Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 278-281
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961
["Neue Oder-Zeitung" Nr. 265 vom 11. Juni 1855]
<278> London, 8. Juni. Die Ankunft von drei französischen Reservedivisionen zu den zwei sardinischen Divisionen machte es den Alliierten unmöglich, sich länger in die engen Grenzen des Herakleatischen Chersones festzubannen. Am 25. Mai, kurz nach Übernahme des Kommandos durch General Pélissier, sandten sie daher 20.000-25.000 Mann nach der Tschornaja, besetzten die Linie dieses Flusses und verjagten die russischen Vorposten von ihren Positionen auf den Höhen, die das rechte Ufer des Flusses überhangen. Man wird sich erinnern, daß wir vor länger als einem Monat darauf hinwiesen <Siehe vorl. Band S. 215/216>, daß diese vorgeschobenste Verteidigungslinie der Russen nicht ihr wahres Schlachtfeld sei und daß sie daher, statt diesen Grund zu behaupten und eine Schlacht auf dieser Linie anzunehmen, ihn wahrscheinlich beim ersten ernsthaften Angriff aufgeben würden, um alle ihre Kräfte zu konzentrieren auf der starken Linie zwischen Inkerman und der Hügelreihe im Osten dieses Platzes. Dies ist nun geschehen. Durch dies Vorrücken haben die Alliierten die Ausdehnung des von ihnen besetzten Areals beinahe verdoppelt und sich ein Tor zum reichen Tal von Baidar eröffnet, was sehr nützlich für die Folge werden kann. Indes ist bisher der erlangte Vorteil nicht rasch und tätig verfolgt worden. Nach der ersten Bewegung trat sofort wieder Stockung ein. Mangel an Transportmitteln mag hierzu gezwungen haben. Uneinigkeit zwischen alliierten Heerführern wird als eine Ursache angeführt. Das am 6. Juni wieder eröffnete Bombardement von Sewastopol, das Bombardement Nr. 3, erregt den Verdacht, als sei bezweckt, nach einer <279> Episode wieder zum alten Schlendrian zurückzukehren. Doch mag das Bombardement mit Feldoperationen kombiniert sein. Eine notwendige Maßregel (vgl. Nr. 241 der N.O-Z. <Siehe vorl. Band, S. 242>) ist jedenfalls endlich ergriffen worden - der Transport einiger 20.000 Türken unter Omer Paschas persönlichem Kommando von Eupatoria nach dem Chersones. Die alliierte Armee ist so zu vollen 200.000 Mann angeschwellt. Mit solcher Streitkraft können die aktiven Operationen sicher begonnen werden, sobald die Organisation der Zufuhren und Transportmittel das Feld zu ergreifen erlaubt. Hier aber scheinen große Schwierigkeiten zu überwinden.
Die zweite Affäre, die in der Geschichte der Hauptarmee zu erwähnen, ist der Kampf zwischen der Quarantäne-Bai und der Zentralbastion (Nr. 5 der Russen). Er war hartnäckig und blutig. Die Russen, wie wir jetzt aus General Pélissiers Bericht sehen, hielten allen Grund und Boden von dem Kopfe der Quarantäne-Bai bis zum Kirchhof und von da bis zur Zentralbastion vermittelst detachierter Werke und Schützengruben, obgleich selbst der offizielle britische Admiralitätsplan der Belagerungswerke über diesen ganzen wichtigen Raum hin französische Befestigungswerke hinphantasiert. Sobald die Flagstaff- und Zentralbastionen ernsthaft bedroht und die sie beschützenden Außenwerke von den Franzosen genommen waren, verwandelten die Russen diese weitläufige Strecke in ein einziges großes Werk. In einigen Nächten wurden lange Linien miteinander verbunden, Brustwerke aufgeworfen, die den ganzen Grund einschlossen und so einen geräumigen place d'armes bilden sollten, d.h. einen beschützten Platz, wo die Truppen in Sicherheit konzentriert werden konnten, um auf den Flügeln irgendeiner französischen Attacke zu agieren oder auch starke Ausfälle auf die Flanken der vorgeschobenen französischen Werke zu unternehmen. Pélissier, um den Russen nicht Zeit zu lassen, ihren Plan auszuführen, beschloß, sofort über sie herzufallen, während ihre Erdarbeiten noch nicht vollendet. Am Abend des 22. Mai wurde ein Angriff in zwei Kolonnen gemacht. Die linke Kolonne etablierte sich in den russischen Laufgräben am Kopfe der Quarantäne-Bai und bewirkte hier eine Logierung, die rechte Kolonne bemächtigte sich auch der vorgeschobenen Laufgräben, mußte aber vor dem heftigen Feuer des Feindes sich bei Tagesanbruch wieder zurückziehen. Am folgenden Abend wurde der Versuch erneut mit stärkeren Kolonnen und vollständigem Erfolg. Das ganze Werk wurde weggenommen und gegen die Russen gekehrt durch Übersiedelung der Schanzkörbe von der einen Seite des Laufgrabens nach der entgegengesetzten. In dieser Aktion scheinen die Franzosen wieder mit der <280> bekannten furia francese <kriegerischen Ungestüm der Franzosen> gefochten zu haben, obgleich zu gestehen, daß die Art, wie Pélissier die zu überwindenden Schwierigkeiten schildert, nicht ohne Anflug von Marktschreierei ist.
Die Expedition nach dem Asowschen Meere ist bekanntlich mit dem vollständigsten Erfolg gekrönt worden. Eine Flottille, zumeist bestehend aus den leichten Kriegsdampfschiffen beider Flotten, bemannt mit 15.000 britischen, französischen und türkischen Soldaten, ergriff, ohne Widerstand zu finden, Besitz von Kertsch, Jenikale und der Seestraße, die in das Asowsche Meer führt. In diesen Binnensee vordringend, erschienen die Dampfschiffe vor Berdjansk, Genitschesk und Arabat und zerstörten oder zwangen die Russen zu zerstören große Vorräte von Getreide und Munition, eine Anzahl von Dampfschiffen und nahe an 200 Transportschiffe. Es glückte ihnen, bei Kertsch Gortschakows Briefe an den Kommandeur dieses Platzes aufzufangen. Der russische Oberfeldherr klagt über Mangel an Provisionen in Sewastopol und dringt auf rasche Sendung frischer Zuführen. Es zeigt sich nun, daß der Asowsche See während dieses ganzen Feldzuges der Hauptkanal war, auf welchem die Russen in der Krim ihre Vorräte erhielten, und daß 500 Segelschiffe zu ihrem Transport verwandt wurden. Da die Alliierten bisher nur 200 Segelschiffe gefunden und zerstört haben, müssen die 300 übrigen sich höher oben bei Taganrog oder Asow befinden. Eine Schwadron von Dampfern ist daher nach ihnen ausgeschickt worden. Der Erfolg der Alliierten ist um so wichtiger, als er die Russen zwingt, alle Vorräte auf langsamer und unsicherer Landfuhre über Perekop zu schicken oder über das Innere des Faulen Sees, und ihre Hauptniederlagen bei Cherson oder Berislaw am Dnepr zu bilden, in Positionen, bei weitem ausgesetzter als die am Kopfe des Asowschen Meeres. Der beinahe widerstandslose Erfolg dieser Expedition ist der größte Vorwurf für die Kriegführung der Alliierten. Wenn solche Resultate jetzt zu erreichen in 4 Tagen, warum wurde die Expedition nicht im September oder Oktober des vergangenen Jahres entsendet, zu einer Zeit, wo ähnliche Unterbrechungen der russischen Verbindungslinie den Rückzug ihrer Armee von der Krim und die Übergabe Sewastopols herbeiführen konnten?
Die Landtruppen, die diese Expedition begleiten, sind bestimmt, die Dampfer im Notfalle zu beschützen, die weggenommenen Plätze mit Garnisonen zu versehen und gegen die russischen Kommunikationen zu agieren. Ihr Hauptkorps scheint bestimmt, im Feld zu handeln als bloßes fliegendes Korps, ausfallend, wenn immer Gelegenheit ist, einen raschen Schlag zu <281> führen, in seine Verschanzungen retirierend, unter den Schutz der Schiffskanonen, und selbst sich wieder einschiffend im schlimmsten Fall, wenn von einer weit überlegenen feindlichen Streitkraft bedroht. Wenn dies sein Zweck, so kann es wichtige Dienste leisten, und 15.000 Mann sind nicht zu viel für solchen Dienst. Ist es dagegen bestimmt, als selbständiges Korps mit eigner Operationsbasis zu handeln, eine ernsthafte Flankenbewegung gegen die Russen zu unternehmen und zu versuchen, ernsthaft das Innere der Krim zu bedrohen, so sind 15.000 Mann, geschwächt durch Detachements, für solche Operation viel zu wenig und laufen große Gefahr abgeschnitten, von überlegenen Streitkräften umringt und vernichtet zu werden. Gegenwärtig wissen wir nur, daß sie bei Kertsch gelandet und damit beschäftigt, es nach der Landseite hin in Verteidigungszustand zu setzen. Nachdem die Russen Sudschuk Kale freiwillig geräumt, bleibt Anapa die einzige Festung in ihren Händen an der zirkassischen Küste. Es ist von Natur ein sehr starker Platz und jetzt außerdem gut befestigt. Wir zweifeln, daß die Alliierten für diesen Augenblick einen Angriff darauf unternehmen. Sollten sie es tun, so begehen sie einen großen Fehler, wenn nicht schleunigen Erfolgs gewiß. Sie würden Truppen zerstreuen, die der größten Konzentration bedürfen, und Kräfte an neuen Angriffsgegenständen verschwenden, bevor die alten gesichert.