Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 345-347
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961
["Neue Oder-Zeitung" Nr. 313 vom 9. Juli 1855]
<345> London, 6. Juli. Seit Montag bis gestern abend war London Zeuge einer ununterbrochenen Reihe von Konflikten zwischen Polizei und "Mob", die erstere mit ihren Knüppeln herausfordernd, die zweite mit Steinen antwortend. Wir sahen Szenen in Marlborough Street und den umliegenden Straßen aufgeführt, die lebhaft an Paris erinnerten. Duncombe trug gestern abend im Unterhause auf Untersuchung der "schurkischen und brutalen" Aufführung der Polizei am vergangenen Sonntag an. Die Massen beabsichtigen, übermorgen die Klubhäuser in Pall Mall zu besuchen. Die Chartisten bezwecken eine bewaffnete (nicht mit Säbeln und Flinten, sondern mit Arbeitswerkzeugen und Stöcken) Prozession von Blackfriars Bridge nach dem Hyde Park mit Fahnen mit der Inschrift: "No Mayne law". (Kein Mayne-Gesetz. Dies ist absichtliche Zweideutigkeit. Maine law ist bekanntlich der Name des die spirituosen Getränke exkommunizierenden amerikanischen Puritaner-Gesetzes. Mayne der Name des Chefs der Londoner Polizei.) Man hat aus früheren Berichten ersehen <Siehe vorl. Band, S. 318-327 und 341-344>, wie die Demonstrationen im Hyde Park vom Instinkt der Massen improvisiert wurden. Die Gärung wurde dann gesteigert und konsolidiert durch die herausfordernde Brutalität der Polizei, deren Chef, Sir Richard Mayne, sich des Ordens würdig zeigte, den er von Paris her erhalten. In diesem Augenblicke jedoch lassen sich schon verschiedene Parteien unterscheiden, die die Massenbewegung voranzutreiben, zu lenken und zu weitergehenden Zwecken zu benutzen suchen. Diese Parteien sind:
Erstens die Regierung selbst. Während Bonapartes Anwesenheit zu London verschwand wie durch Zauber jeder gegen ihn gerichtete Maueranschlag. Jetzt läßt die Polizei die heftigsten Plakate ruhig an ihrem Platze haften. Alles <346> zeigt eine versteckte Absicht: die anbefohlene Brutalität der Konstabler, die herausfordernde Sprache der Regierungsadvokaten vor dem Marlborough court <Gericht in der Marlborough Street>, das ungesetzliche Anwenden der Verhafteten auf der treadmill <Tretmühle>, der insultierende Ton der offiziellen Zeitungen, das schwankende Auftreten des Kabinetts im Parlament. Sollte Palmerston eines Coup d'état im kleinen bedürfen, um sein Ministerium zu halten, oder großer innerer Wirren, um die Aufmerksamkeit von der Krim abzulenken? Wenn wir diesen waghalsigen und unter dem Scheine frivoler Flachheit tiefe und unerbittliche Berechnung versteckenden Staatsmann kennen, halten wir ihn, wie Voltaire den Habakuk, "capable de tout" <"zu allem fähig">.
Zweitens die Administrativreformer. Sie suchen die Massenbewegung teils zur Einschüchterung der Aristokratie, teils als Mittel zur Gewinnung eigener Popularität auszubeuten. Daher erschien Ballantine in ihrem Namen und auf ihre Rechnung vor dem police-court <Polizeigericht> in Marlborough Street als Verteidiger der letzten Sonntag Inhaftierten. Daher kauften sie sämtliche Verurteilte gestern durch Hinterlegung der Strafgelder los. Daher verteidigen ihre Blätter den "Mob" (wie der ministerielle "Globe" das Volk nennt) und greifen Polizei und Ministerium an.
Drittens die Chartisten, deren Zwecke selbstredend sind.
Die offiziellen und Privatberichte über den unglücklichen Angriff vom 18. Juni sind endlich erschienen. Die Veröffentlichung der offiziellen Depeschen wird mehrere Tage hindurch aufgeschoben, und dazu war sicher Grund vorhanden. Von allen Stümpereien in der orientalischen Angelegenheit ist dies sicher das vollkommenste Muster.
Die französischen vorgeschobenen Laufgräben waren 400-500, die englischen 500-700 Yards von den russischen Batterien entfernt. Diese Distanzen bezeichnen die Länge des Wegs, den die Angriffskolonnen, ungedeckt gegen russisches Feuer und unterstützt von dem Feuer ihrer eigenen Artillerie, zu durcheilen hatten in einem Sturmlauf, der jede Spur von Ordnung vernichten mußte und sie dem Gewehrfeuer hilflos aussetzte während 3-5 Minuten - ein Zeitraum, durchaus hinreichend, um sie völlig zu desorganisieren. Diese Tatsache allein charakterisiert den ganzen Plan. Bevor das feindliche Feuer vollständig zum Schweigen gebracht und die Anhäufung großer Truppenmassen in den feindlichen Werken effektiv verhindert war durch heftiges vertikales Bombenfeuer, fehlte auch die schwächste Chance des Erfolgs.
Die Russen scheinen die Pläne der Alliierten richtig beurteilt zu haben, wenn sie nicht, wie Pélissier unterstellte, vorher davon unterrichtet waren. <347> Sie erwiderten das Feuer der Alliierten nur schwach am 17., zogen ihre Kanonen während des Tags hinter die Brustwehren zurück und trafen überhaupt solche Vorkehrungen, daß kaum eine für das nächste Tagwerk nötig wurde. Während der Nacht wurden die Kanonen in ihre Positionen zurückgebracht und die zur Verteidigung bestimmten Kolonnen und Reserven postiert.
Der ursprünglich zwischen Pélissier und Raglan verabredete Plan war, das Feuer wieder zu eröffnen bei Tagesanbruch des 18., es während einiger Stunden mit aller möglichen Heftigkeit fortzusetzen und dann plötzlich und gleichzeitig sieben Sturmkolonnen vorwärts zu lancieren - eine (französisch) gegen die Bastion dicht an der Kielholbay, 2 (französisch) gegen die Malachow-Bastion, 3 (englisch) gegen den Redan und eine (englisch) gegen den Knäuel von Häusern und den Kirchhof, zwischen dem Redan und dem Kopf des innern Hafens. Sollte einmal ein Sturm überhaupt stattfinden, so war dieser Plan verständig genug. Seine Ausführung würde das russische Feuer zum Schweigen gebracht und die zur Verteidigung konzentrierten russischen Massen zerstreut haben, bevor noch der eigentliche Angriff begann. Andrerseits würden die alliierten Truppen allerdings vom russischen Feuer zu leiden gehabt haben, während sie sich in den Laufgräben drängten, und die Verteidiger würden wahrscheinlich die Gegenwart der zum Bajonettangriff der Position bestimmten Kolonnen bald entdeckt haben. Dies war jedoch das geringere Übel. Mit all seinen Fehlern blieb der Originalplan der beste unter einmal gegebenen Umständen. Wie er vereitelt, wie Pélissiers Vorschußlorbeerkronen verwittert, wie die alliierte Armee unter den schützenden Adlern des restaurierten Kaisertums ein "Balaklawa der Infanterie" erlebt - darüber morgen.
Der jetzige Sommer scheint den "Heiligen" schwere Prüfungen aufzubewahren. Der erste Wechselhändler von London, das sichtbare Haupt der Quäker, der ebenso reiche als fromme Gurney (Bunsens Sohn hat eine seiner Töchter geheiratet) erscheint arg kompromittiert in dem fraudulösen Strand-Bankrutt. Er diskontierte dem Strahan und Komp. 37.000 Pfd.St. auf Wechsel, während er sie bankrutt wußte, befähigte sie so für einige Monate, das Publikum weiter zu beschwindeln, und verstand, sich selbst ohne Verlust herauszuziehn. Die profane Presse ergeht sich in schadenfrohen Betrachtungen über die Sündigkeit selbst der Auserwählten.