellen Wurzel, ihren Einnahmen, bedrohten.

Im Februar 1833 denunzierte John Russell im Namen des Reformministeriums die irische Repealagitation.

"Ihr wirklicher Zweck", rief er den Gemeinen zu, sei, "das vereinigte Parlament ohne Umstände über den Haufen zu werfen und an die Stelle von König, Lords und Gemeinen des Vereinigten Königreichs ein Parlament zu setzen, dessen Leiter und Haupt O'Connell wäre."

Im Februar 1834 wurde die Repealagitation abermals in der Thronrede denunziert, und das Reformministerium schlug eine Adresse vor, um

"in der feierlichsten Weise zu erklären, daß es der unwiderrufliche Beschluß des Parlaments sei, die legislative Union der drei Königreiche unverletzt und ungestört aufrechtzuerhalten."

Kaum aber auf die Oppositions-Sandbänke verschlagen, erklärte John Russell:

"Was die Repeal der Union betreffe, so unterliege dieser Gegenstand dem Amendement und der Frage wie jeder andere Akt der Legislatur",

also nicht mehr noch minder als jede Bierbill.

Im März 1846 stürzt John Russell Peels Verwaltung durch eine Koalition mit den Tories, die die Abtrünnigkeit ihres Führers von den Korngesetzen zu züchtigen brannten. Den Vorwand lieh Peels irische "Waffenbill", gegen die Russell, sittlich entrüstet, unbedingten Protest einlegte. Er wird Premier. Sein erster Akt besteht darin, dieselbe "Waffenbill" zu beantragen. Er blamiert sich indes nutzlos. O'Connell hatte eben Monstermeetings gegen Peels Bill heraufbeschworen, er hatte Petitionen von 50.000 Unterschriften zeichnen lassen; er befand sich zu Dublin, von wo er alle Springfedern der Agitation spielen ließ. King Dan (König Dan, der populäre Titel Daniel O'Connells) verlor Reich und Rente, wenn er in diesem Augenblicke als Russells Mitschuldiger erschien. Er gab daher dem kleinen Mann drohend Notiz, seine Waffenbill sofort zurückzuziehen. Russell zog sie zurück. O'Connell, wie er trotz seines geheimen Spiels mit den Whigs meisterhaft verstand, fügte ihrer Niederlage die Demütigung hinzu. Damit kein Zweifel übrigbleibe, auf wessen Geheiß der Rückzug geblasen werde, zeigte er zu Dublin den Repealern in der Conciliation-Hall die Rücknahme der Waffenbill am 17. August an, an demselben Tage, wo John Russell sie dem Hause der Gemeinen anzeigte. 1844 denunzierte Russell den Sir Robert Peel, weil er "Irland mit Truppen gefüllt und das Land nicht regiere, sondern militärisch besetze". <395> 1848 besetzte Russell Irland militärisch, verhing die Hochverratsakte über es, proklamierte die Suspension der Habeaskorpusakte und renommierte mit den "energischen Maßregeln" Clarendons. Auch diese Energie war falscher Vorwand. In Irland standen auf der einen Seite die O'Connelliten und die Pfaffen, im geheimen Einverständnis mit den Whigs; auf der andern Smith O'Brien und seine Anhänger. Letztere waren einfach dupes <Betrogene; Angeführte>, die das Repealspiel für ernst hielten und darum ein spaßhaftes Ende nahmen. Die von Russells Regierung ergriffnen "energischen Maßregeln" und ins Werk gesetzten Brutalitäten waren daher nicht durch die Umstände geboten. Sie bezweckten, statt der Behauptung der englischen Herrschaft in Irland, die Verlängerung des Whig-Regimes in England.

V

["Neue Oder-Zeitung" Nr. 369 vom 10. August 1855]

London, 6. August. Die Korngesetze wurden 1815 in England eingeführt, weil Tories und Whigs übereingekommen waren, ihre Grundrente durch eine Steuer auf die Nation zu erhöhen. Es wurde dies nicht nur dadurch erreicht, daß die Korngesetze - die Gesetze gegen Korneinfuhr vom Ausland - in manchen Jahren die Getreidepreise künstlich steigerten. Die Durchschnittsperiode von 1815-1846 betrachtet, war vielleicht noch wichtiger die Illusion der Pächter, Korngesetze seien imstande, die Getreidepreise unter allen Umständen auf einer a priori bestimmten Höhe zu halten. Diese Illusion wirkte auf die Pachtkontrakte. Um sie beständig aufzufrischen, finden wir das Parlament beständig mit neuen und verbesserten Ausgaben des Korngesetzes von 1815 beschäftigt. Zeigten sich die Kornpreise widerspenstig, fielen sie trotz der Diktate der Korngesetze, so wurden parlamentarische Komitees ernannt, um die Ursachen der "agricultural distress" (der Not in den Agrikulturdistrikten) zu erforschen. Die "agricultural distress" beschränkte sich, soweit sie Gegenstand der Parlamentsuntersuchungen war, in der Tat nur auf das Mißverhältnis zwischen den Preisen, die der Pächter für den Boden dem Grundeigentümer zahlte, und den Preisen, wozu er seine Bodenprodukte dem Publikum verkaufte - auf das Mißverhältnis zwischen Grundrente und Getreidepreisen. Sie war also einfach zu lösen durch Herabsetzung der Grundrente, der Einnahmequelle der Grundaristokratie. Statt <396> dessen zog letztere natürlich vor, auf legislativem Wege die Getreidepreise "herabzusetzen"; ein Korngesetz wurde verdrängt durch ein anderes leicht modifiziertes; die Fehlwirkung ward aus unwesentlichen Details erklärt, die ein neuer Parlamentsakt korrigieren könne. Wenn so der Preis des Getreides unter gewissen Umständen, ward der Preis der Grundrente unter allen Umständen über dem natürlichen Niveau erhalten. Da es sich hier um "die heiligsten Interessen" der Grundaristokratie handelte, um die bare Einnahme, waren ihre beiden Fraktionen, Tories und Whigs, gleich willig, "die Korngesetze" als über ihren Parteikampf erhabene Fixsterne zu verehren. Die Whigs widerstanden sogar der Versuchung, liberale "Ansichten" über diesen Gegenstand zu hegen, um so mehr, als damals die Aussicht fern schien, durch Wiedergewinnung der Erbpacht auf den Regierungsposten allenfallsige Ausfälle in der Grundpacht zu decken. Beide Fraktionen, um sich die Stimme der Finanzaristokratie zu sichern, votierten das Bankgesetz von 1819, wodurch Staatsschulden, die in depreziiertem Gelde kontrahiert waren, in vollgültigem verzinst werden mußten. Die Nation, die vielleicht 50 Pfd.St. geliehen erhalten, hatte 100 wieder zu zahlen. So wurde die Zustimmung der Finanzaristokratie zu den Korngesetzen erhandelt. Fraudulöse Steigerung der Staatsrente für fraudulöse Steigerung der Grundrente - so lautete das Abkommen zwischen Finanzaristokratie und Grundaristokratie. Man wird dann nicht erstaunt sein, wenn Lord John Russell in den Parlamentswahlen von 1835 und 1837 alle Korngesetzreform als schädlich, absurd, unpraktisch und unnötig verketzert. Von Anbeginn seiner ministeriellen Karriere verwarf er jeden solchen Vorschlag, erst vornehm, dann leidenschaftlich. In seiner Verteidigung hoher Kornzölle ließ er Sir Robert Peel weit hinter sich. Die Aussicht auf Hungersnot in den Jahren 1838 und 1839 vermochte weder ihn noch die übrigen Mitglieder des Melbourne-Kabinetts zu erschüttern. Was nicht der Notzustand der Nation, vermochte der Notzustand des Kabinetts. Ein Defizit im Staatsschatze von 7.500.000 Pfd.St. und Palmerstons auswärtige Politik, die einen Krieg mit Frankreich herbeizuführen drohte, veranlaßten das Haus der Gemeinen, auf Peels Antrag ein Mißtrauensvotum über das Melbourne-Kabinett zu verhängen. Dies ereignete sich am 4. Juni 1841. Die Whigs, stets ebenso gierig, nach Stellen zu haschen, als unfähig, sie auszufüllen, und unwillig, sie aufzugeben, versuchten, obgleich vergeblich, ihrem Schicksal durch eine Auflösung des Parlaments zu entrinnen. Da erwachte in John Russells tiefer Seele die Idee, die Anti-Korngesetz-Agitation zu eskamotieren, wie er geholfen hatte, die Reformbewegung zu eskamotieren. Er erklärte sich daher plötzlich zugunsten eines "mäßigen fixen Zolles" statt der gleitenden Zollskala - Freund, wie er <397> ist, von "mäßiger" politischer Keuschheit und von "mäßigen" Reformen. Er entblödete sich nicht, durch die Straßen Londons zu paradieren in einer Prozession der Regierungs-Wahlkandidaten, von Standartenträgern begleitet, die auf ihren Stangen zwei Brote aufgespießt hatten, in schreiendem Kontrast miteinander, das eine ein Zwei-Pence-Brot mit der Überschrift "Peel Laib", und das andere Ein-Shilling-Brot mit der Überschrift "Russell Laib". Die Nation ließ sich indes diesmal nicht täuschen. Sie wußte aus Erfahrung, daß die Whigs Brote versprachen und Steine zahlten. Trotz Russells lächerlichem Faschingszug gab die Neuwahl der Whig-Regierung eine Minorität von 76. Sie mußte endlich ihr Lager aufbrechen. Russell rächte sich an dem schlechten Dienst, den ihm der mäßige fixe Zoll 1841 geleistet, dadurch, daß er im Jahre 1842 Peels "gleitende Skala" ruhig zum Gesetz kristallisieren ließ. Er verachtete nun den "mäßigen fixen Zoll"; er drehte ihm den Rücken; er ließ ihn fallen, ohne ein Wort über ihn fallenzulassen.

Während der Jahre 1841-1845 wuchs die Anti-Corn-Law League zu kolossalen Dimensionen. Der alte Vertrag zwischen Grundaristokratie und Finanzaristokratie sicherte die Korngesetze nicht länger, da die industrielle Bourgeoisie mehr und mehr, statt der Finanzaristokratie, zum leitenden Bestandteil der Mittelklassen geworden war. Für die industrielle Bourgeoisie aber war die Abschaffung der Korngesetze Lebensfrage. Verminderung der Produktionskosten, Erweiterung des auswärtigen Handels, Vermehrung des Profits, Verminderung der Haupteinnahmequelle und darum der Macht der Grundaristokratie, Steigen der eignen politischen Macht - die Korngesetz-Repeal der industriellen Bourgeoisie. Im Herbst 1845 fand sie furchtbare Verbündete in der Kartoffelkrankheit in Irland, der Getreideteuerung in England und einer Mißernte im größten Teil von Europa. Sir Robert Peel, eingeschüchtert von den drohenden Konjunkturen, hielt daher Ende Oktober und in den ersten Wochen des November 1845 eine Reihe von Kabinettssitzungen, worin er die Suspension der Korngesetze vorschlug und selbst auf die Notwendigkeit ihres definitiven Widerrufs anspielte. Ein Verzug in den Entschließungen des Kabinetts ward durch den hartnäckigen Widerstand seines Kollegen Stanley (jetzt Lord Derby) verursacht.

John Russell, damals, zur Zeit der Parlamentsferien auf einer Vergnügungsreise in Edinburgh, erhielt Wind von den Vorgängen in Peels Kabinett. Er beschloß, den durch Stanley verursachten Verzug zu benutzen, Peel in einer populären Position zu antizipieren, sich selbst den Schein zu geben, als habe er Peel bestimmt, und so dessen voraussichtliche Tat allen moralischen Gewichts zu berauben. Demgemäß richtete er den 22. November 1845 von Edinburgh aus an seine Citywähler einen Brief voll ärgerlicher und bös- <398> artiger Anspielungen auf Peel, unter dem Vorwand, die Minister säumten zu lange, zu einem Entschluß über den irischen Notstand zu kommen. Die periodische Hungersnot Irlands in den Jahren 1831, [18]35, [18]37 und [18]39 hatte nie vermocht, Russells und seiner Kollegen Glauben an die Korngesetze zu erschüttern. Aber jetzt war er ganz Feuer. Selbst ein so ungeheurer Unstern wie die Hungersnot zweier Nationen beschwor vor die Augen des kleinen Mannes nichts als Visionen von Mausefallen für den Rivalen "am Posten". In seinem Briefe suchte er das wirkliche Motiv seiner plötzlichen Bekehrung zum Freihandel unter folgendem Armensünderbekenntnis zu verstecken:

"Ich gestehe, daß über den Gegenstand im allgemeinen meine Ansichten im Laufe von 20 Jahren eine große Veränderung erfahren haben. Ich pflegte der Ansicht zu sein, daß Korn eine Ausnahme bilde zu den allgemeinen Regeln der politischen Ökonomie; aber Beobachtung und Erfahrung haben mich überzeugt, daß wir uns jeder Einmischung in die Zufuhr von Nahrungsmitteln zu enthalten haben."

In demselben Brief warf er Peel vor, sich noch nicht in die Zufuhr von Nahrungsmitteln nach Irland eingemischt zu haben. Peel fing den kleinen Mann in seiner eigenen Falle. Er resignierte, hinterließ der Königin aber ein Billett, worin er Russell seine Unterstützung versprach, falls dieser die Abschaffung der Korngesetze durchzuführen übernehme. Die Königin entbot Russell zu sich und forderte ihn zur Bildung eines neuen Kabinetts auf. Er kam, sah - und erklärte sich unfähig selbst mit der Unterstützung seines Rivalen. So hatte er die Sache nicht gemeint. Für ihn war sie nur falscher Vorwand, und man drohte, ihn beim Worte zu nehmen! Peel trat wieder ein und schaffte die Korngesetze ab. Die Tory-Partei ward durch seinen Akt zerbrochen und aufgelöst. Russell verband sich mit ihr, um Peel zu stürzen. Dies seine Ansprüche auf den Titel " Freihandelsminister", womit er noch vor einigen Tagen im Parlament prunkte.

VI

["Neue Oder-Zeitung" Nr. 377 vom 15. August 1855]

London, 12. August. Wir kehren noch einmal zu Lord John Russell zurück, um seine Charakteristik abzuschließen. Im Beginn seiner Laufbahn erwarb er eine Art von Namen auf den Vorwand der Toleranz und am Ende seiner Laufbahn auf den Vorwand der Bigotterie; das eine Mal durch seine Motion für "Repeal der Test- und Korporationsakte", das andere Mal durch seine <399> "Ecclesiastical Titles Bill" (Bill über geistliche Titel). Die Test- und Korporationsakte hinderte Dissenter an der Übernahme von Staatsämtern. Sie war längst toter Buchstabe geworden, als Russell im Jahre 1828 seinen bekannten Repealantrag stellte. Er verteidigte ihn auf den Grund, daß er überzeugt sei, "der Widerruf der Akte werde die Sicherheit der Staatskirche vermehren". Ein gleichzeitiger Schriftsteller berichtet uns: "Niemand war mehr erstaunt über das Durchgehen des Antrags, als der Antragsteller selbst." Das Rätsel löst sich einfach durch die Bemerkung, daß das Tory-Ministerium ein Jahr später (1829) selbst die katholische Emanzipationsbill vorschlug, also durchaus wünschen mußte, vorläufig der "Test- und Korporationsakte" entledigt zu sein. Im übrigen haben die Dissenter nichts von Lord John erhalten außer Versprechen, sooft er sich in der Opposition befand. Im Ministerium widersetzte er sich selbst der Aufhebung der Kirchensteuer (church rates).

Sein Antipapstgeschrei ist indes noch charakteristischer für die Hohlheit des Mannes und die Kleinheit seiner Motive. Wir haben gesehen, daß er in den Jahren 1848 und 1849 die Reformanträge seiner eignen Alliierten durch eine Vereinigung der Whigs mit den Peeliten und Tories niederschlug. So abhängig von der konservativen Opposition, war sein Ministerium sehr hinfällig, schwankend geworden im Jahre 1850, als die päpstliche Bulle zur Errichtung einer römisch-katholischen Hierarchie in England und die Ernennung des Kardinals Wiseman zum Erzbischof von Westminster eine oberflächliche Aufregung unter dem heuchlerischsten und albernsten Teil des englischen Volks hervorrief. Russell, auf jeden Fall, war durch die Schritte des Papstes nicht überrascht. Sein Schwiegervater, Lord Minto, befand sich zu Rom, als die "Römische Zeitung" <"Gazetta di Roma"> 1848 die Ernennung Wisemans veröffentlichte. Ja, wir ersehen aus Kardinal Wisemans "Brief an das englische Volk", daß der Papst schon 1848 dem Lord Minto die Bulle zur Errichtung der Hierarchie in England mitgeteilt hatte. Russell selbst tat einige vorbereitende Schritte, indem er in Irland und den Kolonien die Titel der katholischen Geistlichkeit von Clarendon und Grey offiziell anerkennen ließ. Jetzt jedoch, in Anbetracht der Schwäche seines Kabinetts, beunruhigt von der historischen Erinnerung, daß das Antipapstgeschrei die Whigs 1807 aus der Regierung warf, fürchtend, daß Stanley dem Perceval nachahmen und ihn selbst während der Abwesenheit des Parlaments antizipieren möge, wie er Sir Robert Peel mit der Korngesetz-Repeal zu antizipieren gesucht hatte - von all diesen Ahnungen und Gespenstern verfolgt, sprang der kleine Mann mit einem Salto mortale in zügellose protestantische Leidenschaft. Am <400> 4. November 1850 veröffentlichte er den berüchtigten "Brief an den Bischof von Durham", worin er dem Bischof beteuert:

"Ich stimme mit Ihnen dahin überein, den letzten Angriff des Papstes auf unsern Protestantismus als insolent und heimtückisch zu betrachten, und ich fühle mich daher ebenso entrüstet, wie Sie es nur sein können, über diese Angelegenheit."

Er spricht von "den tätigen Versuchen, die in diesem Moment auf Beschränkung des Geistes und Knechtung der Seele hinarbeiten". Er nennt die katholischen Zeremonien "Mummenschanz des Aberglaubens, auf den die große Masse der Nation mit Verachtung blickt", und er verspricht schließlich dem Bischof, neue Gesetze gegen die päpstliche Usurpation zu veranlassen, sollten die alten unzureichend sein. Derselbe Lord John hatte 1845, damals allerdings außer Amt, erklärt:

"Ich glaube, daß wir jene Klauseln aufheben können, die einen römisch-katholischen Bischof verhindern, sich Titel beizulegen, die Bischöfe der Staatskirche führen. Nichts kann absurder und kindischer sein, als solche Unterscheidungen aufrechtzuerhalten."

1851 brachte er seine Geistliche-Titel-Bill ein zur Behauptung dieser "absurden und kindischen Unterscheidungen". Da er aber während dieses Jahres durch eine Kombination der Irischen Brigade mit Peeliten, Manchestermen usw. geschlagen ward - bei Gelegenheit von Locke Kings Motion für Ausdehnung des Wahlrechts -, verdunstete sein protestantischer Eifer, er versprach eine Abänderung der Bill, die in der Tat totgeboren zur Welt kam.

Wie sein Antipapsteifer falscher Vorwand, so sein Eifer für die Judenemanzipation. Alle Welt weiß, daß seine Jewish Disabilities Bill <Gesetz über die Aufhebung der Rechtsunfähigkeit der Juden> eine jährliche Farce ist - Köder für die Wahlstimmen, worüber der österreichische Baron Rothschild in der City verfügt. Falscher Vorwand seine Antiskiaverei-Deklarationen.

"Ihre Opposition", schreibt ihm Lord Brougham, "gegen alle Anträge zugunsten der Neger und Ihr Widerstand selbst gegen den bloßen Versuch, den neuerrichteten Sklavenhandel zu hemmen, erweiterte den Bruch zwischen Ihnen und dem Lande. Die Einbildung, daß Sie, die Gegner aller Antisklaverei-Motionen im Jahre 1838, die Feinde jeder Einmischung mit den aus Sklavenhaltern bestehenden Assemblées der Kolonien, daß Sie plötzlich sich so sehr in die Neger verliebt, um auf eine Bill zu deren Frommen Ihre Posten im Jahr 1839 zu riskieren, würde eine merkwürdige Anlage zur Selbstprellerei verraten."

Falscher Vorwand seine Gesetzreformen. Als das Parlament 1841 ein Mißtrauensvotum über das Whig-Kabinett verhängte und die bevorstehende <401> Auflösung des Unterhauses wenig Erfolg versprach, versuchte Russell eine Chancery Bill <Gesetz über das Kanzleigericht> durch das Haus zu jagen, um

"eins der drängendsten Übel unseres Systems zu heilen, die Verschleppung in den Courts of Equity <Billigkeitsgerichten für Zivilklagen>, vermittelst der Schöpfung von zwei neuen judges of equity" (Richter, die nicht das strenge Recht, sondern die Billigkeit zur Richtschnur nehmen).

Russell nannte diese seine Bill "eine große Gesetzreformabschlagszahlung". Sein wirklicher Zweck war, zwei Whig-Freunde in die neugeschaffenen Posten zu schmuggeln , vor der voraussichtlichen Bildung eines Tory-Kabinetts. Sir Edward Sugden (jetzt Baron St. Leonards), der ihn durchschaute, stellte das Amendement, daß die Bill erst am 10. Oktober (also nach der Versammlung des neuerwählten Hauses) in Gesetzeskraft treten solle. Obgleich nicht die geringste Änderung im Inhalt der Bill, die Russell für so "dringend" hielt, vorgenommen wurde, zog er sie sofort zurück nach Annahme des Amendements. Sie war eine "Farce" geworden und hatte ihr Salz eingebüßt.

Kolonialreformen, Erziehungsschemata, "Freiheiten der Untertanen", öffentliche Presse und öffentliche Meetings, Kriegsenthusiasmus und Friedenssehnsucht - alles falsche Vorwände für Lord John Russell. Der ganze Mann ist ein falscher Vorwand, sein ganzes Leben eine Lüge, seine ganze Tätigkeit eine fortlaufende Kette kleinlicher Intrigen zur Erreichung schäbiger Zwecke - des Verschlingens öffentlicher Gelder und der Usurpation des bloßen Scheines der Macht. Niemand hat je so schlagend den Bibelspruch bewahrheitet, daß kein Mensch seiner Größe einen Zoll zusetzen kann. Durch Geburt, Verbindungen, gesellschaftliche Zufälle auf ein ungeheures Piedestal gestellt, blieb er stets derselbe Homunkulus - ein Zwerg, tanzend auf der Spitze einer Pyramide. Die Geschichte hat vielleicht nie einen andern Mann zur Schau gestellt - so groß im Kleinsein.


Textvarianten

<1> In der "New-York Daily Tribune" Nr. 4479 vom 28. August folgen hier die Worte: "die jährlich einen Pachtvertrag von 50 Pfd.St. zahlen". <=

<2> In der "New-York Daily Tribune" wird das Ende dieses Satzes so gebracht: " ... in einer Erklärung des Bürgerkrieges gegen Irland, in einer 'brutalen und blutigen Maßregel', der Zwangsbill, der 'Bill über das Tribunal der Roten Röcke', nach der in Irland an Stelle der Richter und Geschworenen Offiziere eingesetzt wurden". <=