Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 322-327
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961
["Neue Oder-Zeitung" Nr. 295 vom 28. Juni 1855]
<322> London, 25. Juni. Alt und historisch ist die Lehre, daß überlebte gesellschaftliche Mächte nominell noch im Besitz aller Attribute der Gewalt, nachdem ihr Daseinsgrund längst unter ihren Füßen weggemodert - fortvegetierend, weil unter den Erben schon Hader über den Antritt der Hinterlassenschaft ausgebrochen, bevor der Totenzettel gedruckt und das Testament eröffnet ist -, sich vor dem letzten Todeskampf noch einmal zusammenfassen, aus der Defensive in die Offensive übergehen, herausfordern statt auszuweichen, und extremste Schlüsse aus Prämissen zu ziehen suchen, die nicht nur in Frage gestellt, sondern schon verurteilt sind. So jetzt die englische Oligarchie. So die Kirche, ihre Zwillingsschwester. Unzählig sind die Versuche innerhalb der Staatskirche, der hohen und der niedern, sich zu reorganisieren, die Versuche, sich mit den Dissidenten auszugleichen und so der profanen Masse der Nation gegenüber eine kompakte Macht herzustellen, rasch aufeinanderfolgend die religiösen Zwangsmaßregeln - der fromme Graf Shaftesbury, früher bekannt als Lord Ashley, konstatierte jammernd im Oberhaus, daß in England allein 5 Millionen durchaus nicht nur der Kirche, sondern dem Christentum entfremdet seien. "Compelle intrare" <"Nötige sie, hereinzukommen"> antwortet die Staatskirche. Sie überläßt es Lord Ashley und ähnlichen dissentierenden, sektiererischen und überreizten Frömmlern, die Kastanien aus dem Feuer zu ziehen, die sie zu essen gedenkt.
Erstes religiöses Zwangsmittel war die Beer Bill <Biergesetz>, die alle öffentlichen Vergnügungsorte an Sonntagen schloß, mit Ausnahme von 6 bis 10 Uhr abends. Sie wurde in einem dünnen Hause am Schluß der Sitzung durchgeschmuggelt, nachdem die Frommen die Unterstützung der großen Bierwirte von London <323> dadurch erkauft, daß sie ihnen die Fortdauer des Patentsystems, d.h. des Monopols der großen Kapitalien, garantiert hatten. Dann kam die Sunday Trading Bill <Gesetz über den Sonntagshandel>, die jetzt in dritter Lesung durch die Gemeinen gegangen und deren einzelne Klauseln eben im Komitee des ganzen Hauses debattiert worden. In dieser neuen Zwangsmaßregel war wieder die Stimme des großen Kapitals gesichert, weil nur Kleinkrämer am Sonntag handeln und das große Warenhaus durchaus bereit ist, die Sonntagskonkurrenz der kleinen Butike parlamentarisch aus dem Wege zu räumen. In beiden Fällen Verschwörung der Kirche mit dem Monopol des Kapitals, aber in beiden Fällen religiöse Strafgesetze gegen die niedern Klassen zur Beruhigung des Gewissens der vornehmen Klassen. Die Beer Bill traf ebensowenig die aristokratischen Klubs, wie die Sunday Trading Bill vornehme Sonntagsbeschäftigungen trifft. Die Arbeiterklasse empfängt ihren Arbeitslohn spät am Sonnabend; nur für sie existiert daher der Sonntagshandel. Nur sie ist gezwungen, am Sonntag ihre kleinen Einkäufe zu machen. Nur gegen sie ist daher die neue Bill gerichtet. Im 18. Jahrhundert sagte die französische Aristokratie: Für uns Voltaire, für das Volk die Messe und der Zehnte. Im 19. Jahrhundert sagt die englische Aristokratie: Für uns die frömmelnde Phrase, für das Volk die christliche Praxis. Die klassischen Heiligen des Christentums kasteiten ihren Leib für das Seelenheil der Masse; die modernen, gebildeten Heiligen kasteien den Leib der Masse für ihr eignes Seelenheil.
Dieses Bündnis einer liederlichen, verfallenden und genußsüchtigen Aristokratie mit der Kirche, gestützt auf schmutzige Profit-Kalküls von Biermagnaten und monopolisierenden Großkrämern, rief gestern eine Massendemonstration im Hyde Park hervor, wie London sie seit dem Tode Georgs IV. des "ersten Gentleman von Europa", nicht mehr erlebt hat. Wir waren Zuschauer von Beginn bis zum Schlusse, und wir glauben nicht zu übertreiben, wenn wir versichern, daß gestern im Hyde Park die englische Revolution begonnen hat. Die letzten Nachrichten aus der Krim bildeten ein wesentliches Ferment dieser "unparlamentarischen", "außerparlamentarischen" und "antiparlamentarischen" Demonstration.
Lord Robert Grosvenor, der Urheber der Sonntagshandelsbill, hatte dem Einwurf, sein Gesetz sei nur gegen die armen, nicht gegen die reichen Klassen gerichtet, mit den Worten geantwortet:
"Die Aristokratie enthalte sich, in großem Maßstab ihre Diener und ihre Pferde sonntags zu beschäftigen."
<324> In den letzten Tagen der vergangenen Woche war an allen Mauern Londons folgendes großgedruckte, von den Chartisten ausgehende Plakat zu lesen:
"Neue Sonntagsbill zur Beseitigung von Zeitungen, Rasieren, Rauchen, Essen und Trinken und aller Arten von Nahrung und Erholung, leiblicher oder geistiger, die augenblicklich noch vom armen Volk genossen werden. Ein Meeting in freier Luft von Handwerkern, Arbeitern und den 'niederen Ständen' der Hauptstadt wird im Hyde Park abgehalten werden, am Sonntag nachmittag, um zu sehen, wie religiös die Aristokratie den Sabbat beobachtet und wie ängstlich sie ist, ihre Diener und Pferde an diesem Tage nicht ins Werk zu setzen. Siehe Lord Robert Grosvenors Rede. Das Meeting ist zusammenberufen für 3 Uhr an der rechten Seite der Serpentine (Flüßchen im Hyde Park) nach den Kensington Gärten zu. Kommt! Und bringt eure Weiber und Familien mit euch! Damit sie profitieren von dem Beispiel, das ihre 'Besseren' geben!"
Man muß nämlich wissen, daß, was Longchamps für die Pariser, der Weg im Hyde Park längs der Serpentine für die englische Hautevolée ist - der Platz, wo sie am Nachmittage, namentlich sonntags, ihre Prunkkarossen und ihren Putz Revue passieren lassen und ihre Rosse tummeln, gefolgt von Lakaienschwärmen. Man wird aus dem obigen Plakat ersehen, wie der Kampf gegen Pfäfferei denselben Charakter annimmt wie jeder ernstliche Kampf in England, den Charakter des Klassenkampfes von arm gegen reich, Volk gegen Aristokratie, der "niederen" gegen die "besseren" Ränge.
Um 3 Uhr waren auf dem angesagten Platze, auf dem rechten Ufer der Serpentine, auf den ungeheuern Wiesen des Hyde Park, ungefähr 50.000 Menschen versammelt, die nach und nach durch Zugänge auch vom linken Ufer zu wenigstens 200.000 anschwollen. Man sah kleinere Menschenknäuel von einem Punkt auf den andern fortgeschoben. Die zahlreich aufgestellten Konstabler suchten offenbar den Urhebern des Meetings zu entziehen, was Archimedes verlangte, um die Welt aus den Angeln zu heben, einen festen Standpunkt. Endlich faßte ein größerer Haufen Posto, und Bligh, der Chartist, konstituierte sich als Präsident auf einer kleinen Anhöhe in der Mitte des Haufens. Er hatte kaum seine Harangue begonnen, als Polizeiinspektor Banks an der Spitze von 40 knüttelschwingenden Konstablern ihm erklärte, der Park sei königliches Privateigentum, und man dürfe hier kein Meeting abhalten. Nach einigen Pourparlers, worin Bligh ihm zu demonstrieren suchte, die Parks seien Eigentum des Publikums, und worin Banks erwiderte, er habe gemessenen Befehl, ihn zu arretieren, wenn er auf seinem Vorhaben beharre, unter ungeheurem Gebrüll der umstehenden Masse, rief Bligh:
"Ihrer Majestät Polizei erklären, daß der Hyde Park königliches Privateigentum und daß Ihre Majestät dem Volke ihren Grund und Boden nicht zu seinen Meetings leihen will. Vertagen wir uns daher nach Oxford Market."
<325> Unter dem ironischen Ruf: "God save the Queen!" entstrahlte sich der Knäuel, um nach Oxford Market zu pilgern. Unterdes aber war Finlen, Mitglied des Zentralchartistenkomitees, an einen fernstehenden Baum gestürzt, Massen folgten ihm, umschlossen ihn in einem Nu in einem so engen und dichten Zirkel, daß die Polizei den Versuch aufgab, bis zu ihm vorzudringen.
"Wir sind 6 Tage in der Woche geknechtet, das Parlament will uns noch das bißchen Freiheit am siebenten rauben. Buße wollen sie tun, nicht an sich, sondern an uns, diese mit augenverdrehenden Pfaffen koalitionierten Oligarchen und Kapitalisten, für den gewissenlosen Mord, womit sie die Kinder des Volks in der Krim geopfert haben."
Wir verließen die Gruppe, um uns einer andern zu nähern, wo ein Redner, der Länge nach auf den Boden gestreckt, in dieser horizontalen Situation seine Audienz harangierte. Plötzlich erscholl es von allen Seiten: "Hin zum Fahrweg, hin zu den Karossen!" Unterdes hatte der Insult auf Equipagen und Reiter schon begonnen. Die Konstabler, die beständig Zuzüge aus der Stadt erhielten, trieben die Spaziergänger weg von dem Fahrweg. Sie trugen so dazu bei, auf beiden Seiten des Wegs dichte Menschenspaliere zu bilden, von Apsley-House Rotten-Row hinauf der Serpentine entlang bis nach Kensington Garden, mehr als eine Viertelstunde in der Ausdehnung. Das Publikum bestand zu etwa 2/3 aus Arbeitern, zu 1/3 aus Mitgliedern der Mittelklasse, alle mit Weibern und Kindern. Die Schauspieler wider Willen, elegante Herrn und Damen, "Gemeine und Lords" in hohen Staatskarossen, galonierte Dienerschaft vorn und hinten, einzelne ältliche, von Portwein erhitzte Herrn zu Pferde, passierten diesmal nicht Revue. Sie liefen Spießruten. Ein Babylon aller höhnenden, provozierenden, übelklingenden Laute, an denen keine Sprache so reich wie die englische, umwogte sie bald von beiden Seiten. Da das Konzert improvisiert war, fehlte es an Instrumenten. Der Chor mußte daher von seinen eignen Organen Gebrauch machen und sich auf Vokalmusik beschränken. Und ein diabolisches Konzert war es von grunzenden, zischenden, pfeifenden, schnarrenden, knurrenden, murrenden, quäkenden, gellen den, ächzenden, rasselnden, quirksenden, knirschenden Tönen. Eine Musik, Menschen rasend zu machen und Steine zum Bewußtsein zu bringen. Sonderbares Gemisch dazu von Ausbrüchen echten altenglischen Humors und lang verhaltener kochender Wut. "Go to the church!" (Geht zur Kirche!) war der einzige artikulierte Laut, der sich unterscheiden ließ. Eine Lady streckte beschwichtigend ein orthodox-eingebundenes Prayerbook (Gebetbuch) aus der Equipage hervor. "Give it to read to your <326> horses!" (Gebt es euren Pferden zu lesen!), donnerte das tausendstimmige Echo zurück. Wenn die Pferde scheu wurden, bäumten, bockten, ausrissen, Lebensgefahr ihrer eleganten Last drohte, erhob sich das Hohngeschrei lauter, drohender, unerbittlicher. Edle Lords und Ladies, u.a. die Gräfin Granville, Frau des Ministers und Präsidenten des Geheimen Rates, wurden gezwungen, auszusteigen und Gebrauch von ihren eigenen Füßen zu machen. Wenn ältliche Gentlemen vorbeiritten, deren Tracht, namentlich der Hut mit breiten Krempen, besondere Ansprüche auf Vollkommenheit im Glauben kundgab, erlöschten alle Wuttöne, wie auf ein Kommando, in unauslöschlichem Gelächter. Einem dieser Gentlemen riß die Geduld aus. Er machte, wie Mephistopheles, eine unanständige Gebärde, er streckte die Zunge dem Feinde entgegen. "He is a wordcatcher! a parliamentary man! He fights with his own weepons!" (Er ist ein Wortdrescher, ein Parlamentler, er kämpft mit seinen eigenen Waffen!) erscholl es von der einen Seite des Weges. "He is a Saint! he is psalm singing!" (Er ist ein Heiliger, er singt Psalmen!) war die Antistrophe von der andern Seite. Unterdes hatte der metropolitane <hauptstädtische> elektrische Telegraph allen Polizeistationen angekündigt, eine Emeute im Hyde Park stehe bevor, und sie auf das Kriegstheater verordnet. In kurzen Zwischenräumen marschierte daher eine Polizeiabteilung nach der andern durch das doppelte Menschenspalier von Apsley-House nach Kensington Gerden durch, jedesmal empfangen mit dem Volksliede:
"Where are gone the geese?
Ask the police!"
(Wo sind die Gänse hin?
Fragt die Polizei!),
mit Anspielung auf einen notorischen Gänsediebstahl, den ein Konstabler vor kurzem in Clerkenwell verübt. Drei Stunden währte dieser Spektakel. Nur englische Lungen sind einer solchen Parforcetour fähig. Während der Aufführung hörte man in den verschiedenen Gruppen: "Dies ist nur der Anfang!" "Das ist der erste Schritt!" "Wir hassen sie!" usw. Während auf den Gesichtern der Arbeiter Wut zu lesen war, sahen wir nie vorher in den Physiognomien der Mittelkassen ein so wohlgefälliges, selbstzufriedenes Lächeln sich abspiegeln. Kurz vor Schluß steigerte sich die Heftigkeit der Demonstration. Stöcke wurden gegen die Karossen geschwungen, und die unendliche Lautdissonanz kam zu Wort in dem Ausruf: "You rascals!" (Ihr <327> Schurken!). Eifrige Chartisten und Chartistinnen durchwühlten während der drei Stunden die Massen und teilten ihnen Druckzettel aus, worauf in großen Buchstaben zu lesen:
"Reorganisation des Chartismus! Ein großes öffentliches Meeting wird in dem literarischen und wissenschaftlichen Institut Friar Street, Doktor Commons, nächsten Dienstag, den 26. Juni, abgehalten werden zur Wahl von Abgeordneten zu einer Konferenz für die Reorganisation des Chartismus in der Hauptstadt. Keine Eintrittskarten."
Die Londoner Presse bringt heute im Durchschnitt nur einen kurzen Bericht über das Ereignis im Hyde Park. Noch keine Leitartikel, mit Ausnahme von Lord Palmerstons "Morning Post".
"Ein Schauspiel", sagt sie, "im höchsten Grad schmählich und gefährlich, hat im Hyde Park stattgefunden, eine offene Verletzung des Gesetzes und des Anstandes - eine illegale Einmischung durch physische Gewalt, mit der freien Aktion der gesetzgebenden Gewalt. Die Szene darf sich nächsten Sonntag nicht wiederholen, wie gedroht worden ist."
Zugleich aber erklärt sie den "fanatischen" Lord Grosvenor für den einzig "verantwortlichen" Urheber des Unfugs und den Herausforderer der "gerechten Erbitterung des Volkes! Als ob das Parlament nicht Lord Grosvenors Bill in drei Lesungen angenommen! Hat er etwa auch "durch physische Gewalt auf die freie Aktion der Legislatur" eingewirkt?