Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 309-313
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx/Friedrich Engels

Der lokale Krieg -
Debatte der Administrativreform -
Bericht des Roebuck-Komitees usw.


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 287 vom 23. Juni 1855]

<309> London, 20. Juni. Der lokale Krieg, den Bonaparte im "Constitutionnel" proklamiert, ist ein Krieg im Schwarzen Meer, und sein Zweck ist die Vernichtung der angeblich russischen Suprematie im Schwarzen Meer - eine Suprematie, die sich, wohlgemerkt, zur See nie bewährt hat, selbst nicht gegen die Türken. Wie steht die Sache in diesem Augenblick? Von Konstantinopel bis zur Donau auf der einen Seite und rings um die zirkassischen Ufer bis nach Balaklawa und Eupatoria ist die ganze Küste den Händen der Russen entrissen. Nur noch Kaffa und Sewastopol halten aus, das eine hart bedrängt, das andere so gelegen, daß es nachgeben muß, sobald es ernsthaft bedroht wird. Noch mehr. Die Flotten schäumen den Binnensee von Asow ab, ihre leichten Schiffe dringen vor bis Taganrog, und jeder wichtige Platz wird von ihnen bombardiert. Kein Teil der Küste bleibt in den Händen der Russen, außer der Strich von Perekop nach der Donau, ungefähr 1/15 ihrer Besitzungen an dieser Küste. Gesetzt, Kaffa und Sewastopol seien nun auch gefallen, die Krim im Besitz der Alliierten, was dann? Rußland wird nicht den Frieden schließen, wie es bereits proklamiert hat. Es wäre Tollheit. Es hieße die Schlacht aufgeben, nachdem die Avantgarde zurückgeworfen ist, in dem Augenblicke, wo das Hauptkorps auf dem Kampfplatz erscheint. Was bleibt den Alliierten ihrerseits zu tun? Man sagt uns, sie können Odessa, Cherson, Nikolajew zerstören. Sie können weitergehen, eine starke Armee bei Odessa landen, es befestigen gegen jede beliebige Zahl von Russen und dann je nach den Umständen handeln. Sie können außerdem Truppen nach dem Kaukasus detachieren, die russische Armee in Georgien und den andern trauskaukasischen Besitzungen (unter General Murawjow) aufreiben und das Russische Reich von seinen südasiatischen Besitzungen abschneiden. Und <310> wenn Rußland noch immer nicht Frieden schließt? Rußland kann keinen Frieden schließen, solange sich der Feind auf seinem Grund und Boden befindet. Seit 150 Jahren hat es nicht einen Frieden geschlossen, wodurch es verloren hätte. Selbst Tilsit verschaffte ihm einen Zuwachs an Territorium, und dieser Friede ward geschlossen, bevor noch ein Franzose den russischen Boden betrat. Alexander II., eben erst auf den Thron gelangt, kann nicht einmal versuchen, was selbst für Nikolaus gefahrdrohend gewesen wäre. Er kann nicht plötzlich mit der Reichstradition brechen. Gesetzt, die Krim sei erobert und mit 50.000 Alliierten garnisoniert, der Kaukasus und alle Besitzungen im Süden seien von Russen reingefegt, eine alliierte Armee halte die Russen im Schach am Kuban und am Terek, Odessa sei genommen und in ein verschanztes Lager mit einer Armee von 100.000 Mann verwandelt, Nikolajew, Cherson, Ismail zerstört oder von den Alliierten besetzt - wollen die Alliierten sich dann darauf beschränken, ihre Positionen zu halten und es auf die Ermüdung der Russen ankommen zu lassen? Ihre Mannschaften in der Krim und dem Kaukasus werden rascher vor Krankheiten wegschmelzen, als sie ersetzt werden können. Ihre Hauptarmee zu Odessa müßte von den Flotten genährt werden, denn das Land hundert Meilen um Odessa produziert, nichts. Wo sie sich außer ihrem Lager herauswagten, wären sie den Neckereien der Russen und namentlich der Kosaken ausgesetzt. Letztere zur Schlacht zu zwingen, wäre unmöglich. Ihr Vorteil wäre stets, die Alliierten in das Innere des Landes nach sich zu ziehen. Jedes Vorrücken der Alliierten würden sie beantworten mit einem langsamen Rückzug. Zudem können große Armeen nicht lange untätig in einem verschanzten Lager gehalten werden. Krankheit und stufenweiser Fortschritt von Indisziplin und Demoralisation würden die Alliierten zu einem entscheidenden Schritte zwingen. Es geht also nicht an, die Hauptpunkte der Küste zu besetzen und abzuwarten, bis die Russen es nötig finden, nachzugeben. Es wäre auch militärisch falsch. Zur Beherrschung einer Küste genügt es nicht, die Hauptpunkte zu halten. Nur der Besitz des Binnenlandes garantiert den Besitz der Küste. Ein Etablissement auf der Südküste von Rußland würde Umstände hervorrufen, die die alliierten Streitkräfte zwängen, ins Innere des Landes vorzurücken. Aber hier beginnen die Schwierigkeiten. Bis zu den Grenzen der Gouvernements von Podolien, Kiew, Poltawa, Charkow ist das Land meist unbebaute Steppe, sehr dürftig bewässert, nichts liefernd als Gras, und selbst das nicht, nachdem die Sonnenhitze es aufgetrocknet hat. Werden Odessa, Nikolajew und Cherson als Operationsbasis genommen, wo ist der Gegenstand, wogegen die Alliierten ihre Anstrengungen zu richten [haben]? Es zeigt sich keiner als Moskau, 700 Meilen entfernt und 500.000 Männer heischend, um darauf loszumarschie- <311> ren. Aber alles das unterstellt nicht nur strenge Neutralität, sondern selbst moralische Unterstützung von seiten Österreichs. Und wo ist die? Preußen und Österreich erklärten 1854 das Vorrücken der Russen über den Balkan für einen Casus belli <Kriegsgrund>. Warum nicht 1856 ein Vorrücken der Franzosen auf Moskau oder selbst Charkow? Man muß keinen Augenblick vergessen, daß jede Armee, die vom Schwarzen Meer nach dem Innern von Rußland marschierte, ihre Flanke ebensosehr Österreich aussetzt wie eine russische Armee, die von der Donau aus in die Türkei vordrängt und daher, auf eine gegebene Entfernung, ihre Kommunikationslinien und ihre Operationsbasis, d.h. ihre Existenz selbst, von der Gnade Österreichs abhängig macht. Und unter solchen Umständen sollten die alliierten Armeen in wilder Gänsejagd den Russen ins Innere nachtreiben? Es ist Unsinn, reiner Unsinn, aber die notwendige Konsequenz von Bonapartes letztem Plan "lokaler Kriegführung". Eine unerbittliche Dialektik treibt den "lokalen Krieg" in allen Punkten über die vorgesetzte örtliche Schranke hinaus und verwandelt ihn in "großen" Krieg, aber ohne die Voraussetzungen, die Bedingungen und die Mittel des großen Krieges. Indes bleibt der letzte "Plan" Bonapartes wichtig. Er ist das Eingeständnis, daß andere Mächte auf den Schauplatz treten müssen, um den Krieg gegen Rußland zu führen, und daß das restaurierte Kaisertum sich zur Ohnmacht verdammt sieht, einen Krieg gegen Rußland, der nur in europäischem Maßstab geführt werden kann, in lokalem Maßstab zu führen. Alle grotesken Metamorphosen, die [wie] die "idées napoléoniennes" <"napoleonischen Ideen"> in dem restaurierten Kaisertum untergingen, werden überboten von der Verwandlung des napoleonischen Kriegs gegen Rußland in einen "lokalen Krieg".

In der Debatte über die Administrativreform, die heute abend wieder aufgenommen wird, bot das Amendement, das Bulwer im Namen der Tories stellte, der Regierung Gelegenheit, die "Administrativen" mit einer Majorität von 7 gegen 1 zu schlagen. Was die Debatte durchgängig charakterisierte, war der Subalternbeamtencharakter, über den sie sich keinen Augenblick erhob. Details über Favoritismus und Nepotismus, Untersuchungen über das "beste Examen", Grollen über zurückgesetztes Verdienst - alles war klein und kleinlich. Man glaubte die Beschwerdeschrift eines Unterförsters an ein hochlöbliches Regierungskollegium zu hören. Auch Aberdeen hatte seine Reform der Bürokratie in petto, versicherte Gladstone. Auch Derby, versicherte Disraeli. Nicht minder mein Ministerium, versicherte Palmerston. Die Cityherren brauchen sich also nicht in Bewegung zu setzen, um unsere Büros zu reformieren, zu informieren, zu reorganisieren. Gar zu gütig!

<312> In ihren frühern Agitationen überrumpelte die englische Bourgeoisie die regierende Kaste und zog die Masse als Chor nach sich, weil sie in ihrem Programm weit über ihren wirklichen Zweck hinausging. Diesmal wagt sich das Programm nicht einmal zu der Höhe des wirklichen Zwecks hinauf. Ihr versichert der Reihe nach, daß ihr nicht den Sturz der Aristokratie, sondern nur freundschaftlich mit uns die Regierungsmaschine ausflicken wollt! Very well! Freundschaft für Freundschaft! Wir wollen für euch die Administration reformieren - natürlich innerhalb ihrer traditionellen Grenzen. Die "Administrativreform" ist kein Streitpunkt zwischen Klasse und Klasse, wie ihr beteuert. Es handelt sich nur um die "Sache", um "wohlgemeinte" Reformen. Als ersten Beweis eurer guten Meinung verlangen wir, daß ihr uns selbst die Details überlaßt, und es handelt sich nur um Details. Wir selbst müssen am besten wissen, wie weit wir gehen können, ohne unsere Klasse zu gefährden, ohne daß die Administrativreform aus Versehen ein Streitpunkt zwischen Klasse und Klasse wird und ihren menschenfreundlichen Charakter einbüßt. Die reformierende Bourgeoisie ist genötigt, auf diese ironische Sprache aristokratischer Bonhomie einzugehen, weil sie selbst eine falsche Sprache zu den Massen spricht. Die Aristokratie, Ministerium und Opposition, Whigs und Tories täuschten sich keinen Augenblick über das Verhältnis der Administiativreformer zur Masse. Sie wußten, daß die Agitation gescheitert war, ehe sie sich noch im Parlamente zu produzieren Gelegenheit fand. Und wie sollten sie sich täuschen? Obgleich die Reform-Assoziation nur Auserwählte zu ihrem Meeting im Drury-Lane[-Theater] zuließ, obgleich ihre Audienz zwei- und dreifach gesichtet war, blieb ihre Furcht vor einem populären Antrag oder auch nur einer unreglementsmäßigen Rede so übermäßig, daß der Präsident bei Eröffnung des Meetings erklärte, die Audienz sei nur da, um die "Anreden der im Programm angekündigten Redner zu hören", keine "Anträge" würden zur Abstimmung vorgeschlagen, es könnten "daher auch keine Amendements eingebracht werden" und es könne "keine Zufügung zur Liste der eingeschriebenen Redner" stattfinden. Eine solche Agitation ist in der Tat nicht geeignet, der zähen englischen Oligarchie zu imponieren und Zugeständnisse abzupressen.

Der Bericht des Roebuck-Komitees, der vorgestern im Unterhaus verlesen wurde, hüllt seine Pointen in breiten und schwächlichen Wortschwall. Er enthält ängstlich formulierten Tadel der verschiedenen Detachements, wie der Ordonnanz, des Kommissariats, des medizinischen Departements usw. Es verdammt Palmerston wegen seiner Verwaltung der Miliz und das ganze Koalitionsministerium wegen des bedachtlosen Leichtsinns, womit es die Expedition von Sewastopol unternahm. Da das Komitee während des Zeugen- <313> verhörs überall vermied, die letzten Gründe der ungeheuren Mißgeschicke zu erfahren, ist es natürlich auch im Bericht gezwungen, zwischen ganz allgemeinem Tadel der politischen Häupter und ins einzelne sich verlierendem Makel der administrativen Werkzeuge die Schwebe zu halten. Im ganzen hat das Komitee seinen Zweck erfüllt, als Sicherheitsventil gegen den Hochdruck der öffentlichen Leidenschaft zu dienen.

Die Tagespresse stößt einen Schrei der Entrüstung gegen den russischen "Meuchelmord" bei Hangö aus. Daß indes Schiffe mit der Friedensflagge zum Sondieren mit dem Senkblei und zum Ausspionieren russischer Positionen von den Engländern mißbraucht worden sind, z.B. bei Sewastopol und Odessa, gesteht der "Morning Chronicle" zu.