Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 266-269
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961
["Neue Oder-Zeitung" Nr. 261 vom 8. Juni 1855]
<266> London, 5. Juni. Die Administrativreform-Assoziation hat einen Sieg in Bath davongetragen. Ihr Kandidat, Herr Tite, ist mit großer Majorität zum Parlamentsmitglied erwählt worden gegen den Tory-Kandidaten. Dieser Sieg, auf dem Terrain des "legalen" Landes erfochten, wird heute von den liberalen Blättern als großes Ereignis gefeiert. Die Bulletins über den "Poll" <"Wahl"> werden mit nicht geringerer Ostentation veröffentlicht als die Bulletins über die unblutigen Erfolge im Asowschen Meer. Bath und Kertsch! ist die Tagesparole. Was die Presse verschweigt, Reformblätter wie Antireformblätter, Ministerielle und Opposition, Tories, Whigs und Radikale, sind die Niederlagen und Enttäuschungen, die die Administrativreform-Assoziation in den letzten Tagen erlebt, in London, in Birmingham und in Worcester. Allerdings ereignete sich der Kampf diesmal nicht auf dem abgemessenen Terrain einer privilegierten Wahlkörperschaft. Noch waren seine Resultate geeignet, Triumphruf auf Seite der Gegner der Cityreformer hervorzurufen.
Das erste wirklich öffentliche Meeting (d.h. Meeting ohne Einlaßkarten), das die Reform-Assoziation zu London abhielt, fand vergangnen Mittwoch in Marylebone statt. Gegen die Resolutionen der Cityreformer wurde von einem Chartisten das Amendement gestellt,
"daß die von den Citymen vertretene Geldaristokratie ebenso schlecht sei wie die Grundaristokratie; daß sie unter dem Vorwand von Reformen nur anstrebe, auf den Rücken des Volks in Downing Street zu klimmen, dort Ämter, Gehalte und Würden mit den Oligarchen zu teilen; daß die Charte mit ihren 5 Punkten das einzige Programm der Volksbewegung sei".
Der Vorsitzende des Meetings, einer von den City-Illuminaten, brachte eine Reihe von Bedenklichkeiten vor, erst, ob er überhaupt das Amendement <267> zur Abstimmung bringen, dann, ob er erst über die Resolution oder das Amendement stimmen lassen, schließlich wie er stimmen lassen solle. Das Auditorium, müde seiner Unschlüssigkeiten, taktischen Erwägungen und mißliebigen Manöver, erklärte ihn unfähig, weiter zu präsidieren, rief Ernest Jones statt seiner auf den Chair <Stuhl des Vorsitzenden>, und stimmte dann mit ungeheurer Majorität gegen die Resolution und für das Amendement. Zu Birmingham hatte die Cityassoziation ein öffentliches Meeting in der Stadthalle unter Vorsitz des Mayor veranstaltet. Gegen ihre Resolution wurde ein ähnliches Amendement gestellt wie in London. Der Mayor verweigerte indes definitiv, das Amendement zur Abstimmung zu bringen, falls nicht das Wort "Charte" durch ein minder anstößiges ersetzt werde. Oder er werde den Präsidentenstuhl verlassen. An die Stelle des Wortes "Charte" wurde daher substituiert: "Allgemeines Wahlrecht und Abstimmen durch Ballot". In dieser veränderten Fassung ging das Amendement durch mit einer Majorität von 10 Stimmen. Zu Worcester, wo die Cityreformers ein öffentliches Meeting veranstaltet, war der Sieg der Chartisten und die Niederlage der Administrativen noch vollständiger. Die "Charte" wurde hier ohne weiteres proklamiert.
Der höchst mißliche Erfolg dieser großen Meetings zu London, Birmingham und Worcester hat die Administrativen bestimmt, in allen größeren und volksreicheren Städten Petitionen zur Unterschrift bei Gesinnungsverwandten zirkulieren zu lassen, statt der öffentlichen Appelle an die vox populi. Die vielseitige Verbindung der Citynotabilitäten mit den Handelsherren im Vereinigten Königreich und der Einfluß dieser Herren über ihre Kommis, Warehousemen <Magazinverwalter> und "kleineren" Handelsfreunde wird sie zweifelsohne befähigen, ganz im stillen hinter dem Rücken der Welt diese Petitionen mit Namen zu füllen und sie dann an das "ehrenwerte Haus" zu senden mit der Etikette: Stimme des Volkes von England. Ihr Irrtum besteht nur darin, wann sie die Regierung einzuschüchtern denken, mit so zusammengebettelten, zusammenintrigierten, zusammengeschlichenen Unterschriften. Die Regierung hat mit ironischer Selbstgenugtuung gesehen, wie die Administrativen vom theatrum mundi <Welttheater> weggepfiffen worden sind. Ihre Organe schweigen einstweilen, teils weil sie sonst die Erfolge des Chartismus registrieren müßten, teils weil die regierende Klasse sich bereits mit dem Gedanken trägt, an die Spitze der "Administrativen" zu treten, sollte die Volksbewegung zudringlich werden. Sie behalten sich ein "Mißverständnis" vor für den Augenblick solcher Gefahr: das Mißverständnis, die Administrativen künftig einmal als die Wortführer der Massen zu betrachten. Solche Mißverständnisse bilden <268> den Hauptwitz der "historischen" Entwickelung Englands, und niemand ist vertrauter mit ihrer Handhabung als die freisinnigen Whigs.
Die Charte ist ein sehr lakonisches Aktenstück und enthält außer der Forderung des allgemeinen Wahlrechts nur folgende 5 Punkte, ebensoviel Bedingungen seiner Ausübung: 1. Abstimmen durch Ballot (Kugelung); 2. keine Eigentumsqualifikation für Parlamentsmitglieder; 3. Zahlung der Parlamentsmitglieder; 4. jährliche Parlamente; 5. gleiche Wahlbezirke. Nach den Experimenten, die das allgemeine Wahlrecht 1848 in Frankreich untergraben, sind Kontinentale leicht geneigt, die Wichtigkeit und Bedeutung der englischen Charte zu unterschätzen. Sie übersehen, daß die Gesellschaft in Frankreich zu zwei Dritteln aus Bauern und über ein Drittel aus Städtern besteht, während in England mehr als zwei Drittel in den Städten und weniger als ein Drittel auf dem Lande haust. In England müssen die Resultate des allgemeinen Wahlrechts also in demselben umgekehrten Verhältnisse zu seinen Resultaten in Frankreich stehen wie Stadt und Land in den beiden Reichen. Hieraus ist erklärlich der diametral entgegengesetzte Charakter, den die Forderung des allgemeinen Wahlrechts in Frankreich und England angenommen hat. Dort war es die Forderung der politischen Ideologen, woran jeder "Gebildete" sich mehr oder minder, je nach seinen Überzeugungen, beteiligen konnte. Hier bildet es die breite Unterscheidungslinie zwischen Aristokratie und Bourgeoisie auf der einen und den Volksklassen auf der andern Seite. Dort gilt es als eine politische, hier gilt es als eine soziale Frage. In England hat die Agitation des allgemeinen Wahlrechts eine geschichtliche Entwickelung durchlaufen, bevor es zum Schibboleth der Masse wurde. In Frankreich wurde es erst eingeführt und begann dann seinen geschichtlichen Kursus. In Frankreich scheiterte die Praxis, in England die Ideologie des allgemeinen Wahlrechts. In den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, mit Sir Francis Burdett, mit Major Cartwright, mit Cobbett, hatte das allgemeine Wahlrecht noch ganz den unbestimmten idealistischen Charakter, der es zum frommen Wunsche aller Teile der Bevölkerung machte, die nicht direkt zu den regierenden Klassen gehörten. Für die Bourgeoisie war es in der Tat nur ein exzentrischer verallgemeinender Ausdruck für das, was sie in der Parlamentsreform von 1831 erlangt hat. Nach 1838 hatte die Forderung des allgemeinen Wahlrechts in England nicht ihren realen, spezifischen Charakter angenommen. Beweis: Hume und O'Connell waren Mitunterzeichner der Charte. 1842 verschwanden die letzten Illusionen. Lovett machte damals einen letzten, aber vergeblichen Versuch, das allgemeine Wahlrecht als gemeinsame Forderung der sogenannten Radikalen und der Volksmassen zu formulieren. Seit diesem Momente existiert kein Zweifel mehr über den <269> Sinn des allgemeinen Wahlrechts. Ebensowenig über seinen Namen. Es ist die Charte der Volksklassen und bedeutet Aneignung der politischen Macht als Mittel zur Verwirklichung ihrer sozialen Bedürfnisse. Das allgemeine Wahlrecht, in Frankreich 1848 als Losungswort allgemeiner Verbrüderung, ist in England daher als Kriegsparole verstanden. Dort war der nächste Inhalt der Revolution das allgemeine Wahlrecht; hier ist der nächste Inhalt des allgemeinen Wahlrechts die Revolution. Wenn man die Geschichte des allgemeinen Wahlrechts in England durchläuft, wird man finden, daß es in demselben Maße seinen idealistischen Charakter abstreift, wie sich hier die moderne Gesellschaft mit ihren unendlichen Gegensätzen entwickelt, Gegensätze, wie sie der Fortschritt der Industrie erzeugt.
Neben den ganz- und halboffiziellen Parteien, wie neben den Chartisten, macht sich in England noch eine Clique von "Weisen" bemerkbar, ebenso unzufrieden mit der Regierung und den herrschenden Klassen wie mit den Chartisten. Was wollen die Chartisten? rufen sie aus. Die parlamentarische Allmacht erhöhen und erweitern, indem sie sie zur Volksmacht erheben. Sie brechen nicht den Parlamentarismus, sie erheben ihn zu einer höhern Potenz. Das Wahre ist, das Repräsentativwesen zu brechen! Ein Weiser aus dem Morgenlande, David Urquhart, steht an der Spitze dieser Clique. David will zum Common Law (gemeinen Recht) von England zurückkehren. Er will das Statute Law (das geschriebene Gesetz) in seine Grenzen zurückweisen. Er will lokalisieren, statt zu zentralisieren. Er will "die alten echten Rechtsquellen angelsächsischer Zeit" aus dem Schutt wieder hervorgraben. Dann werden sie von selbst springen und das umliegende Land bewässern und befruchten. Aber David ist wenigstens konsequent. David will auch die moderne Teilung der Arbeit und die Konzentration des Kapitals auf den alten angelsächsischen oder noch lieber orientalischen Stand zurückführen. Geborner Hochschotte, adoptierter Tscherkesse und Türke aus freier Wahl, ist er fähig, die Zivilisation mit allen ihren Geschwüren zu verurteilen und von Zeit zu Zeit selbst zu beurteilen. Aber er ist nicht fade wie die Sublimen, die die modernen Staatsformen von der modernen Gesellschaft trennen, die von lokaler Selbständigkeit fabeln, zusammen mit Konzentration der Kapitalien, von individueller Einzigkeit zusammen mit anti-individualisierender Teilung der Arbeit. David ist ein rückwärts gewandter Prophet, antiquarisch verzückt im Hinblick von Alt-England. Er muß es daher in der Ordnung finden, daß Neu-England vorübergeht und ihn stehenläßt, wie dringend überzeugt er auch rufen mag: "David Urquhart ist der einzige Mann, der euch retten kann!" So noch vor einigen Tagen auf einem Meeting in Stafford.