Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 362-364
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961
["Neue Oder-Zeitung" Nr. 333 vom 20. Juli 1855]
<362> London, 17. Juli. Russells Entlassung, freiwillig oder gezwungen, das pariert Bulwers Antrag, wie Bulwer den Antrag Roebucks pariert hat. Diese Ansicht, die wir in unserer Korrespondenz vom 11. Juli <Siehe vorl. Band, S. 352/353> aussprachen, ist durch die gestrige Unterhaussitzung vollständig bestätigt worden. Es ist ein altes Whig-Axiom, daß "Parteien gleich Schnecken sind, bei denen der Schwanz den Kopf bewegt". Das jetzige Whig-Kabinett ist aber vielmehr ein Polypenkabinett; es scheint zu gedeihen durch Amputation. Es überlebt den Verlust seiner Glieder, seines Kopfes, jedes Dings, nur nicht den seines Schweifes. Russell war zwar nicht das Haupt des Kabinetts, aber er war der Kopf der Partei, die das Kabinett bildet und von ihm repräsentiert wird. Bouverie, der Vizepräsident des Board of Trade <Handels- und Verkehrsministerium>, repräsentiert den Schweif des Whigpolyps. Er entdeckte, daß der Whig-Körper geköpft werden müsse, um den Whig-Rumpf am Leben zu erhalten, und teilte diese Entdeckung Palmerston mit im Namen und im Auftrage des Whig-Schweifes. Russell versicherte diesem Schweif gestern seine "Verachtung". Disraeli quälte Bouverie mit einer "Physiologie der Freundschaft" und einer Naturbeschreibung der verschiedenen Arten, worin das Gattungswesen, bekannt unter dem Namen "Freund", sich absonderte. Bouveries Rechtfertigungsversuch endlich, er und der Schweif hätten Russell abgestoßen, um Russell zu retten, vollendet das Genrebild dieser Partei von Stellenjägern.
Wenn so der naturgemäße Kopf der Whig-Partei amputiert ist, ist ihr usurpiertes Haupt, Lord Palmerston, desto fester an den Rumpf angewachsen. Nach Aberdeens und Newcastles Sturz benutzte er Gladstone, Graham und Herbert, um die Erbschaft des Koalitionskabinetts anzutreten. Nach Glad- <363> stones, Grahams und Herberts Austritt benutzte er Lord John Russell, um ein reines Whig-Kabinett zu bilden. Schließlich benutzt er den Whig-Schweif, um Russell zu eskamotieren und so Alleinherrscher im Kabinett zu werden. Alle diese Metamorphosen waren ebensoviel Stufen zur Bildung eines reinen Palmerston-Kabinetts. Wir ersahen aus Russells Erklärungen, daß er Palmerston wiederholt seine Resignation antrug, aber jedesmal von ihm überredet wurde, sie zurückzunehmen. Ganz in derselben Weise überredete Palmerston das Aberdeen-Kabinett, Roebucks Untersuchungskomitee zu widerstehen bis aufs äußerste. Beidemal mit demselben Erfolg und zu demselben Zwecke.
Bulwers Antrag knüpfte er so direkt an Russell an, daß er von selbst ins Wasser fiel, sobald das Corpus delicti, Russell, aus dem Kabinett verschwand. Bulwer war daher gezwungen, zu erklären, er ziehe seinen Antrag zurück. Er konnte indes nicht der Versuchung widerstehen, die Rede zu halten, die seinen Antrag begründen sollte. Er vergaß, daß der Antrag fehlte, der seine Rede begründete. Palmerston benutzte diese unglückliche Situation. Er warf sich sofort in Gladiatorenstellung, nachdem der Kampf abgesagt war. Er wurde ungezogen, polternd, renommierend, zog sich aber dadurch eine Züchtigung von der Hand Disraelis zu, die, wie sein Mienenspiel zeigte, selbst ihn, den vollendeten Komödianten, die gewohnte zynische Fassung verlieren ließ. Das Wichtigste in Disraelis Replik war jedoch folgende Erklärung:
"Ich weiß, daß die Ansichten, die Lord Russell von Wien heimbrachte, günstig aufgenommen wurden, nicht nur von einer Majorität, sondern von der Gesamtheit seiner Kollegen, und daß nur Umstände, die sie nicht antizipiert hatten, die herzliche und einstimmige Annahme des Plans des edlen Lords verhinderten. Ich mache diese Erklärung nicht ohne genügende Autorität. Ich mache sie mit derselben Überzeugung, womit ich 6 Wochen früher von der zweideutigen Sprache und dem ungewissen Betragen der Regierung sprach, deren Richtigkeit nachfolgende Ereignisse bewiesen haben. Ich mache sie mit der Überzeugung, daß selbst vor dem Schlusse dieser Session der Beweis für diese Behauptung sich in den Händen des Hauses befinden wird."
Die "Umstände", worauf Disraeli eben anspielt, waren, wie er im Verlauf seiner Rede erklärt, "die Schwierigkeiten, die von französischer Seite gegenübergestellt wurden". Disraeli deutet an, daß die für parlamentarischen Gebrauch bestimmte Korrespondenz Clarendons im Widerspruch steht mit den geheimen Instruktionen des Ministeriums. Er schloß seine Rede mit folgenden Worten:
"Ein Glaube existiert im Lande, daß Schuld in der Leitung unserer Angelegenheiten vorherrscht. Ein auswärtiges Dokument erscheint" (Buols Rundschreiben), "die <364> Aufregung im Volke wächst, es denkt, es spricht, seine Repräsentanten im Hause stellen Fragen. Was geschieht? Der Hervorragendste eurer Staatsleute wagt nicht der Kontroverse zu begegnen, die solche Fragen aufwerfen. Er verschwindet in mysteriöser Weise. Aber wer wagt ihr zu begegnen? Der erste Minister der Krone, der das Haus heute nacht angeredet hat in Akzenten und in einer Sprache, die durchaus seiner Stellung und der Veranlassung unwürdig, die mich überzeugt haben, daß, wenn die Ehre und Interessen des Landes länger seiner Leitung anvertraut bleiben, es nur geschieht, um die erstere zu degradieren und die letzteren zu verraten."
Roebuck überbot Disraeli in Heftigkeit der Sprache. "Ich verlange zu Wissen, wer nun die Verräter im Kabinett sind?" Erst Aberdeen und Newcastle. Dann Graham und Gladstone und Herbert. Dann Russell. Wer ist der sequens <folgende>?
Unterdes ist die Stellung des Mannes, der die Koalition im geheimen beherrscht hat, wie er das Ministerium jetzt offiziell beherrscht, ziemlich gesichert. Sollte vor Schluß der Session noch irgendein Mißtrauensvotum passieren, was nicht wahrscheinlich, so löst er das Parlament auf. Unter allen Umständen hat er sechs Monate vor sich, um die auswärtige Politik Englands unumschränkt zu leiten, nicht einmal belästigt von dem Geräusch und den Scheingefechten des Unterhauses.