Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 314-317
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Anzeige über die Einnahme Sewastopols -
Von der Pariser Börse -
Über die Massacre bei Hangö im Oberhaus


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 289 und 290 vom 25. und 26. Juni 1855]

<314> London, 22. Juni. Der zweite Akt der "Nachtwandlerin" war eben beendet, der Vorhang des Drury-Lane-Theaters fiel, als plötzlich ein ungeheurer Paukenschlag das Publikum, das sich zu Erfrischungen drängte, zurücknef. Der Vorhang rollte wieder auf, der Theaterdirektor trat vor und hielt in melodramatischer Exaltation folgende Anrede:

"Ladies und Gentlemen! Ich bin so glücklich, Ihnen ein großes Ereignis anzeigen zu können. Die Alliierten haben Sewastopol genommen."

Enthusiastischer Triumphschrei, Hurras, Vivats, Regen von Blumensträußen. Das Orchester spielte und das Publikum sang: "God save tbe Queen", "Rule Britannia und "Partant pour la Syrie". Eine Stimme aus den oberen Regionen rief: "La Marseillaise!", verhallte aber ohne Echo. Die Improvisation des Theaterdirektors basierte auf einer telegraphischen Depesche, die zwar nicht die Einnahme von Sewastopol meldet, wohl aber, daß die Franzosen in ihrem Sturm auf Malachow und die Engländer in ihrem Sturm auf den Redan, am 18. Juni, mit bedeutendem Verlust zurückgeschlagen wurden. Der Mime kopierte gestern abend auf den Brettern von Drury-Lane einen andern Schauspieldirektor, der vor beinahe einem Jahre mitten in einem großen militärischen Spektakelstück die unerwarteten, unvergeßlichen Worte improvisierte: "Messieurs, Sevastopol est pris!" <"Meine Herren, Sewastopol ist genommen!">

Die unbegreifliche Verstocktheit, womit Pélissier fortfährt, die Kräfte der alliierten Armee aufzureiben in einseitigen Angriffen auf die Südseite, soll ihren Erklärungsgrund finden nicht in militärischen, sondern in finanziellen <315> Motiven. Bonaparte hat bekanntlich schon Milliarden auf die Einnahme von Sewastopol gezogen und von der französischen Nation diskontieren lassen. Er steht im Begriff, wieder 800 Millionen oder ungefähr so zu ziehn. Eine Abschlagszahlung auf die schon zirkulierenden Wechsel schien also unerläßlich, und wenn der Übergang über die Tschornaja wirkliche Resultate hat, verspricht der Angriff auf die Südseite von Sewastopol blendenden Scheinerfolg. "Fall von Sewastopol" würde wohltun im Prospektus der neuen Anleihe, und wenn eine Anleihe für den Krieg, warum sollte nicht ein Krieg für die Anleihe gemacht werden! Vor diesem Standpunkt muß alle kriegswissenschaftliche Kritik verstummen. Es existiert überhaupt ein mysteriöser Zusammenhang zwischen dem Krieg in der Krim und der Börse zu Paris. Wie alle Wege nach Rom führen, so laufen bekanntlich alle elektrischen Drähte in den Tuilerien zusammen, wo sie in ein "Kabinettsekret" münden. Nun ist bemerkt worden, daß die wichtigsten telegraphischen Depeschen Stunden später in Paris als in London veröffentlicht werden. Während dieser Stunden soll ein gewisser Korse, mit Namen Orsi, unendlich geschäftig auf der Pariser Börse tun. Dieser Orsi, wie in London allgemein bekannt, war in vergangnen Zeiten der "providentielle" Agent des damals Verbannten <Louis Bonaparte> auf dem Londoner Stock-Exchange <Börse>.

Bewiesen nicht schon die vom englischen Kabinett veröffentlichten Depeschen des Admirals Dundas, daß das russische Massacre bei Hangö keinen Vorwand fand in irgendeinem Mißbrauch der Parlamentärflagge auf seiten der Offiziere oder Mannschaft des vom "Cossack" abgeordneten Bootes, so würde die Erzählung des "Invalide Russe" jeden Zweifel über diesen Punkt niederschlagen. Die Russen ahnten offenbar nicht, daß ein Matrose, John Brown, lebendig davongekommen und Zeugnis gegen sie ablegen würde. Der "Invalide" hielt es also für überflüssig, das englische Boot der Spionage, des Sondierens usw. anzuklagen, und fabrizierte seine Historia aus dem Stegreif, mit dem Abbé Sieyès überzeugt, daß "die Toten nicht sprechen". Die Affäre kam gestern im Oberhaus zur Sprache. Wir können indes nicht mit der "Times" übereinstimmen, daß "dieser sonst aus Gewohnheit und Prinzip so kaltvornehme Senat" diesmal von den unverfälschten Lauten wahrer Leidenschaft erbebt sei. Wir finden affektierte Entrüstung in der Phrase, in der Sache zärtliche Sorgfalt für die "russische Ehre" und ängstliche Abwehr der Nationalrache. Der auswärtige Minister der Tories, Graf Malmesbury, erhob sich, setzte den Tatbestand kurz auseinander und rief dann aus:

<316> "Ich habe die englische Geschichte durchwühlt und kann kein Beispiel einer ähnlichen abscheulichen Handlung finden. Welche Maßregel denkt die Regierung unter diesen Umständen zu ergreifen? Es ist ein Gegenstand von der höchsten Wichtigkeit für jeden Offizier und jede Armee in Europa, daß diese Angelegenheit ergründet werde und angemessene Strafe auf die Vollbringer der Schandtat falle."

Clarendon, der auswärtige Minister der Whigs, erklärte, die "Entrüstung" seines Kollegen zu teilen. Es ist eine so schreckliche und unvergleichliche Gewalttat, so sehr im Widerspruch mit den Gebräuchen und Gewohnheiten zivilisierter Nationen, daß man unterstellen muß, daß die Vollbringer derselben nicht gehandelt haben können im Auftrag oder mit der Bewilligung ihrer Vorgesetzten. Es sei möglich, daß der Befehlshaber der 500 Russen kein commissioned officer <durch königliches Patent bestallter Offizier> jeder englische Offizier bis zum Leutnantsrang hinab besitzt eine commission <Patent>, nicht aber die Sergeanten und Unteroffiziere) gewesen sei. Es sei daher glaublich, daß die russische Regierung diesen Akt mißbillige. Er habe daher dem englischen Gesandten in Kopenhagen aufgetragen, durch den dänischen Gesandten in Petersburg der russischen Regierung vorzustellen, daß das englische Kabinett mit der höchsten Spannung erwarte, welche Schritte die russische Regierung genommen habe oder zu nehmen beabsichtige, um ihre Denkweise über einen Akt zu konstatieren, der vielleicht keine Überraschung hervorgerufen, wenn er in einer wilden Insel der Südsee vorgefallen, aber nicht im zivilisierten Europa erwartet werde und, wenn nicht streng und entsprechend bestraft von der russischen Regierung, die härteste Repressalie verdienen würde. Das englische Kabinett, schloß Clarendon, erwarte die russische Erklärung, um demgemäß weitere Schritte zu ergreifen.

Lord Colchester glaubt,

"daß es in jedem solchen Falle die Pflicht des Kommandierenden war, unmittelbar sich mit der höchsten russischen Behörde, die er erreichen konnte, durch einen Parlamentär unter der Friedensflagge in Verbindung zu setzen, die Umstände darzustellen und zu verlangen, daß die Untat verleugnet werde".

Lord Malmesbury erhebt sich wieder, erklärt sich im ganzen mit dem Verfahren der Regierung einverstanden, schaudert aber, von Clarendon das Wort "Repressalie" vernommen zu haben. England dürfe nicht auch auf russischen Standpunkt herabsinken. Moralisch müsse es sich am Zaren rächen, alle Höfe Europas zu einem Protest am Petersburger Hof vermögen und so ein internationales Urteil über Rußland verhängen. Alles in der Art von "Rache" würde den öffentlichen "Ekel" nur steigern. Der nominelle <317> Präsident des englischen Kabinetts, Graf Granville, greift des Torys Worte gierig auf und betet christlich: "Keine Wiedervergeltung!"

Was zeigt uns nun dieser, wie die "Times" behauptet, Leidenschaftsausbruch im Oberhaus? Der Tory, voll sittlicher Entrüstung, interpelliert. Der Whig überbietet ihn an Entrüstung, administriert aber selbst unter der Hand der russischen Regierung Entschuldigungsgründe und zeigt ihr den Ausweg, einen Subalternen zu desavouieren und zu opfern. Er deckt seinen Rückzug, indem er "eventualiter" etwas von Repressalien munkelt. Lord Colchester will die Russen für mörderisches Attentat auf Parlamentäre unter Friedensflagge züchtigen, indem er ihnen einen neuen Parlamentär unter Friedensflagge zuschickt. Der Tory erhebt sich wieder und appelliert von Repressalien an die Moral. Der Whig, froh die Repressalie los zu sein, selbst eventualiter, stimmt ein: "No retaliation!" <"Keine Wiedervergeltung!"> Nichts als Komödie. Das Oberhaus stellt sich zwischen die Volksleidenschaft und Rußland, um Rußland zu decken. Der einzige Pair, der aus der Rolle fiel, war Brougham. "Wenn", sagte er, "wenn das Land je nach Blut schrie, so ist es jetzt." Was die englische Sensibilität gegen "Repressalien", gegen das "Jus talionis" <"Vergeltungsrecht"> betrifft, hat Lord Malmesbury die Blätter der englischen Geschichte durchwühlt, ohne ein irisches Blatt zu finden, ein indisches, ein nordamerikanisches! Wann war die englische Oligarchie je sentimental, außer gegen Rußland!

In dem Bericht des Roebuck-Komitees, der dem Hause verlesen wurde, ist sonderbarerweise der Schlußparagraph unterdrückt worden, ein Paragraph, den Roebuck vorgeschlagen und der nach einer Abstimmung vom Komitee angenommen war. Er lautet wie folgt:

"Was mit ungenügender Information entworfen und unternommen war, ist ohne hinreichende Vorsorge und Vorsicht ausgeführt worden. Dies Betragen der Regierung war die erste und Hauptursache der Unglücksfälle, die unsre Armee in der Krim befielen."