Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 358-361
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx/Friedrich Engels

Russells Resignation -
Über die Angelegenheiten in der Krim


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 327 vom 17. Juli 1855]

<358> London, den 14. Juli. In unserer vorletzten Korrespondenz <Siehe vorl. Band, S. 352/353> behandelten wir Lord John Russells Resignation, freiwillig oder gezwungen, als ein Fait accompli. Sie ist gestern nachmittag erfolgt, und zwar ist es eine synthetische Resignation, freiwillig und gezwungen zugleich. Palmerston nämlich trieb den stellenhungrigsten Teil der Whigs, unter der Führung Bouveries, zu einer subalternen Emeute. Sie erklärten, für Bulwers Antrag stimmen zu müssen, falls Lord John nicht resigniere. Dem war nicht zu widerstehen. Nicht zufrieden mit dieser Hochtat, sammelte der treulose Whig-Mob im Lobby <Vorhalle, Foyer> des Unterhauses Unterschriften für eine Petition an Palmerston, er solle die Königin bestimmen, Russells schon eingereichte Resignation zu akzeptieren. Russell schöpft aus diesen niedrigen Manövern jedenfalls eine Genugtuung - eine Partei nach seinem Vorbilde geschaffen zu haben.

Die Resignation des Mannes, der, wie Urquhart sagt, "seine Hände hinter dem Rücken zu halten pflegt, um sich selbst einen moralischen Halt zu geben", würde kaum einen Einfluß auf die Fortdauer des Kabinetts ausüben, griffe die Majorität des Unterhauses nicht gierig nach jedem Vorwand, der ihr erlaubt, das Schicksal der Auflösung aufzuschieben. Und Auflösung des Hauses ist unzertrennlich von der Annahme des Bulwerschen Antrages. Bliebe Palmerston trotz des Mißtrauensvotums, so müßte er auflösen; folgte ihm Derby nach, so müßte der ebenfalls auflösen. Das Haus scheint kaum geneigt, sich auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern.

Sir George Grey hat eine Kommission zur Untersuchung der Polizeibrutalitäten niedergesetzt. Sie besteht aus den Recorders <höchsten Kriminalrichtern> von London, Liverpool und Manchester und wird nächsten Dienstag ihre Sitzung eröffnen.

<359> Wenn Zeit Geld ist im Handel, ist Zeit Sieg im Kriege. Den günstigen Augenblick entschlüpfen lassen, den Augenblick, wenn eine überlegene Macht auf den Feind geworfen werden kann, ist der größte Fehler, der in der Kriegführung möglich. Der Fehler wird verdoppelt, wenn nicht in der Defensive begangen, wo die Folgen der Vernachlässigung wieder gutzumachen, sondern in der Offensive, in einem Invasionskriege, wo solche Unaufmerksamkeit den Verlust der Armee nach sich ziehen mag. Dies alles sind Gemeinplätze, von denen jeder Fähndrich weiß, daß sie sich von selbst verstehen. Und dennoch wird gegen keine andere Regel der Strategie oder Taktik so oft gesündigt, und es scheint, als ob General Pélissier, der stürmische Mann der Tat, der "Marschall Vorwärts" der Krimarmee, dazu berufen sei, an seiner Person diese gemeinplätzliche Vernachlässigung von Gemeinplätzen zu veranschaulichen.

Der Weg zu Sewastopol führt über Inkerman nach der Nordseite der Festung. Pélissier und sein Stab wissen das besser wie irgend jemand. Aber um die Nordseite zu gewinnen, muß die alliierte Armee mit ihrer Hauptkraft ins Feld rücken, die Russen schlagen, die Nordseite einschließen und ein Korps detachieren, um die russische Feldarmee sich fernzuhalten. Der günstige Augenblick hierzu war gekommen, als das sardinische Korps und die Türken unter Omer Pascha anlangten. Die Alliierten waren damals bedeutend stärker als die Russen. Aber nichts der Art geschah. Die Expedition nach Kertsch und dem Asowschen Meere ward unternommen und ein Sturm nach dem andern versucht. Die Feldoperationen beschränkten sich auf Rekognoszierungen und eine Ausdehnung des Lagers bis zur Öffnung in das Tal von Baidar. Jetzt endlich wird der angebliche Grund dieser Untätigkeit verraten: es fehle an Transportmitteln, und nach fünfzehnmonatlicher Kampagne seien die Alliierten so festgeschmiedet an die See, an Kamysch und Balaklawa, wie je zuvor! Das ist in der Tat unübertrefflich. Die Krim ist kein wüstes Eiland irgendwo am Südpol. Sie ist ein Land, dessen Nahrungsquellen sicher erschöpft werden können, das aber stets fähig bleibt, eine Masse von Viehfutter, Zugtieren und Karren zu liefern, wenn Geschick und Kühnheit vorhanden sind, sie zu nehmen. Ängstliche und träge Bewegungen vor- und rückwärts in dem Umkreis von einigen englischen Meilen um die Tschornaja sind natürlich nicht die Mittel, ihrer habhaft zu werden. Aber selbst, wenn wir die Kamele, Ponys und Arbas <Karren> der Krim ganz außer acht lassen, bleibt eine Fülle von Transportmitteln an den europäischen und asiatischen Küsten des Schwarzen Meers, Dampfschiffen in zweitägiger Fahrt <360> zugänglich. Warum werden sie nicht requiriert für den Dienst der Alliierten?<1> Die Russen haben ihnen in der Tat hinreichende Lektionen gegeben, wie sie agieren müßten. Das 3., 4. und 5. Armeekorps nebst verschiedenen Reservedivisionen wurden nach der Krim transportiert zu einer Zeit, wo die Alliierten daran verzweifelten, Proviant von Balaklawa nach den Laufgräben zu befördern. Die Truppen wurden zum Teil auf Wagen über die Steppen gefahren, und der Mangel an Nahrungsmitteln scheint ein schreiender unter ihnen gewesen zu sein. Und doch ist das Land um Perekop in einem Halbzirkel von 200 Meilen nur dünn bewohnt. Aber die Hilfsquellen der entfernteren Provinzen wurden in Kontribution gesetzt, und es ist sicher schwerer, Wagen von Jekaterinoslaw, Poltawa, Charkow etc. den Russen nach der Krim zu schicken, als Transportmittel von Anatolien und Rumelien für die Alliierten in der Krim zu beschaffen. Jedenfalls ließ man die Eroberung der Krim bis nach Simferopol unter dem Vorwand mangelnder Transportmittel sich entschlüpfen. Jetzt stehen die Sachen andere. Die Russen haben eine Reservearmee für die Krim zwischen Odessa und Cherson gebildet. Die Stärke dieser Armee können wir nur nach den Detachierungen von der Westarmee berechnen - bestehend aus dem ganzen 2. Armeekorps und zwei Divisionen Grenadiere. Dies macht zusammen 5 Divisionen Infanterie (82 Bataillons), 1 Division Kavallerie (32 Schwadronen) und 80 Kanonen. Infanterie und Kavalleriereserven kommen hinzu. Mit Berechnung aller Verluste während des Marsches kann daher die zwischen Odessa und Perekop versammelte und für die Krim bestimmte Armee auf ungefähr 70.000 bis 80.000 Mann angeschlagen werden. Die Avantgarden ihrer Kolonnen müssen <361> um diese Zeit schon Perekop passiert haben, und vor Ende Juli werden sie den Alliierten fühlbar werden.

Was haben die Alliierten nun diesen Verstärkungen entgegenzusetzen? Ihre Reihen werden wieder gelichtet von Cholera und Fieber nicht minder als durch die verschiedenen Sturmversuche. Die britischen Verstärkungen kommen träg heran - sehr wenige Regimenter segeln in der Tat ab. Die 13.000 Mann, die wir vor einiger Zeit abreisen ließen <Siehe vorl. Band; S. 320>, weisen sich als ministerieller Puff aus. Die französische Regierung ihrerseits erklärt, sie beabsichtige keine frischen Divisionen zu versenden, sondern nur Detachements von den Depots, um die auf dem Kriegsschauplatz verursachten Lücken auszufüllen. Kommen diese Verstärkungen rechtzeitig an, so reichen sie kaum hin, die alliierte Armee auf die Stärke zu bringen, die sie im Juni besaß, d.h. auf 200.000 Mann, Türken und Sardinier eingeschlossen. Wahrscheinlich bringen sie es auf nicht mehr als 180.000 Mann, denen Anfang August mindestens 200.000 Russen gegenüberstehen werden, in guten Positionen, im Kommando des Landes in ihrem Rücken und im Besitze der Südseite von Sewastopol als eines Brückenkopfes. Würde die alliierte Armee unter diesen Umständen wieder auf das enge Plateau hinter der Tschornaja eingezwängt, so müßte letzteres sich unter der Wucht einer solchen Menschenmasse in einen Kirchhof verwandeln.<2>

Noch ist die Zeit für Ergreifung des Feldes nicht verloren. Der beste Moment ist zwar vorüber, aber trotzdem würde ein kühnes Vorrücken selbst jetzt noch der alliierten Armee einen weiteren Existenzraum sichern. Aber es scheint nicht, als ob sie diese Chance zu benutzen dächten.

Zur Rechtfertigung Pélissiers mag schließlich angeführt werden, daß die öffentliche Meinung hier wie zu Paris in der Einmischung Louis Bonapartes, des Generals aus der Ferne, den Erklärungsgrund aller Misere des zweiten Krimfeldzugs sucht und findet.<3>


Textvarianten

<1> Die "New-York Daily Tribune" Nr. 4452 vom 27. Juli 1855 bringt an Stelle dieses Satzes folgenden Text: "Warum werden sie nicht für den Dienst der Alliierten gepreßt? Wir sagen gepreßt, denn das Pressen, allgemein Requirierung genannt, ist die eigentliche Art, sie zu erlangen. Spanische Maultiertreiber und bulgarische Arbeiter zu einem hohen Preis zu beschäftigen, geht nicht an, und in einem Lande wie die Türkei schon gar nicht. Ein Regiment Kavallerie, das die Küsten Anatoliens säubert, würde sehr bald Hunderte von Fahrzeugen und Tausende von Tieren mit der notwendigen Fourage zusammenbringen. Der Krieg wird wegen der Türken fortgesetzt, und Transportmittel liefern ist das mindeste, was man von ihnen verlangen kann. In jedem kontinentalen Krieg erwartet man das gleiche von dem Land, in dem die Armeen operieren. Mit den Türken delikater umzugehen ist doppelt absurd; wenn die Türken nicht für ihre Alliierten zu arbeiten haben, werden sie für ihre Paschas arbeiten, die sie viel schlechter behandeln. Das mag ihnen nicht gefallen, aber es gefällt ihnen auch nicht, sich für ihre Paschas abzuplacken, und wenn sie sich nicht der Disziplin und der Ordnung fügen werden, so wird eine kleine Anwendung des Kriegsrechts sie bald auf die Beine bringen, da die Paschas sie immer unter einem ähnlichen Recht halten. Es ist vollkommen lächerlich, daß die alliierten Generale in der Reichweite solcher Ressourcen noch immer darüber klagen, daß sie sich aus Mangel an Transportmitteln nicht fortbewegen können." <=

<2> Die "New-York Daily Tribune" bringt an Stelle dieses Satzes folgenden Text: "Dann stehen die Chancen so, daß die Alliierten auf das Plateau hinter der Tschornaja zurückgetrieben werden, unfähig, sich vor- oder rückwärts zu bewegen und mit einer so zahlreichen Armee, daß sie dieses enge Stück Boden in eine Brutstätte für Krankheiten verwandeln würden. Und dann wird Pélissier seinen Mangel an Energie und Entschiedenheit in bezug auf den Vormarsch ins Feld bereuen und seinen Überschuß an Energie in bezug auf die Erstürmung der Festung." <=

<3> Die "New-York Daily Tribune" bringt an Stelle dieses Satzes den Absatz: "Zur Rechtfertigung Pélissiers muß jedoch angeführt werden. daß die öffentliche Meinung in Paris und allgemein in Europa die Hauptschuld Louis Bonaparte zur Last legt. Dieser unglückselige Möchtegern-General soll sich in alles und jedes eingemischt haben. Die Angelegenheit ist noch nicht ganz klar, aber in Kürze muß die Art der Einmischung dieses ehrgeizigen Abenteurers in die Krimschen militärischen Operationen geklärt sein, und wir werden dann wissen, wo die Schuld für diese ungeheuren Fehler zu suchen ist." <=