Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 354-357
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961
["Neue Oder-Zeitung" Nr. 325 vom 16. Juli 1855]
<354> London, 13. Juli. In den Geheimnissen der Jurisprudenz Uneingeweihte begreifen schwer, wie in dem einfachsten Rechtshandel unerwartet Rechtsfragen auftauchen, die nicht der Natur des Rechtshandels, sondern den Vorschriften und Formeln der Prozeßordnung ihr Dasein verdanken. Die Handhabung dieser Rechtszeremonien macht den Advokaten, wie die Handhabung der Kirchenzeremonien den Brahminen macht. Wie in der Fortentwickelung der Religion, so wird in der Fortentwickelung des Rechts die Form zum Inhalt. Was aber die Prozeßordnung für Gerichtshöfe, das ist die Tagesordnung und das Reglement für gesetzgebende Körper. Die Geschichte der agrarischen Gesetze beweist, daß die alten römischen Oligarchen, die Erfinder der Schikane im Rechtsverfahren, auch zuerst in die Gesetzgebung die Prozedur-Schikane einführten. Nach beiden Richtungen sind sie von England überboten worden. Die technischen Schwierigkeiten, einen Antrag auf die Tagesordnung zu bringen, die verschiedenen Metamorphosen, die eine Bill durchlaufen muß, um sich in ein Gesetz zu verwandeln; die Formeln, die dem Gegner eines Antrages oder einer Bill erlauben, den einen nicht in das Haus herein- und die andere nicht aus dem Hause herauszulassen, dies alles bildet ein unerschöpfliches Arsenal parlamentarischer Schikane, Rabulisterei und Taktik. Vor Palmerston jedoch hat kein anderer englischer Minister dem Hause der Gemeinen so völlig Aussehn, Ton und Charakter einer Court of Chancery verliehen. Wo die Diplomatie nicht ausreicht, flüchtet er zur Schikane. Unter seiner Hand verwandelt sich jede Debatte über einen mißliebigen Antrag in eine vorläufige Debatte über den Tag, wann die Debatte wirklich stattfinden und der Kasus plädiert werden soll. So mit Milner Gibsons Motion, so mit Layards Motion, so jetzt mit der Motion Bulwers. Bei der überfüllten Tages- <355> ordnung am Schlusse der Session <In der "Neuen Oder-Zeitung": Motion> wußte Bulwer seinen Antrag nur vorzubringen an einem Tage, wo sich das Haus in ein Committee of Supply verwandelt, d.h. wo das Ministerium Geldforderungen an das Haus der Gemeinen stellt. Freitag ist gewöhnlich für dies Geschäft bestimmt. Es hängt indes natürlich vom Ministerium ab, wann es Geld von den Gemeinen verlangt, und daher, wann das Haus sich in ein Committee of Supply verwandelt. Palmerston erklärte Bulwer sofort, er werde diesen Freitag nicht in Supply gehn, wie der technische Ausdruck ist, sondern mit der Bill über die beschränkte Verantwortlichkeit in Handelskompanien voranfahren. Bulwer möge sich selbst "seinen Tag" suchen. Disraeli zeigte daher vergangenen Dienstag an, er werde am nächsten Donnerstag (gestern) an das Haus appellieren, um diese Schikane zu beseitigen. Palmerston kam ihm zuvor. Er erhob sich in der gestrigen Sitzung und erklärte unter allgemeinem Gelächter des Hauses, es sei sicher nicht sein Zweck gewesen, die Debatte über Bulwers Mißtrauensvotum zu verzögern und das ehrenwerte Haus durch technische Schwierigkeiten an der Fällung seines Urteils zu verhindern. Aber die nachträglichen Aktenstücke über die Wiener Konferenz hätten trotz aller Anstrengung vor dem morgigen Tage den Mitgliedern des Hauses nicht vorgelegt werden können, und wie sollten sie ein Urteil fällen ohne Einsicht in die Prozeßakten? Er sei bereit, Montag für die Diskussion des Bulwerschen Antrags einzuräumen. Disraeli hob hervor, daß "die nachträglichen Aktenstücke" mit Bulwers Antrag durchaus nicht zusammenhingen. Die Bill über die beschränkte Verantwortlichkeit in Handelskompanien sei in ihrer Art ganz wichtig. Was aber die Nation jetzt zu verlangen wisse, sei:
"ob das Kabinett solidarisch für seine Akte verantwortlich sei oder ob auch hier das Prinzip der beschränkten Verantwortlichkeit gelte? Sie wolle vor allem die Bedingungen kennen, unter denen die Associés der Firma von Downing Street ihr Geschäft führten?"
Bulwer erklärte, Montag als Tag der Debatte anzunehmen. Russell seinerseits benutzte diesen Zwischenvorfall zu einem vergeblichen Versuch, den Sinn seiner Erklärung vom letzten Freitag abzuschwächen und zu verdrehen. Aber die zweite, verbesserte Ausgabe kommt zu spät, wie die heutige "Times" schlagend nachweist. Die "Times" bietet überhaupt seit mehreren Tagen alle Künste auf, um das Palmerston-Kabinett auf Kosten Russells zu retten, hierin ausdauernd unterstützt von dem einfältigen "Morning Advertiser", der jedesmal seinen ganzen Glauben an Palmerston wiedergewinnt, sooft das Parlament ihn zu verlieren droht. Palmerston hat unterdes einige Tage <356> Frist zu einem Manöver gewonnen. Wie er jeden solchen Tag ausbeutet, bewies der irische row <Prügelei>, der gestern im Unterhause vorfiel.
Seit zwei Jahren treiben sich bekanntlich 3 Bills durchs Parlament, die die Verhältnisse zwischen irischen Grundherren und Pächtern regulieren sollen. Eine dieser Bills bestimmt die Entschädigung, die der Pächter, falls ihm der Grundherr aufkündigt, für die auf dem Grund und Boden angebrachten Verbesserungen zu beanspruchen berechtigt sein soll. Bisher dienten die von irischen Pächtern (fast alle Zeitpächter für ein Jahr) angebrachten Verbesserungen des Bodens nur dazu, den Grundherrn zu höhern Rentforderungen nach Ablauf der Pacht zu befähigen. Der Pächter verliert so entweder die Farm, wenn er den Kontrakt nicht zu ungünstigern Bedingungen erneuern will, und mit der Farm sein in den Verbesserungen angelegtes Kapital, oder er ist gezwungen, für die mit seinem Kapital gemachten Verbesserungen dem Landlord Zinsen zu zahlen über die ursprüngliche Rente hinaus. Die Unterstützung der oben erwähnten Bills war eine der Bedingungen, die dem Koalitionsministerium die Stimmen der Irischen Brigade erkaufte. Sie passierten daher 1854 im Unterhause, wurden aber im Oberhause, unter geheimem Mitwirken der Minister, für die folgende Session (von 1855) vertagt, dann so umgemodelt, daß ihre Pointe abgebrochen war, und in dieser verstümmelten Form ins Unterhaus zurückgeschickt. Hier ward vergangenen Donnerstag die Hauptklausel der Entschädigungsbill auf dem Altar des Grundeigentums geopfert, und die Irländer fanden zu ihrer Verwunderung, daß teils dem Ministerium angehörige, teils direkt mit ihm verbundene Stimmen den Ausschlag gegen sie gegeben hatten. Serjeant <hoher Anwalt des gemeinen Rechts> Shees wütender Ausfall auf Palmerston drohte einen Riot im "irischen Viertel" des Parlaments, dessen Folgen gerade in diesem Augenblick bedenklich. Palmerston vermittelt daher durch Sadleir, Exmitglied der Koalition und Makler der Irischen Brigade, und veranlaßt eine Deputation von 18 irischen Parlamentlern, ihm vorgestern ihre Aufwartung zu machen mit der Anfrage, ob er seinen Einfluß aufbieten wolle, das Parlamentsvotum rückgängig zu machen und die Klausel bei einer neuen Abstimmung durchs Haus zu bringen? Er erklärte sich natürlich zu allem bereit, um die irischen Stimmen gegen das Mißtrauensvotum zu sichern. Die vorzeitige Explosion dieser Intrige im Unterhaus gab zu einer jener Skandalszenen Anlaß, die den Verfall des oligarchischen Parlaments charakterisieren. Die Irländer verfügen über 105. Stimmen. Es stellte sich indes heraus, daß die Mehrzahl der Deputation der 18 keine Vollmacht erteilt hat. Überhaupt kann Palmerston die <351> Irländer nicht ganz mehr so benutzen in ministeriellen Krisen wie zur Zeit O'Connells. Mit der Auflösung aller alten parlamentarischen Fraktionen hat sich auch das irische Viertel zerklüftet, zersplittert. Jedenfalls beweist der Inzident, wie Palmerston die gewonnene Frist zur Bearbeitung der verschiedenen Koterien benutzt. Gleichzeitig erwartet er irgendeine günstige Nachricht vom Kriegsschauplatze, irgendein kleines Ereignis, das parlamentarisch - wenn nicht militärisch - ausgebeutet werden kann. Der submarine Telegraph hat die Leitung des Krieges den Händen der Generale entrissen und den dilettantischen astrologischen Einfällen Bonapartes wie den parlamentarisch-diplomatischen Intrigen untergeordnet. Daher der unerklärliche und ohne Parallele dastehende Charakter des zweiten Krimfeldzuges.