Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 365-367
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Aus dem Parlamente


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 335 vom 21. Juli 1855]

<365> London, 18. Juli. Auf die stürmische, lärmende, geräuschvolle Nachtsitzung des Unterhauses vom 16. Juli folgte notwendig eine Reaktion von Mattigkeit, Abspannung und Erschlaffung. Das Ministerium, mit den Geheimnissen parlamentarischer Pathologie vertraut, rechnete auf diese Verstimmung, um jede Abstimmung über Roebucks Motion zu verhindern, und nicht nur die Abstimmung, sondern die Debatte selbst. Kein Mitglied des Ministeriums sprach vor Mitternacht, kurz vor Schluß der Sitzung, obgleich einen Augenblick eine Pause im Hause eintrat, die die Minister zu Erklärungen einlud, und trotz wiederholter Aufforderung von allen Seiten des Hauses. Das Kabinett verharrte in stoischem Schweigen und überließ es den Repräsentanten des Marquis von Exeter, dem Repräsentanten des Lord Ward und ähnlichen Stellvertretern von Pairs unter den Gemeinen, das ehrenwerte Haus in jenen langweiligen Schlamm zu versenken, den Dante in seinem "Inferno" zur ewigen Residenz der Indolenten macht. Es lagen zwei Amendements zu Roebucks Antrag vor, das Amendement General Peels und das des Obersten Adair, beide von Kriegern gestellt, beide in Flankenmärsche verlaufend. Peels Amendement verlangt, daß das Haus die "vorläufige Frage" votiere, d.h. weder für noch gegen den Hauptantrag, jede Antwort auf Roebucks Frage ablehnend. Oberst Adair verlangt Billigung der "Politik, die die Expedition nach Sewastopol entworfen" und Aufforderung, "in dieser Politik auszuharren". Er pariert also Roebucks Zensur wegen der schlechten Ausführung mit einem Lobe für den guten Ursprung der Krimexpedition.

Das Kabinett enthielt sich jeder Erklärung darüber, welches der Amendements es zum ministeriellen erhebe. Es schien dem Hause den Puls fühlen zu wollen, um sich entweder mit General Peel in eine Frage ohne Antwort <366> oder mit Oberst Adair in eine Antwort ohne Frage zu flüchten. Endlich schien das Haus in jenen Halbschlaf versenkt, dem Palmerston auflauerte. Nun sandte er das unbedeutendste Mitglied des Kabinetts vor, Sir Charles Wood, der Peels Amendement für das ministerielle erklärte. Palmerston, unterstützt von dem Schrei: "Abstimmung! Abstimmung!" auf den ihm befreundeten Banken, erhob sich und "hoffte, daß das Haus sofort zur Entscheidung kommen werde". Er glaubte Roebuck geburkt <(von: to burk - unterdrücken) unterdrückt> und selbst der Ehre einer "großen Debatte", eines parlamentarischen Turniers beraubt zu haben. Aber nicht nur Disraeli widersetzte sich der Abstimmung. Bright, mit jenem massiven Ernst, der ihn auszeichnet, erhob sich:

"Die Regierung habe offenbar gewünscht, die vorliegende Frage wegzueskamotieren und sich darum bis Mitternacht jeder Erklärung enthalten. Der Gegenstand sei der wichtigste, der je dem Hause der Gemeinen vorgelegen. Wenn die Debatte eine ganze Woche währe, könne das nur zum Vorteil des Landes gereichen."

Palmerston, so gezwungen, die Vertagung der Debatte anzunehmen, mußte seinen ursprünglichen Feldzugsplan aufgeben. Er hat eine Niederlage erlebt.

Roebucks Rede hatte das große Verdienst der Kürze. Einfach und klar resümierte er, nicht als Advokat, sondern als Richter, wie ihm als Präsidenten des Untersuchungskomitees geziemte, die Motive seines Urteilsspruchs. Er hatte offenbar mit derselben Schwierigkeit zu kämpfen, die der alliierten Flotte das Einlaufen in den Hafen von Sewastopol verbietet - mit den versunkenen Schiffen, den Aberdeens, Herberts, Gladstones, Grahams etc. Nur über sie weg konnte er zu Palmerston und den anderen überlebenden Mitgliedern des Koalitionskabinetts gelangen. Sie versperrten den Zugang zu dem jetzigen Kabinett. Roebuck suchte sich ihrer mit Komplimenten zu erledigen. Newcastle und Herbert seien ihres Amtseifers wegen zu beloben, ebenso Graham. Was sie im übrigen gesündigt aus mangelnder Einsicht, sei durch ihre Verjagung aus Downing Street gezüchtigt. Es handelt sich nur darum, die unbestraften Sünder heimzusuchen. Das sei die eigentliche Tendenz seines Antrages. Palmerston speziell griff er an, nicht nur als Mitschuldigen, sondern im besonderen als Verwalter der Miliz. Roebuck, um seinen Antrag in die traditionell parlamentarischen Schranken einzuzwängen, brach ihm offenbar die Pointe ab. Die Argumente auf seiten der ministeriellen Sekundanten waren so schwächlichen Gehalts, daß die einschläfernde Form, worin sie entwickelt wurden, förmlich wohltuend wirkte. Die Zeugenaussagen sind unvollständig, riefen die einen. Ihr bedroht uns mit Ostrazismus, <367> die anderen. Die Sache ist schon lange her, meinte Lord Cecil. Warum nicht nachträglich Sir R[obert] Peel verdammen? Jedes Mitglied des Kabinetts ist im allgemeinen für die Schritte des Kabinetts verantwortlich, aber keiner im besonderen. So der "liberale" Phillimore. Ihr gefährdet die französische Allianz, ihr konstituiert euch als Jury über den Kaiser der Franzosen! So Lowe (von der "Times") und in seinem Gefolge Sir James Graham. Graham, als der Mann des reinen Gewissens, erklärt sich selbst unzufrieden mit General Peels reiner Negative. Er besteht auf einem "Schuldig" oder "Unschuldig" des Hauses. Er begnügt sich nicht mit dem "not proven" (nicht bewiesen), womit schottische Gerichtshöfe zweideutige Kriminalfälle beseitigen. Wollt ihr in der Tat den überlebten und unparlamentarischen "Anklagezustand" (impeachment) wiederherstellen? Die Presse, die öffentliche Meinung, ist an allem schuld. Sie zwang die Minister zur Expedition, zur ungelegenen Zeit, mit unzureichenden Mitteln. Wenn ihr das Ministerium verurteilt, so verurteilt das Haus der Gemeinen, das hinter ihm stand! Endlich Sir Charles Woods Apologie. Wenn Roebuck selbst den Newcastle und Herbert und Graham entschuldigt, wie kann er uns anschuldigen? Wir waren nichts, und wir sind verantwortlich für nichts. So Wood in seinem "nichts durchbohrenden Gefühl".