Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 305-308
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Eine sonderbare Politik

Geschrieben am 19. Juni 1855.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4437 vom 10. Juli 1855, Leitartikel]

<305> In seinem Buch über den "Congrès de Vienne" klagt der Abbe de Pradt mit Recht diesen tanzenden Kongreß, wie er von dem Fürsten de Ligne genannt wurde, an, die Grundlage für die russische Suprematie in Europa gelegt und dazu noch seine Sanktion gegeben zu haben.

"So aber", ruft er aus, "ist geschehen, daß der Krieg der Unabhängigkeit Europas gegen Frankreich mit der Unterwerfung Europas durch Rußland schloß. Das war der Mühe nicht wert, sich für ein solches Ergebnis so anzustrengen."

Da der Krieg gegen Frankreich zugleich ein Krieg gegen die Revolution, ein antijakobinischer Krieg war, führte er natürlich zu einer Verschiebung des politischen Einflusses vom Westen nach dem Osten, von Frankreich nach Rußland. Der Wiener Kongreß war der natürliche Sproß des antijakobinischen Krieges, der Wiener Vertrag das legitime Produkt des Wiener Kongresses und die russische Suprematie das natürliche Kind des Wiener Vertrages. Deshalb kann man der Masse der englischen, französischen und deutschen Schriftsteller nicht gestatten, alle Schuld den Preußen zuzuschreiben, weil Friedrich Wilhelm III. durch seine blinde Ergebenheit gegenüber dem Kaiser Alexander und durch die kategorischen Weisungen an seine Botschafter, in allen wichtigen Fragen mit Rußland zusammenzugehen, die schlau angelegten Pläne des schändlichen Triumvirats - Castlereagh, Metternich und Talleyrand - durchkreuzte, gegen russische Eingriffe in die Rechte anderer gesicherte territoriale Barrieren zu errichten und dadurch die unliebsamen, aber unvermeidlichen Konsequenzen des Systems abzuwehren, das sie dem Kontinent so beflissen auferlegt haben. Selbst solch einem skrupellosen Konklave war es nicht gegeben, die Logik der Ereignisse zu verfälschen.

<306> Da Rußlands Übergewicht in Europa nicht von dem Wiener Vertrag zu trennen ist, kann ein Krieg gegen diese Macht, wenn nicht von Anfang an die Aufhebung des Vertrages verkündet wird, nichts anderes sein als eine bloße Verknüpfung von Betrug, Spitzbüberei und geheimem Einverständnis. Der gegenwärtige Krieg wird jedoch nicht mit dem Ziel unternommen, den Wiener Vertrag aufzuheben; er wird vielmehr geführt, ihn durch die zusätzliche Einbeziehung der Türkei in das Protokoll von 1815 zu konsolidieren. Davon erhofft man, daß das konservative Tausendjährige Reich anbrechen und die vereinigte Anstrengung der Regierungen es erlauben wird, sich ausschließlich der "Beruhigung" der europäischen Meinung zu widmen. Aus den folgenden bemerkenswerten Stellen, aus dem Pamphlet des preußischen Marschalls Knesebeck übersetzt, "betreffend die Gleichgewichtslage Europa's beim Zusammentritt des Wiener Congresses" wird man ersehen, daß selbst zur Zeit dieses Kongresses die Hauptakteure sich vollkommen bewußt waren, daß die Erhaltung der Türkei ein ebensolcher integrierender Bestandteil ihres "Systems" ist wie die Teilung Polens.

"Die Türken in Europa! Was haben euch denn die Türken getan? Sie sind ein kräftiges biederes Volk. Seit Jahrhunderten ruhig bei sich, wenn ihr sie nur ungestört laßt. Es ist Vertrauen auf sie; haben sie je euch hintergangen, sind sie nicht redlich, offen in ihrer Politik? Tapfer und kriegerisch zwar; ja, aber aus mehr denn einer Ursache ist dies heilsam und gut. Sie sind die beste Vormauer gegen das Andringen der asiatischen Übervölkerung; und gerade dadurch, daß sie einen Fuß in Europa haben, halten sie jenes Andringen ab. Würden sie weggetrieben, würden sie selbst drängen. Denkt sie euch einmal fort. Was würde entstehen? Entweder würde Rußland oder Österreich jene Länder bekommen oder ein besonderer griechischer Staat dort gegründet werden. Wollt ihr also Rußland noch mächtiger machen, auch von dieser Seite euch den Koloß auf den Hals ziehen? Seid ihr noch nicht zufrieden, daß es seinen Fuß von der Wolga zum Nemen, vom Nemen zur Weichsel vorgeschoben hat und jetzt ihn wahrscheinlich bis zur Warthe setzen wird! Und wenn dies nicht ist, wollt ihr Österreichs Kraft die Richtung nach Asien geben und es dadurch für die Erhaltung des Zentrums, für den Andrang von Westen schwach oder gleichgültig machen? Ruft euch nur die Lage der Vorzeit, Johann Sobieskis, Eugen Savoyens und Montecucculis Zeiten zurück. Wodurch hat Frankreich zuerst Feld über Deutschland gewonnen als dadurch, daß Österreichs Kraft immer gegen das Andringen von Asien Front machen mußte? Wollt ihr diesen Zustand wieder herbeiführen und noch vermehren dadurch, daß ihr es Asien näher bringt?

Einen eigenen griechischen oder byzantinischen <bei Knesebeck fehlen die Worte: oder byzantinischen> Staat also gründen! Würde dies die Lage Europas bessern? Würde nicht bei der Schlaffheit, in die dies Volk" (die Griechen) "versunken ist, Europa im Gegenteil immer unter den Waffen sein müssen, <307> um es gegen die wiederkommenden Türken zu schützen? Würde Rußlands Einfluß auf diesen Staat durch Religion, Handelsverkehr und Interesse nicht immer Griechenland nur zu Rußlands Kolonie machen? Laßt die Türken also lieber, wo sie sind, und erweckt die unruhige Kraft nicht, wenn sie ruht.

Aber, ruft ein wohlmeinender Philanthrop, die Menschheit wird dort gemißhandelt! der schönste Teil der Erde, das alte Athen und Sparta, ist von Barbaren bewohnt!

Es ist wahr, mein Freund; die Menschheit wird jetzt oder wurde bis vor kurzem <Bei Knesebeck: jetzt dort gespießt> dort stranguliert; aber sie wird auch anderwärts noch gekantschut, geprügelt, gegeißelt und verkauft. Ehe du änderst, bedenke, ob du auch bessern würdest, ob Kantschu, Korporalstock und griechische Falschheit leichter in ihren Streichen sein werden als die seidene Schnur und ein Ferman von den Türken <Bei Knesebeck fehlen die Worte: von den Türken>? Schaffe mir also erst jene Dinge und den Sklavenhandel aus Europa und beruhige dich über die Rauheit des Türken, Seine Rauheit hat Kraft, sein Glaube gibt Mut, und wir brauchen Kraft und Mut, um ruhig den Moskowiter bis zur Warthe sich vorschieben zu sehen.

Die Türken also sollen erhalten werden, die Polen aber untergehen als Nation? Ja, nichts anders.

Was Kraft zu stehen hat, besteht, wo alles morsch ist, das vergeht. Und so ist es. Man frage sich nur, was würde bestehen, wenn die polnische Nation in ihrem natürlichen Charakter <bei Knesebeck: als polnisches Wesen> selbständig erhalten würde? Sauferei, Völlerei, Kriecherei, Verachtung alles Besseren und jedes anderen Volkes, hohnsprechender Dünkel aller Ordnung und Sitte, Verschwendung, Liederlichkeit, Verkäuflichkeit, Pfiffigkeit, Falschheit, wüstes Leben vom Palast bis zur Hütte - das ist das Element, darin der Pole besteht. Dafür singt er sein Lied, spielt Geige und Gitarre, küßt sein Mädchen und säuft aus ihrem Schuh, zieht seinen Säbel, streicht seinen Knebelhart, besteigt sein Roß, zieht in den Krieg mit Dumouriez und Bonaparte oder mit irgend jemand anderem auf Erden <bei Knesebeck: und allen Aventuriern der Erde>, übernimmt sich in Branntwein und Punsch, rauft sich mutig mit Freund und Feind, mißhandelt sein Weib und seinen Bauern, verkauft seine Güter, zieht ins Ausland, bringt die halbe Welt in Aufruhr und schwört bei Kosciouszko und Poniatowski: dies solle nicht untergehen, so wahr er ein Pole ist.

Hier habt ihr, was ihr erhalten wollt, wenn ihr davon sprecht: Polen muß wiederhergestellt werden.

Ist eine solche Nation <bei Knesebeck: ein solches Wesen> wert zu bestehen? Ist ein solches Volk reif zu einer Verfassung? Eine Verfassung setzt Ordnungssinn voraus, denn sie tut nichts als ordnen, als jedem Gliede der Gesellschaft seinen Platz anweisen, wohin es gehört. Darum bestimmt sie die Stände, aus denen der Staat bestehen soll, und jedes Standes Platz, Rang, Ordnung, Rechte und Pflichten, sowie den Gang der Staatsmaschine und die Hauptzüge seiner Verwaltung. Ordne nun einmal jemand an, wo niemand Ordnung will. Schon ein polnischer König (Stefan Báthory) rief aus: 'Polen! - nicht der Ordnung, <308> - ihr kennt keine; nicht der Regierung, - ihr ehret keine; einem bloßen Glücke habt ihr eure Erhaltung zu danken.'

Und so ist es noch. Unordnung, wüstes Leben, ist des Polen Element. Nein, laßt diese Menschen den Durchgang unter dem Kantschu machen, die Vorsehung will es so, und der Himmel weiß, was dem Menschen frommt!

Für jetzt also, kein Polen mehr!"

So sollen also die Ansichten des alten Marschalls Knesebeck durch den gegenwärtigen Krieg verwirklicht werden, durch einen Krieg, der für die Erweiterung und Konsolidierung des Wiener Vertrages von 1815 geführt wird. Während der ganzen Restaurationsperiode und der Julimonarchie in Frankreich war der Wahn verbreitet, Napoleonismus bedeute die Aufhebung des Wiener Vertrages, der Europa unter die offizielle Vormundschaft Rußlands und Frankreich unter die "surveillance publique" <"öffentliche Aufsicht"> Europas gestellt hatte. Jetzt beweist der gegenwärtige Imitator seines Onkels, verfolgt von der unerbittlichen Ironie seiner fatalen Lage, der Welt, daß Napoleonismus Krieg bedeutet, nicht um Frankreich von dem Wiener Vertrag zu befreien, sondern um auch die Türkei dem Vertrag zu unterwerfen. Krieg im Interesse des Wiener Vertrages und unter dem Vorwand, die Macht Rußlands in Schach zu halten!

Das ist die wahre "idée napoleonienne" in der Interpretation der Resurrektionisten in Paris. Da die Engländer stolze Alliierte des zweiten Napoleons sind, fühlen sie sich natürlich befugt, mit den Aussprüchen des alten Napoleon so umzugehen wie sein Neffe mit seinen Ideen. Wir sollten deshalb nicht erstaunt sein, bei einem neueren englischen Autor (Dunlop) zu lesen, Napoleon habe vorhergesagt, daß der nächste Kampf mit Rußland die große Frage mit einschließen würde, ob Europa "konstitutionell oder kosakisch" sein soll. Vor den Tagen des Lower Empire soll Napoleon gesagt haben: "republikanisch oder kosakisch". Die Welt jedoch lebt und lernt.

Und weil die "Tribune" die Glorie des Wiener Vertrages und des europäischen "Systems", das darauf fußt, zu würdigen weiß, wird sie der Untreue an der Sache des Menschenrechtes und der Freiheit bezichtigt!