Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 297-300
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Briefe von Napier -
Roebucks Komitee


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 277 vom 18. Juni 1855]

<297> London, 15. Juni. Sir Charles Napier eröffnet eine Reihe von Briefen über die Baltische Flotte mit folgender Nr. 1:

"Man fragt, warum unser Geschwader in der Ostsee das letzte Jahr nichts Nennenswertes tat, dieses Jahr wahrscheinlich wieder nichts tun wird? Die Frage ist leicht beantwortet, nämlich dahin, weil Sir James Graham sich nicht um die Pläne bekümmerte, die ich ihm vergangenen Juni einsandte, und von denen er nichts zu wissen vorgab; ferner, weil die Admiralität ihre Aufmerksamkeit den Plänen versagte, die ich ihr letzten September einsandte. Wäre Admiral Dundas ausgerüstet worden mit den Vorrichtungen, auf die ich hinwies, so hätte Sweaborg jetzt schon bombardiert und wahrscheinlich zerstört sein können. Statt das zu tun, verschwendeten sie ungefähr eine Million in eisernen, fliegenden Batterien, die nur mühsam schwimmen und, wenn in die Ostsee geschickt, wahrscheinlich nie zurückkehren werden; und dies, nachdem zu Portsmouth der Beweis geliefert war, daß 68pfünder sie auf die Entfernung von 400 Yards zerstören würden, während jeder weiß, daß sie auf 800 Yards Entfernung Granitwälle nicht beschädigen können. Wäre dasselbe Geld in Mörserschiffen ausgelegt worden, so stände etwas zu erwarten; oder wäre nur die Hälfte des Geldes verbraucht worden zur Ausführung der Pläne Lord Dundonalds, die er mir mitgeteilt hat, so zweifle ich nicht, sie würden zum Erfolge geführt haben im Baltischen wie im Schwarzen Meer. Meine Zeit wird kommen, und bald, wo ich imstande sein werde, das ganze Betragen des Sir James Graham gegen mich bloßzulegen. Er ist überführt worden durch Herrn Duncombe" (in der Bandiera~Angelegenheit), "Privatbriefe geöffnet zu haben. Er versuchte den Makel für den Tod des armen Kapitäns Christie auf Herrn Layard zu werfen, und ich habe ihn angeklagt, meine Briefe verdreht zu haben. Den Beweis zu führen, hindert man mich unter dem Vorwand, daß die Veröffentlichung dem Feinde Information verschaffen würde. Dieser Vorwand wird bald verschwinden, und das Land soll erfahren, welche Mittel der ehrenwerte Baronet gebrauchte, um Admiral Berkeley und Admiral Richards zu verleiten, Instruktionen zu unterzeichnen, <298> die, wenn ausgeführt, den Verlust der königlichen Flotte verursacht haben würden. Das Land soll kennenlernen, ob der Erste Lord der Admiralität die Macht hat, Privatbriefe eines Offiziers in öffentliche zu verdrehen, und ihn dann zu verhindern, dasselbe mit den Briefen des Ersten Lords zu tun. Sir Ch. Napier."

Roebucks Komitee versammelte sich gestern wieder, zum 49. Male, um zu einem Beschluß über den dem Unterhause abzustattenden Bericht zu kommen. Nach vierstündiger Debatte vermochten seine Mitglieder ebensowenig ihre Ansichten auszugleichen wie in den früheren Sitzungen. Sie vertagten sich wieder bis Montag, in der "Hoffnung", endlich den Schluß ihrer Prozedur anzeigen zu können.

Die "Administrativreform-Assoziation" hielt gestern ein großes Meeting im Drury-Lane-Theater; aber, wohlgemerkt, kein öffentliches, sondern ein Ticketmeeting, ein Meeting, wozu nur die mit Einlaßkarten Begnadeten Zutritt hatten. Die Herren waren also vollständig ungeniert, "au sein de leur famille" <"im Schoße ihrer Familie">. Sie waren eingestandenermaßen versammelt, um der "öffentlichen Meinung" Luft zu machen. Um aber die öffentliche Meinung vor Luftzug von außen zu schützen, war eine halbe Kompanie Konstabler aufgestellt an den Toren des Drury-Lane. Welche delikat organisierte öffentliche Meinung, die nur unter dem Schutze von Konstablern und Einlaßkarten öffentlich zu sein wagt! Das Meeting, vor allen anderen, war eine Demonstration für Layard, der heute abend endlich seinen Reformantrag ins Haus bringt.

In einem vorgestern abgehaltenen öffentlichen Meeting zu Newcastle-upon-Tyne denunzierte David Urquhart "das verräterische Ministerium und das schwachsinnige Parlament".

Über die von den Chartisten nun in den Provinzen vorbereiteten Meetings ein andermal.

Während so von verschiedenen Seiten und verschiedenen Standpunkten die Kritik des Bestehenden ausgeübt wird, hat Prinz Albert die Gelegenheit eines Essens im Trinity-House an den Haaren ergriffen, um die Stellung des Hofes der allgemeinen Fermentation gegenüber auszusprechen. Auch er hat eine Panazee für die Krisis. Sie heißt: "patriotisches, selbstverleugnendes Vertrauen in das Kabinett!" Der Despotismus des Kabinetts könne, meint Prinz Albert, das konstitutionelle England allein befähigen, Rußland ein Paroli zu bieten und mit dem nordischen Despotismus Krieg zu führen. Die Kontraste, die er zwischen England und Rußland zog, waren weder schlagend noch glücklich. Zum Beispiel: Die Königin habe nicht die Macht, Truppen auszuheben, noch habe sie irgendwelche Truppen zur Verfügung, <299> außer denen, die ihren freiwilligen Dienst anböten! Prinz Albert vergißt, daß die Königin ungefähr 30 Millionen Pfd.St. zur Verfügung hat, um Truppen zu kaufen. Seit wann ist die Zwangsarbeit produktiver als die Lohnarbeit? Was würde man von einem Manchester Fabrikanten sagen, der sich über die Konkurrenz der Moskowiter Fabrikanten beklagte, weil er selbst nur Arbeiter zur Verfügung habe, die ihren Dienst freiwillig anböten! Statt hervorzuheben, daß der Kaiser von Rußland klar und bestimmt den Zweck seines "heiligen" Kriegs seinem Volk von den Kanzeln verkünden läßt, während England seit zwei Jahren einen Krieg führt, von dem der Premierminister im Parlament gesteht, "niemand könne seinen Gegenstand angeben", klagt Prinz Albert, daß

"die Regierung der Königin keine Maßregel für die Fortsetzung des Krieges ergreifen könne, worüber sie sich nicht vorher im Parlament erklärt habe"!

Als wenn Roebucks Komitee nicht erst eingesetzt worden, nachdem zwei Dritteil der englischen Armee geopfert waren! Als wenn die Wiener Konferenzen nicht erst debattiert worden, nachdem sie geschlossen waren! Faktisch fand keine einzige Erklärung über keine einzige Kriegsmaßregel im Parlament statt, außer Russells polternder und unprovozierter Ankündigung der Sewastopolexpedition, die offenbar nur bezweckte, dem Petersburger Kabinett zeitgemäße Warnung zu geben! Und wenn die Blockade debattiert wurde, geschah es nicht, weil das Ministerium diese Maßregel ergriff, sondern weil es sie proklamierte, ohne sie zu ergreifen. Prinz Albert, statt zu klagen, daß die Krone durch parlamentarische Intrigen gezwungen worden, sich in einem Krieg gegen Rußland die Diktatur eines eingestandenermaßen russenfreundlicheh und notorisch friedlichen Kabinetts aufbürden zu lassen, klagte umgekehrt, daß eine ungünstige Abstimmung im Parlament die Königin "zwinge, ihre konfidentiellen Diener zu entlassen". Statt mit Recht zu klagen, daß Fehler, Schwächen, Niederträchtigkeiten, die in Rußland Generale, Minister und Diplomaten für Sibirien reif machen würden, in England höchstens einiges gleichgültiges Geschwätz in der Presse und im Parlament nach sich ziehen, klagt Prinz Albert umgekehrt, daß

"kein Mißgriff, wie unbedeutend auch immer, stattfinden, kein Mangel, keine Schwäche existieren kann, die nicht sofort denunziert, manchmal selbst übertrieben würde, mit einer Art von krankhafter Genugtuung".

Diese krankhaft gereizten Expektorationen placierte Prinz Albert in einem Toast auf seinen langjährigen Feind, Lord Palmerston. Aber Palmerston versteht sich nicht auf Großmut. Er benutzte sofort die falsche <300> Stellung, die der Prinz eingenommen, um sich ihm gegenüber auf die Brust zu schlagen und laut zu beteuern: "Ich bin gezwungen, zu erklären, daß das englische Volk uns die großmütigste Unterstützung hat angedeihen lassen." Er ging weiter. Er erklärte geradezu, er besitze "das Vertrauen" des englischen Volkes. Er wies die zudringlichen Ermahnungen des Prinzen an das Volk ab. Er machte dem Volk den Hof, nachdem der Prinz ihm den Hof gemacht hatte. Er hielt es nicht einmal der Mühe wert, mit einem Kompliment an die Krone zu antworten. Prinz Albert hatte sich zum Protektor des Ministeriums aufwerfen wollen und darum die "Unabhängigkeit" des Kabinetts vom Parlament und Volk proklamiert; Palmerston antwortet, indem er die "Abhängigkeit" der Krone vom Kabinett konstatiert.