Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 245-248
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx/Friedrich Engels

Das Vorspiel bei Lord Palmerston -
Verlauf der letzten Ereignisse in der Krim


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 243 vom 29. Mai 1855]

<245> London, 24. Mai. Sobald Disraelis Motion eine regelmäßige Schlacht zwischen den Ins und Outs <Regierung und Opposition> des Unterhauses in Aussicht gestellt hatte, ließ Palmerston den Alarmruf erschallen und beschied, einige Stunden vor Eröffnung der Sitzung, das ministerielle Gefolge nebst Peeliten, Manchesterschule und sog. "Independenten" in seine Amtswohnung nach Downing Street. 202 Parlamentler erschienen, mit Einschluß des Herrn Layard, der sich unfähig fühlte, dem ministeriellen Sirenenruf zu widerstehen. Palmerston diplomatisierte, beichtete, bereute, beschwichtigte, beschwatzte. Er nahm lächelnd die schulmeisterlichen Zurechtweisungen der Herren Bright, Lowe und Layard hin. Er überließ Lord Robert Grosvenor und Sir James Graham zu vermitteln mit den "Aufgeregten". Von dem Augenblicke, wo er die Malkontenten um sich geschart sah in seiner Amtswohnung, gemischt mit seinen Getreuen, war er ihrer sicher. Sie waren verstimmt, aber aussöhnungsbedürftig. Das Resultat der Unterhaussitzung war somit antizipiert; es blieb nichts mehr übrig als die parlamentarische Aufführung der Komödie vor dem Publikum. Die Pointe war abgebrochen. Eine kurze Skizze dieser Komödie werden wir geben, sobald ihr Schlußakt gespielt hat.

Die Rückkehr des warmen und feuchten Wetters hat die Krankheitsformen, die der Frühlings und Sommerjahreszeit in der Krim eigen, neubelebt. Cholera und kaltes Fieber sind im alliierten Feldlager wieder erschienen, bisher noch nicht mit großer Gewaltsamkeit, aber hinreichend, eine Warnung zu geben für die Zukunft. Das Miasma, das von der Masse verwesender animalischer Materie ausströmt, die über der ganzen Oberfläche des Chersones nur ein paar Zoll unter der Erddecke begraben liegt, hat sich <246> bemerkbar gemacht. Gleichzeitig ist der moralische Zustand der Belagerungsarmee nichts weniger als befriedigend.<1> Nachdem sie die Härten und Gefahren eines beispiellosen Winterfeldzugs überdauert, wurden die Soldaten einigermaßen in Ordnung und bei gutem Mut erhalten durch die Rückkehr des Frühlings und die stets wiederholten Versprechen einer schleunigen und glorreichen Beendigung der Belagerung; aber Tag auf Tag ging vorüber, ohne daß sie einen Fortschritt machten, während die Russen über ihre Linien hinausavancierten und Redouten auf dem zwischen beiden Parteien bestrittenen Boden aufführten. Die Zuaven wurden undisziplinierbar und wurden infolgedessen zur Schlachterei auf den Berg Sapun, am 23. Februar, geleitet.<2> Etwas mehr Beweglichkeit - man kann es nicht Tätigkeit nennen - zeigte sich dann auf Seite der alliierten Generale; aber kein sichres Ziel, kein bestimmter Plan wurde konsequent befolgt. Der Geist der Meuterei unter den Franzosen wurde wieder niedergehalten durch die beständigen Ausfälle der Russen, die ihnen etwas zu tun gaben, und durch die Eröffnung des zweiten Bombardements, das diesmal aber sicher mit dem Spektakelstück des großen Sturms enden sollte. Ein klägliches Fiasko folgte.<3> Dann kommen Ingenieuroperationen, träge, schwierig, unfruchtbar an Erfolgen, wie sie den Geist von Soldaten aufrechterhalten. Sie wurden bald satt dieser nächtlichen Kampfe in den Laufgräben, wo Hunderte fielen, ohne daß ein Fortschritt sichtbar. Wieder wurde der Sturm verlangt und wieder Canrobert zu Verheißungen getrieben, deren Erfüllung er unmöglich wußte. Pelissier rettete ihn vor einer Erneuerung meuterischer Szenen durch die Nachtattacke vom 1. Mai. Es heißt, daß er sie trotz eines Gegenbefehls von Canrobert ausführte, der im Augenblick eintraf, wo die Truppen vorwärts lanciert waren. Diese erfolgreiche Affäre soll den Mut der Truppen wiederbelebt haben. In der Zwischenzeit langte die piemontesische Reserve an, der Chersones füllte sich. Die Truppen glaubten sich durch diese Verstärkungen zu unmittelbarer Aktion befähigt. Es mußte etwas geschehen. Die Expedition nach Kertsch wurde beschlossen und segelte ab. Aber bevor sie die Reede jener Stadt erreicht, veranlaßt eine Depesche von <247> Paris den Canrobert, sie zurückzurufen. Raglan willigte natürlich ein. Brown und Lyons, die Kommandanten der britischen Land- und Seekräfte auf dieser Expedition, flehten ihre französischen Kollegen an, den Platz trotz der Kontreordre anzugreifen. Vergeblich. Die Expedition mußte zurücksegeln <4>. Diesmal war die Entrüstung der Truppen nicht länger zu meistern. Selbst die Engländer sprachen eine Sprache, die keiner Mißdeutung fähig war; die Franzosen befanden sich in einem Zustande, der an Meuterei streifte. Es blieb also nichts übrig für Canrobert, als auf das Kommando einer Armee zu resignieren, über die er allen Einfluß und Kontrolle verloren hatte. Pélissier war der einzig mögliche Nachfolger, da die Soldaten, der im Treibhaus des Bonapartismus aufgeschossenen Generale lange müde, wiederholt einen Führer aus der alten afrikanischen Schule verlangt hatten.<5> Pélissier genießt das Vertrauen der Soldaten, aber er übernimmt den Oberbefehl unter schwierigen Umständen. Er muß handeln, und zwar rasch <6>. Da der Sturm unmöglich ist, bleibt nichts übrig, als ins Feld den Russen entgegenrücken, und zwar nicht auf dem früher von uns beschriebenen Wege, wo die ganze Armee auf einer einzigen, dazu noch stark von den Russen verschanzten Straße zu marschieren hätte, sondern durch Verteilung der Armee über die vielen kleinen Bergpfade und meist nur von Schafen und ihren Hirten betretenen Stege, die es möglich machen, die russische Position zu flankieren. Hier bietet sich eine Schwierigkeit.<7> Die Franzosen besitzen nicht mehr Transportmittel als für <248> ungefähr 30.000 Mann auf sehr kurze Entfernung von der Küste. Die Transportmittel der Engländer würden erschöpft sein, wenn sie eine einzige Division nicht weiter als bei Tschorgun an der Tschornaja placierten. Wie ins Feld rücken, die Nordseite im Falle des Erfolges einschließen, den Feind nach Bachtschissarai verfolgen und eine Verbindung mit Omer Pascha bewerkstelligen, ist bei diesem Mangel an Transportmitteln schwer zu erraten. Um so mehr, da die Russen ihrer Gewohnheit gemäß Sorge tragen werden, nichts als Ruinen hinter sich zu lassen, so daß eine Zufuhr von Karren, Pferden, Kamelen usw. nur zu erhalten, nachdem die Alliierten ihnen eine völlige Niederlage beigebracht. Wir werden sehen, wie Pélissier sich aus diesen Schwierigkeiten herauswindet.

Wir haben schon früher auf einige sonderbare, mit Pélissiers Ernennung zusammenhängende Umstände hingewiesen. <Siehe vorl. Band S. 242/243> Es ist hier indes noch ein Gesichtspunkt wahrzunehmen. Als der Krieg begann, wurde der Oberbefehl dem bonapartistischen General par excellence, S[ain]t-Arnaud, anvertraut. Er tat seinem Kaiser den Dienst, sofort zu sterben. Dann wurde keiner der Bonapartisten ersten Ranges ernannt, weder Magnan noch Castellane, noch Roguet, noch Baraguay d'Hilliers. Zu Canrobert wurde Zuflucht genommen, einem Manne von weniger tiefer und nicht so alter bonapartistischer Tinktur, aber von mehr afrikanischer Erfahrung. Jetzt, wo das Kommando wieder wechselt, werden die Bonapartisten du lendemain <von morgen> ebenso ausgeschlossen wie die de la veille <von gestern>, und der Posten wird einem simplen afrikanischen General übergeben, ohne irgend ausgeprägte politische Färbung, aber von langem Dienstalter und in der Armee bekannt. Muß diese absteigende Linie nicht notwendig zu Changarnier, Lamoricière oder Cavaignac führen, d.h. aus dem Bonapartismus heraus?

Untüchtigkeit für den Frieden wie für den Krieg, das ist unsere Situation! bemerkte vor einigen Tagen ein französischer Staatsmann, für den alles mit dem imperatorischen <In der "Neuen Oder-Zeitung": imperialistischen> Regime auf dem Spiel steht. Daß er recht hatte, beweist jeder Akt des restaurierten Kaisertums, bis auf die Ernennung von Pélissier.


Textvarianten

<1> In der "New-York Daily Tribune" Nr. 4414 vom 12. Juni 1855 beginnt der Artikel an Stelle des obenstehenden Textes mit den Worten: "Es ist sicher, daß die Resignierung des Generals Canrobert auf das Kommando der französischen Armee in der Krim keinen Augenblick zu früh erfolgte. Die Moral der Armee befand sich bereits in einem sehr unbefriedigenden und zweifelhaften Zustand." <=

<2> An Stelle dieses Satzes heißt es in der "New-York Daily Tribune": "Dies fachte den Geist der französischen Soldaten an, die Zuaven meuterten und wurden infolgedessen am 23. Februar zur Schlachterei auf den Berg Sapun geleitet." <=

<3> An Stelle dieses Satzes heißt es in der "New-York Daily Tribune": "Indessen wurde das Feuer fortgeführt, schwächer und immer schwächer werdend, und hörte endlich auf, ohne daß ein Versuch zu einem Sturm unternommen wurde." <=

<4> In der "New-York Daily Tribune" heißt es weiter: "und es ist sogar mitgeteilt worden, daß Canrobert in seiner Übereilung den Befehl, der nur bedingt war, falsch ausgelegt hat." <=

<5> Diese Stelle lautet in der "New-York Daily Tribune" folgendermaßen: "Pélissier war der einzig mögliche Nachfolger. Die Soldaten waren dieser jungen Generale müde, die in dem munteren Treibhaus des Bonapartismus zu den höchsten Ehrenstellen avancierten. Sie hatten wiederholt nach einem Führer geschrien, der lange in der alten afrikanischen Schule gestanden hat, nach einem Mann, der in den algerischen Kriegen ein verantwortliches Kommando innehatte und es mit Ehren innehatte. Pélissier war beinahe der einzige Mann dieser Art unter der Herrschaft des Kaisers, dieser hatte ihn mit der offenbaren Absicht dort hingesandt, um ihn früher oder später zum Nachfolger Canroberts zu machen. Welches auch immer seine Fähigkeiten sein mochten, er hatte das Vertrauen der Truppen, und das ist sehr viel." <=

<6> Dieser Satz wird in der "New-York Daily Tribune" wie folgt fortgesetzt: "bevor die Leute die Frische des Enthusiasmus verlieren, die die Gewißheit der unmittelbaren Aktion ihnen eingeflößt haben muß." <=

<7> Die beiden vorhergehenden Sätze lauten in der "New-York Daily Tribune" folgendermaßen: "Da der Sturm unmöglich ist, bleibt nichts übrig, als ins Feld den Russen entgegenrücken, und das kann nur geschehen, indem die russische Position in der Weise umgangen wird, wie wir es vorhergehend geschildert haben. Tatsächlich finden wir unsere Ansicht darüber von einem britischen Offizier bestätigt, der im Londoner 'Morning Herald' sagt, es sei die allgemeine Ansicht der kompetenten Leute, daß es keinen anderen Weg gäbe, den Kampf mit Erfolg aufzunehmen. Jedoch herrscht eine sehr ernste Schwierigkeit, diesen Plan auszuführen." <=