Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 373-375
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx/Friedrich Engels

Aus dem Parlamente -
Vom Kriegsschauplatze


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 337 vom 23. Juli 1855]

<373> London, 20. Juli. Die Debatte über Roebucks Antrag ist keineswegs ausgefallen, wie das Ministerium sich geschmeichelt. Noch gestern morgen prophezeite es in seinen halboffiziellen Organen, Roebucks Antrag werde mit 5 gegen 1 Stimme verworfen werden. Gestern nacht schätzte es sich glücklich, die previous question, d.h. die Ablehnung des Hauses, überhaupt über den Antrag zu entscheiden, mit 289 gegen 182 Stimmen durchzusetzen. Dasselbe Haus, das Aberdeen zur Resignation zwang, weil er ein Untersuchungskomitee verweigerte, rettet Palmerston, indem es zum Schlusse über das Urteil seine eigenen Komitees zu kommen verweigert. Die Vertagung des Parlaments vertagt Palmerstons Kabinett bis zur neuen Session. Dann ist sein Lebenstermin abgelaufen. Auf die Sitzung selbst werden wir zurückkommen.

In diesem Augenblick ist ein Stillstand in den Kriegsoperationen in der Krim eingetreten. Keine Sturmversuche mehr, die Kanonen sind beinahe verstummt, und würde nicht das Büchsenfeuer beständig zwischen den zwei Verschanzungslinien gewechselt, schöben die Alliierten ihre Position durch Minieren und Sappen nicht auf den Malachowhügel vor, machten die Russen nicht gelegentlich Ausfälle, so könnte man alle Feindseligkeiten für suspendiert halten.

Es ist dies die Stille, die dem Sturm vorhergeht. In 2-3 Wochen wird ein Kampf, Mann gegen Mann, beginnen, wilder als bei Inkerman, dem Grünen Mamelon oder dem Sturme vom 18. Juni. Der Monat August muß zu einem gewissen Punkte entscheiden: die nun unterwegs begriffenen russischen Streitkräfte werden dann angelangt und die Reihen der Alliierten durch Krankheit gelichtet sein. Der Kampf auf Leben und Tod wird dann beginnen, und die Alliierten werden genug zu tun haben, ihren Grund und Boden auf dem Plateau zu behaupten

Die Einnahme der Südseite von Sewastopol für dieses Jahr ist eine Vorstellung, jetzt selbst von der englischen Presse aufgegeben. Sie sind auf die Hoffnung reduziert, Sewastopol Stück für Stück niederzuwerfen; und wenn <374> sie es durchsetzen, mit derselben Eile vorzugehen wie bisher, wird die Belagerung in ihrer Dauer die von Troja erreichen. Es ist durchaus kein Grund für den Glauben vorhanden, daß sie ihr Werk in beschleunigter Geschwindigkeit vollbringen werden, denn wir sind jetzt so gut wie offiziell unterrichtet, daß das bisher befolgte fehlerhafte System hartnäckig fortgesetzt werden soll. Der Krim-Korrespondent des "Constitutionnel", ein Mann von hohem Range in der französischen Armee (es soll General Regnault de S[ain]t-Jean-d'Angely sein, Kommandant der Garden), hat dem Publikum angekündigt, es könne sich die Mühe sparen, sich in Spekulationen über eine Kampagne im freien Felde und die eventuelle Einschließung der Nordseite von Sewastopol zu ergehen. Unter gegenwärtigen Umständen, sagt er, könne das nicht geschehen ohne Aufhebung der Belagerung und ohne Überlassung des ganzen Plateaus an die Russen. Es sei daher entschieden [worden], so hart als möglich auf die einmal angegriffene Position loszuhämmern, bis zu ihrer völligen Zerstörung. Die Ankündigungen dieses Briefes können als halboffiziell betrachtet werden, da jeder Grund vorhanden ist, zu glauben, nicht nur, daß Bonaparte sie billigt, sondern selbst, daß er jeden Bericht aus dieser Quelle vor dem Drucke revidiert. Regnault ist einer seiner speziellen Günstlinge - der Kriegsminister, der zur Zeit der legislativen Nationalversammlung seine Unterschrift hergab zur Absetzung Changarniers.

Was die Folge von alledem sein muß, ist leicht vorherzusagen. Die russische Armee in und um Sewastopol bestand aus dem 3. und 4. Korps, 2 Divisionen des 5. und 1 des 6. Korps, außer Seesoldaten, Matrosen, lokalen Truppen, Kosaken und Kavallerie, zusammen eine Armee von 180 Bataillons oder 90.000 Mann Infanterie mit 30.000 Mann Artillerie, Kavallerie usw., nebst etwa 40.000 Kranken und Verwundeten. Selbst der französische "Moniteur" schätzt ihre Effektivkraft unter Waffen auf 110.000 Mann. Nun befinden sich das ganze 2. Korps (50 Bataillons, 32 Schwadronen und 96 Kanonen) und zwei Grenadierdivisionen mit einer Division Kavallerie (24 Bataillons, 2 Schwadronen, 72 Kanonen) auf dem Marsch oder schon in der Nähe Sewastopols. Sie repräsentieren eine additionelle Streitkraft von 55.000 Mann Infanterie, 10.000 Kavallerie und Kosaken und 5.000 Artillerie. Die Russen werden so bald eine Armee von mindestens 175.000 Mann konzentriert haben, beträchtlich mehr, als den Alliierten übrigbleiben kann nach ihren jüngsten Verlusten in den Ausfällen und durch Krankheit. Daß die Russen so fähig sein werden, mindestens ihr bisheriges Terrain zu behaupten, ist um so mehr zu erwarten, als sie beständig die durch Anstrengungen erschöpften Truppen der Garnison durch frische ablösen können.

Die Alliierten auf der anderen Seite haben keine Chance, ähnliche Ver- <375> stärkungen zu erhalten. Sie zählen jetzt 21 Divisionen Infanterie (12 französische, 4 englische, 3 türkische, 2 piemontesische) oder ungefähr 190 Bataillons, 3 Divisionen Kavallerie (1 französische, 1 englische, 1 türkische) oder ungefähr 60 Schwadronen und eine entsprechende Zahl von Kanonen; aber da ihre Bataillons und besonders ihre Schwadronen sehr gelichtet sind durch die Verluste der Kampagne, wird ihre Gesamtkraft nicht 110.000 Mann Infanterie, 7.500 Kavallerie und 30.000-35.000 Artillerie, Train und Dienstunfähige überschreiten. Wenn daher die Kräfte der beiden kämpfenden Parteien sich so nahe das Gleichgewicht gehalten vor der Ankunft der russischen Verstärkungen, muß die Waage sich offenbar gegen die Alliierten neigen, sobald jene anlangen. Was bisher nachgeschickt worden ist, sind bloß Detachements von den Depots, um die engagierten Bataillons und Schwadronen wieder auszufüllen, und es kann sich nicht auf viel belaufen, wenn die Berichte der Presse zuverlässig. Unterdes sollen 3 Divisionen nach Marseille und Toulon marschieren, wo sich Dampfboote konzentrieren, während in England die für die Krim bestimmten Regimenter Befehl erhalten haben, sich für unmittelbare Verschiffung bereit zu halten. Letztere werden ungefähr eine Division Infanterie und eine Division Kavallerie zählen. So mögen ungefähr 33.000 Mann Infanterie mit vielleicht 2.500 Kavallerie und Artillerie nach und nach in der Krim anlangen während August und September. Dies hängt jedoch ganz von der Geschwindigkeit ihrer Einschiffung ab. Unter allen Umständen werden die Alliierten sich wieder in numerischer Unterordnung befinden und können wieder auf dem Plateau eingezwängt werden, wo sie den letzten traurigen Winter verkamen.

Ob es den Russen diesmal gelingen wird, sie aus diesem festen Schlupfwinkel zu vertreiben, wagen wir nicht zu entscheiden. Aber ihr eigenes Terrain zu halten, ist offenbar alles, was die Alliierten erwarten können, außer wenn sie Verstärkungen auf gigantischem Maßstab erhielten. So könnte der Krieg reduziert werden auf eine Reihe von Treffen und Handgemengen, ebenso resultatlos wie blutig, worin jede Seite Tag nach Tag frische Truppenkörper vorschicken wird, um dem Feind im Handgemenge zu begegnen, sei es auf den Wällen der Stadt, den Brustwehren der Laufgräben oder den eskarpierten Anhöhen um Inkerman und Balaklawa. Von allen Chancen ist es die wahrscheinlichste, daß die Sache sich so verlaufen wird. Es kann keine Lage feindlicher Armeen ersonnen werden, wo größerer Blutverlust zu unwichtigern Resultaten führt, als von solchen Gefechten zu erwarten. Und dies ist zuwege gebracht worden durch die Mittelmäßigkeit der Obergenerale auf beiden Seiten, durch ohnmächtigen Dilettantismus zu Paris und absichtlichen Verrat zu London.