Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 332-337
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Friedrich Engels

Aus Sewastopol

Geschrieben um den 29. Juni 1855.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4439 vom 12. Juli 1855]

<332> Im Gegensatz zu den Erwartungen der Öffentlichkeit bringt die Post der "Pacific", die gestern morgen angekommen ist, keinen detaillierten Bericht über die Niederlage der Alliierten bei Sewastopol am 18. Juni. Wir haben, das ist wahr, einige nackte Aufstellungen über die Zahl der Toten und Verwundeten in dieser Schlacht, die wir unten kurz kommentieren. Doch statt der erwarteten Depeschen haben wir wenigstens den detaillierten Bericht des Generals Pélissier über die Eroberung des Mamelons und der Steinbrüche. Doch selbst dieser ist nicht derart, daß er die Linie der Militärpolitik des Mannes sehr genau nachweist, der jetzt faktisch die 200.000 alliierten Truppen auf der Krim kommandiert. Wir müssen eher den negativen als den positiven Beweisen glauben, wenn wir zu einem Schluß über diesen Gegenstand kommen wollen. Um zu erraten, was Pélissier zu tun gedenkt, müssen wir nicht so sehr auf das sehen, was er tut, sondern auf das, was er zu tun unterläßt. Doch lassen Sie uns wieder der Einnahme des Mamelons zuwenden; sie weist einige Züge auf, die der Untersuchung wert sind.

Der 6. und 7. Juni waren einer Kanonade auf der ganzen Linie der alliierten Batterien gewidmet. Aber während auf der linken Attacke (Flagstaff Bastion bis zu der Quarantäne-Bastion) diese Kanonade bloße Demonstration blieb, war sie ernst gemeint auf der rechten Attacke (Redan bis Berg Sapun). Hier wurden die russischen Außenwerke einem besonders heftigen Feuer unterworfen. Als ihr Feuer hinreichend zum Schweigen gebracht schien und ihre Verteidiger hinreichend geschwächt, wurde am Abend des 7. der Sturm befohlen. Die Franzosen hatten zwei verschiedene Positionen zu nehmen, zwei Plateaus bildend, voneinander getrennt durch einen Hohlweg; die Engländer ein Plateau mit einem Hohlweg auf jeder Seite. Die Weise, wie die beiden Armeen sich zum Sturm vorbereiteten, war charakteristisch für ihre eigentümlichen Befähigungen und Traditionen. Die Franzosen setzten ins Werk <333> vier Divisionen, zwei für jede besondere Attacke. So wurden zwei Divisionen gegen den grünen Mamelon (Kamtschatka-Redoute) konzentriert und zwei andere gegen den Berg Sapun; jede Attacke mit zwei Brigaden in getrennten Kolonnen in der Front für den Angriff und zwei Brigaden in Reserve. Achtzehn Bataillone hatten daher zu chargieren und achtzehn zu unterstützen - insgesamt wenigstens 28.000-30.000 Mann. Diese Disposition stimmt ganz mit den Regulationen und Traditionen der französischen Armee, die bei großen Chargen immer in Kolonnen angreift und manchmal in etwas zu unfügigen. Die Engländer, wenn ebenso formiert, würden zwei Divisionen für den ihnen zufallenden Teil der Arbeit erheischt haben; zwei Brigaden für den Angriff und zwei für die Reserve. Aber treu ihrem eigenen System, detachierten sie für die Charge ungefähr 1.000 Mann oder ungefähr zwei Bataillone - kaum die Hälfte einer französischen Brigade. Sie hatten zweifelsohne starke Reserven, wandten aber trotzdem nur einen Mann an, wo die Franzosen drei Mann verbraucht hätten. Dies ist eine Konsequenz teils des britischen Systems, in Linien statt in Kolonnen anzugreifen, und teils der großen Zähigkeit des britischen Soldaten in Defensivpositionen. Diese 1.000 britischen Soldaten wurden selbst nicht alle auf einmal losgelassen; erst chargierten 200 und nahmen die russischen Werke; dann wurden weitere 200 als Verstärkung ausgeschickt; der Rest folgte in derselben Weise; und dann hielten 1.000 britische Soldaten, einmal etabliert in der russischen Position, sie gegen sechs aufeinanderfolgende Angriffe und unter dem fortwährenden Front- und Enfilierfeuer der russischen Werke. Als der Morgen anbrach, war über die Hälfte ihrer Zahl tot oder verwundet; aber der Platz gehörte ihnen, und einige von ihnen hatten hier und da die Russen bis in den Redan verfolgt. Dies war eine Waffentat, wie sie keine 1000 Franzosen erreicht haben konnten. Aber die passive Ausdauer des britischen Soldaten unter Feuer kennt kaum eine Grenze, und wenn, wie in dieser Nacht, das Handgemenge die Form seines Lieblingsvergnügens, der Straßenboxerei, annimmt, dann ist er in seinem eigenen Element und wird zu eins gegen sechs mit dem größten Vergnügen der Welt loshauen.

Was die französische Attacke betrifft, gibt uns General Pélissier lange Aufzählungen der in ihr engagierten Brigaden und Regimenter, und er hat für jedes von ihnen ein anerkennendes Wort; aber seine Darlegungen über die respektiven Positionen und Linien der Attacke jeder Kolonne sind durchaus undeutlich, während sein Bericht über den Fortgang der Aktion fast unverständlich ist, und eine Angabe der Verluste fehlt ganz. Durch Vergleichung dieses offiziellen Bulletins mit anderen Berichten können wir entnehmen, daß die Franzosen den Mamelon beim ersten Ausfall nahmen, den sich zurück- <334> ziehenden Russen bis nach der Malachow-Bestion nachfolgten, hier und dort eindrangen, von den Russen zurückgeworfen wurden, den Mamelon wieder verloren, sich hinter ihm in einem Halbzirkel aufstellten und nach einem neuen Angriff schließlich Besitz davon ergriffen. Auf der anderen Seite der Kilen-balka wurde die Wolhynsk-Redoute mit geringem Verlust weggenommen; der Kampf um die Selenginsk-Redoute, die hinter ihr liegt, war ernsthafter, aber nicht zu vergleichen mit dem um den Mamelon. Infolge der übertriebenen Zahl von Truppen, die Pélissier auf die angegriffenen Punkte warf, und der unfügigen Kolonnen, die die Franzosen so gebildet haben müssen, muß ihr Verlust sehr bedeutend gewesen sein. Die Tatsache, daß darüber kein offizieller Bericht gegeben wurde, genügt, um das zu beweisen. Wir sollten annehmen, daß 1.500-2.000 Mann nicht übertriebene Zahlen sind.

Die Russen waren in eigentümliche Umstände geraten. Sie konnten diese Außenwerke nicht mit zahlreicher Mannschaft garnisonieren, da dies sie sicherer Vernichtung durch die feindliche Artillerie ausgesetzt hätte, selbst bevor der Sturm versucht worden wäre. So konnten sie nur ein Minimum von Verteidigern in diesen Redouten halten und mußten sich auf das beherrschende Feuer ihrer Artillerie vom Malachow und Redan verlassen, ebenso wie auf die Aktion ihrer Reserven in der Festung. Sie hatten zwei Bataillone - ungefähr 800 Mann - im Mamelon. Doch die Redouten einmal genommen, kamen sie nie wieder in diese zurück, um sich richtig darin festzusetzen. Sie entdeckten, daß eine belagerte Armee sehr schnell eine Position verlieren, aber nicht einfach wiedergewinnen kann. Die Mamelon-Redoute war zudem so kompliziert in ihrer Konstruktion - durch Traversen und Blenden, die eine Art von Impromptu-Kasematten bildeten -, daß, obgleich wohlgedeckt gegen Artillerie, ihre Garnison beinahe hilflos war gegen einen Sturm, indem jede Abteilung kaum hinreichte, eine Kanone zu beherbergen und einen Mann zum Dienst derselben. Sobald daher das Geschütz demontiert war, hatte die Infanterie, bestimmt zur Verteidigung des Werkes gegen einen Sturm, keinen Raum für eine Position, von wo sie wirken konnte auf die Sturmkolonnen durch gleichzeitiges Feuern in Masse. Aufgebrochen in kleine Detachements, unterlag sie dem Ungestüm der Angreifenden und bewies von neuem, daß, wo sie nicht in großen Massen fechten kann, die russische Infanterie weder den Franzosen an Intelligenz oder raschem Blick noch den Engländern an verzweifeltem Bulldoggenmut gleichkommt.

Dem Engagement des 7. folgte eine zehntägige Pause, während welcher Laufgräben vollendet und verbunden, Positionen der Batterien abgesteckt und Kanonen und Munition herbeigebracht wurden. Zugleich wurden zwei Reconnaissancen in das Innere des Landes vorgenommen. Die erste nach <335> Baidar, 12 Meilen von Balaklawa, auf dem Wege nach der Südküste, war nur eine vorläufige; die zweite gegen Aitodor, 6 Meilen über Tschorgun an der Tschornaja, wurde in der rechten Richtung vorgenommen. Aitodor liegt auf dem erhobenen Landstrich, der nach dem Tal des oberen Belbek führt, wo allein, wie wir lange zuvor konstatiert <Siehe vorl. Band, S. 231-235>, die russische Position bei Inkerman wirksam umgangen werden kann. Aber eine Kolonne zur Reconnaissance dahin zu senden und diesem Schritt nicht auf dem Fuße nachzufolgen durch Besetzung des Landstrichs mit Gewalt und sofort Operationen zu beginnen - was heißt das, außer dem Feind Warnung zu geben, von welcher Seite er bedroht ist. Nun kann es sein, daß das Land um Aitodor sich unzugänglich erwies - doch wir bezweifeln es; und selbst in diesem Falle wäre die Intention eines Flankenmarsches zur Umgehung des Feindes zu klar durch dies Manöver angedeutet. Wenn dieser Flankenmarsch lediglich als Scheinangriff dienen könnte, wäre es gut so; doch wir sind überzeugt, daß er zur Hauptbewegung gemacht werden muß, und deshalb sollte darauf nicht hingewiesen werden, bevor nicht die Alliierten wirklich die Absicht haben, ihn zu unternehmen.

Statt jedoch diese schwache Demonstration im Felde weiter zu verfolgen, versuchte General Pélissier etwas ganz anderes. Der 18. Juni, der Tag von Waterloo, sah die englischen und französischen Truppen Schulter an Schulter marschierend, um die russischen Linien auf der rechten Attacke zu stürmen. Die Engländer attackierten den Redan, die Franzosen den Malachow. So sollte Waterloo gerächt werden; doch unglücklicherweise ging die Sache schief. Sie wurden beide nach einem fürchterlichen Blutbad zurückgeschlagen. Die offiziellen Listen geben ihre Verluste mit ungefähr 5.000 an, doch wegen des bekannten Mangels an Wahrhaftigkeit in den französischen Angaben neigen wir dazu, sie um 50 Prozent höher anzuschlagen. Da keine Einzelheiten bekannt geworden sind, müssen die taktischen Züge dieser Schlacht für jetzt völlig beiseite gelassen werden. Was wir jetzt in Betracht ziehen können, ist ihre strategische und politische Natur.

Pélissier wird von der gesamten Presse Europas als ein Mann angesehen, der nicht durch den Telegraphen aus Paris kommandiert werden will, sondern der fest entschlossen seinem eigenen Urteil gemäß handelt. Wir haben Gründe gehabt, diese besondere Art der Hartnäckigkeit zu bezweifeln; und die Tatsache seines Versuches, Waterloo "edelmütig" zu rächen, d.h. durch einen gemeinsamen Sieg der Franzosen und der Engländer, bestätigt unseren Zweifel vollständig. Der Gedanke einer solchen Tat konnte nur von Seiner Majestät, dem Kaiser der Franzosen, kommen - dem großen Anhänger der Jahres- <336> tage, dem Manne, der in keinem Jahr den 2. Dezember vorübergehen lassen kann, ohne irgendeinen außerordentlichen Trick zu versuchen; dem Manne, der vor der Pairskammer erklärt hat, es sei sein spezieller Beruf, Waterloo zu rächen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Pélissier die strengste Order hatte, die Schlacht von Waterloo durch einen glänzenden Jahrestag zu feiern. Die Art, in der er es ausgeführt, ist der einzige Teil der Angelegenheit, für den er verantwortlich ist.

Der Sturm auf die Linien der Redoute von Karabelnaja muß, wie wir mehr als je überzeugt sind, als grober Fehler bewertet werden. Doch bevor wir den Mann gründlich kennen, werden wir fortfahren, Pélissier die Gunst aller Umstände zuzuschreiben, die bei dieser Entfernung von dem Kampfplatz einen Zweifel gestatten könnten. Nun kann es sein, daß die sanitären Verhältnisse auf dem Herakleatischen Chersones - eine Sache, auf die wir seit langem die Aufmerksamkeit gelenkt haben - so schlecht sind, daß eine eilige Beendigung der Operationen auf diesem kleinen Stück Erde höchst wünschenswert wäre. Die Ausdünstungen der verwesenden Leichen von 25.000 Menschen und 10.000 Pferden sind solcherart, daß sie auf die Gesundheit der Armee während des Sommers gefährlich einwirken. Von den anderen dort angesammelten Abscheulichkeiten wollen wir gar nicht reden. Vielleicht denkt Pélissier, daß es in kurzer Zeit möglich sei, die Russen aus der Südseite zu vertreiben, den Platz vollkommen zu zerstören, nur wenige Leute zu seiner Bewachung zu belassen und das Feld dann mit einer starken Armee zu nehmen. Wir machen diese Unterstellung, weil wir es vorziehen, in den Handlungen eines alten Soldaten wenigstens einige vernünftige Motive zu sehen. Doch wenn das der Fall ist, dann hat er die Stärke des Platzes falsch eingeschätzt. Wir sagten vorhin, daß jeder Versuch, den Erfolg des 7. gegen die Stadt selbst entschieden zu verfolgen, vereitelt werden würde <Siehe vorl. Band, S. 289/290>; unsere Meinung ist durch die Ereignisse bestätigt worden. Wir sagten, daß der Schlüssel zu Sewastopol im Norden Inkermans läge, das Engagement des 18. scheint es zu beweisen.

Somit sind wir bereit; zuzugeben, daß General Pélissier sich von vollständig logischen Betrachtungen leiten ließ, als er einen Sturm auf Karabelnaja einem Vorrücken im Felde vorzog; doch wir müssen zur gleichen Zeit zugeben, daß die Menschen an Ort und Stelle sehr geneigt sind, geringere Fakten zu Prämissen ihrer Folgerungen zu machen, und daß Pélissier durch den Mißerfolg am 18. überführt zu sein scheint, dieser Schwäche nachgegeben zu haben; denn wenn es Charakterstärke zeigt, zähe an einer vorgenommenen Sache festzuhalten, so zeigt es doch zugleich eine Schwäche an Intellekt, <337> dieser Sache auf Umwegen zu folgen, nur weil sie einmal begonnen worden ist. Pélissier würde recht haben, wenn er versuchte, Sewastopol auf alle Fälle zu nehmen; doch er hat offensichtlich unrecht, wenn er nicht sieht, daß der nächste Weg nach Sewastopol über Inkerman führt und die dortige russische Armee diese Stellung verteidigt.

Wenn die Alliierten nicht sehr darauf bedacht sind, aus ihrer Superiorität Nutzen zu ziehen, werden sie sich in kurzer Zeit in einer sehr unangenehmen Lage befinden. Die Notwendigkeit, ihre Kräfte in der Krim zu verstärken, ward seit langem von Rußland gefühlt. Die Komplettierung der Reservebataillone der regulären Armee und die Aushebung und Organisation der Opoltschenie in 200 Bataillonen, wie besonders die Reduktion der österreichischen Observationsarmee auf 180.000 Mann - wobei der Rest entweder in den Urlaub entlassen oder im Innern des Imperiums stationiert wurde -, bieten nun hierzu Gelegenheit, das zu tun. Infolgedessen wurde zu Odessa eine Reservearmee gebildet, wovon ungefähr 25.000 Mann bei Nikolajew stationiert sein sollen, 12-15 Tagemärsche von Sewastopol. Auch zwei Divisionen Grenadiere sollen sich auf dem Marsch von Wolhynien befinden. Um die Mitte Juli, und vielleicht früher, können daher die Russen ihre numerische Superiorität wiedergewonnen haben, falls nicht ihre jetzt vor den Alliierten stehenden Truppen entscheidende Niederlagen in der Zwischenzeit erleben. Wir sind in der Tat darüber informiert, daß weitere 50.000 Franzosen nach Toulon und Marseille zur Verschiffung marschieren; aber diese kommen sicher zu spät und können wenig mehr tun, als die Lücken ausfüllen, die Schlacht und Krankheit (jetzt wieder in dem alliierten Lager erscheinend) in den Reihen verursachen.

Die Operationen in dem Asowschen Meer haben den Russen eine Versorgungsquelle zerstört; doch da der Dnepr weit mehr als der Don das natürliche Tor für die russischen Getreidebezirke ist, besteht kein Zweifel daran, daß große Mengen davon sich in Cherson befinden - mehr als die Russen in der Krim für ihre Ernährung brauchen. Daher ist der Transport nach Simferopol nicht sehr schwierig. Wer immer von der Asowexpedition eine ernste und sofortige Wirkung für die Versorgung Sewastopols erwartet, befindet sich in einem großen Irrtum.

Obgleich sich die Waage seit einiger Zeit zugunsten der Alliierten geneigt hat, so kann sie jetzt wieder ins Gleichgewicht kommen oder sich sogar zu ihren Ungunsten senken. Der Krimfeldzug ist noch bei weitem nicht entschieden, wenn die Russen unverzüglich handeln.